URI:
       # taz.de -- Streit um Kuratorin Istanbul-Biennale: Fragwürdige Ernennung
       
       > Die britische Kuratorin Iwona Blazwick soll 2024 die Kunstbiennale in
       > Istanbul leiten. Doch die Personalie und die Vergabekriterien erregen
       > Protest.
       
   IMG Bild: Iwona Blazwick
       
       „Wir freuen uns, dass Iwona Blazwick unserer Einladung gefolgt ist, die 18.
       Istanbul-Biennale zu kuratieren.“ Als die Istanbuler Stiftung für Kunst und
       Kultur (IKSV) in der vergangenen Woche diese Pressemitteilung verschickte,
       klang das nach den rituellen Formeln des Kunstbetriebs.
       
       Im gebührenden Abstand zur Kunstbiennale vom letzten September gab die
       private Stiftung, [1][die von der Industriellenfamilie Eczacıbaşı
       unterhalten wird] und die renommierte Schau veranstaltet, die Kuratorin für
       die nächste Ausgabe im September 2024 bekannt.
       
       Auf den ersten Blick klang das wie eine gute Nachricht. Die 1955 geborene
       britische Kunstkritikerin und Dozentin ist ein respektiertes Schwergewicht
       der internationalen Kunstszene. Sie forschte zu Henry Moore, war über 20
       Jahre lang Direktorin der Whitechapel Gallery in der britischen Hauptstadt.
       Blazwick gilt als Wegbereiterin der Young British Artists um Damien Hirst,
       sitzt in zahlreichen Beratungsgremien.
       
       Was ihre Berufung heikel macht, sind deren Hintergründe. Nach Informationen
       der taz setzte sich die Stiftung über das Votum einer von ihr selbst
       eingesetzten Jury hinweg. Die hatte nämlich die in Berlin lebende
       türkisch-deutsche Kuratorin Defne Ayas auserkoren.
       
       ## Über die Jury hinweg
       
       Auch Ayas ist im Betrieb keine Unbekannte. Die Kunsthistorikerin leitete
       sechs Jahre lang das damals „Witte de With“, heute „Melly“ genannte Zentrum
       für zeitgenössische Kunst in Rotterdam, kuratierte zahlreiche Biennalen vom
       Baltikum bis zum südkoreanischen Gwangju und kann ebenfalls auf eine
       stattliche Anzahl von „Advisory Panels“ verweisen.
       
       Eine Anfrage nach den Gründen für die Ablehnung Ayas’ und die Entscheidung
       für Blazwick ließ die Istanbuler Stiftung unbeantwortet. Insider vermuten,
       dass sie mit Ayas’ Rolle als Kuratorin des Türkischen Pavillons auf der
       Venedig-Biennale zu tun haben, den ebenfalls die IKSV verantwortet. 2015,
       hundert Jahre nach dem Völkermord an den Armeniern, [2][stellte Ayas in
       Venedig den türkisch-armenischen Künstler Sarkis vor]. Prompt gab es Ärger
       mit der türkischen Regierung, weil Rakel Dink, die Witwe des ermordeten
       armenischen Journalisten Hrant Dink, im Katalogessay das Wort „Genozid“
       verwendete.
       
       ## Mehrere Rücktritte
       
       Wollte die IKSV Ähnliches bei ihrer nächsten Biennale vermeiden?
       Mittlerweile ist Selen Ansen, Kuratorin des Istanbuler Arter-Kunstmuseums
       und Mitglied der Biennale-Jury, aus dieser zurückgetreten. Auch der
       spanische Kurator Agustín Pérez-Rubio gab gerade seinen Rücktritt aus der
       Jury bekannt. [3][Der Zwist schwappt in die türkische Kunstöffentlichkeit.]
       
       Künstler:innen wie Köken Ergun und [4][Banu Cennetoğlu] wundern sich in
       den sozialen Medien, dass die IKSV zum ersten Mal in ihrer Geschichte nicht
       die Namen der Jury veröffentlichte und dass Blazwick 2015, 2017, 2019 und
       2022 selbst Mitglied der Jury gewesen war. „Könnte es sein, dass sie sich
       selbst berufen hat? Ist das ein Muster?“ – so oder ähnlich lauten die
       Posts. In dem immer autoritäreren Kontext der Türkei verfehlt die IKSV mit
       ihrem Vorgehen nicht nur die Zeichen von Transparenz und Verantwortung,
       auch das politische Signal ist zwiespältig.
       
       Denn seit 2022 leitet Blazwick das Projekt „Arts AlUla“, eine gigantische,
       jährliche Open-Air-Skulpturenausstellung im saudischen al-'Ula. Das ist
       eine Oase nordwestlich von Medina mit prähistorischen Gesteinsformationen
       und Ruinen. Das Projekt gehört zur „Vision 2030“, [5][mit der Kronprinz
       Mohammed Bin Salman eine Modernisierung seines Landes einleiten will].
       Bildende Kunst spielt darin eine Schlüsselrolle.
       
       Folgt die IKSV damit dem Vorbild Recep Tayyip Erdoğans? Fünf Jahre nach dem
       von ihm heftig kritisierten Mord an dem Blogger Jamal Khashoggi, den Salman
       in Auftrag gegeben haben soll, hatte der türkische Staatspräsident im Juli
       mit einem Besuch in Dschidda die Beziehungen zu dem Königreich still
       normalisiert. Im Gegenzug für den Verkauf türkischer Kampfdrohnen hofft
       Erdoğan auf Finanzhilfen aus Riad, um seine heimischen Haushaltslöcher zu
       stopfen. Am lukrativen saudischen Kunst- und Investitionswunder wollen
       derzeit eben viele partizipieren.
       
       10 Aug 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Tuerkisches-Museum-fuer-moderne-Kunst/!5939943
   DIR [2] /Die-56-Kunstbiennale-von-Venedig/!5008390
   DIR [3] /Drei-Kunstmachende-ueber-Kultur-in-Tuerkei/!5930358
   DIR [4] /Documenta-14-eroeffnet-in-Kassel/!5416030
   DIR [5] /Wie-sich-Saudi-Arabien-veraendert/!5944095
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ingo Arend
       
       ## TAGS
       
   DIR Biennale
   DIR Istanbul
   DIR Streit
   DIR Jury
   DIR Ekrem İmamoğlu
   DIR Wahlen in der Türkei 2023
   DIR Wahlen in der Türkei 2023
   DIR Kunst
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Die Kulturpolitik von Ekrem İmamoğlu: Es boomt die Kunst am Bosporus
       
       Istanbuls kürzlich im Amt bestätigter Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu von
       der oppositionellen CHP tritt gegen eine Islamisierung an – mit Kultur.
       
   DIR Erdoğan und die säkulare Kultur: Gute Miene zum autoritären Spiel
       
       Recep Tayyip Erdoğan eröffnet den Neubau des Kunstmuseums Istanbul Modern.
       Kurz vor der Stichwahl ist der Noch-Präsident auf Stimmenfang.
       
   DIR Drei Kunstmachende über Kultur in Türkei: „Auf einem schmalen Grat“
       
       Wie frei ist die türkische Kunstszene noch nach zwanzig Jahren Erdoğan? Ein
       Gespräch mit Silvina Der Meguerditchian, Pinar Öğrenci und Viron Erol Vert.
       
   DIR Istanbul-Biennale: Repression und Selbstbehauptung
       
       Ist zeitgenössische Kunst in der Türkei noch oder wieder die Domäne der
       kritischen Intelligenz? Die Frage stellt sich derzeit in Istanbul mehrmals.