URI:
       # taz.de -- Rechte „Red Pill“-Cyberkultur: Codewort für Hass gegen Frauen
       
       > Im Internet verabreichen Männer anderen Männern symbolische Pillen, um
       > ihnen so einzutrichtern, sie würden von Frauen unterdrückt. Die Bewegung
       > wächst auch in Deutschland.
       
   IMG Bild: „Red Piller“ Andrew Tate, angeklagt u.a. wegen wegen Vergewaltigung im Juni in Bukarest
       
       Protagonist Neo wird in einer Schlüsselszene [1][des Science-Fiction-Films
       „Matrix“] vor die Wahl gestellt, eine blaue oder eine rote Pille zu
       schlucken. Wählt er die blaue Pille, lebt er weiter wie bisher, aber in
       Lüge. Wenn er sich für die rote Pille entscheidet, wird er aufwachen und
       die Wahrheit erkennen. Im Film entscheidet sich Neo für die rote Pille.
       
       Angelehnt an diese Szene hat sich eine Cyberkultur im Internet entwickelt,
       der mehrheitlich Männer angehören. Sie wollen anderen Männern symbolische
       Pillen verabreichen und ihnen auf diese Weise eintrichtern, sie würden von
       Frauen unterdrückt. In sozialen Medien, mit Memes und über Foren erreichen
       sie zum Teil Millionen. Männer [2][wie Andrew Tate] oder Karl Ess zählen zu
       den bekanntesten dieser global vernetzten Szene. Auch die Attentäter von
       Halle, Hanau, Buffalo und Oslo identifizierten sich mit der
       dahinterstehenden Ideologie. Sie erwähnten sie an zentralen Stellen in
       ihren Manifesten oder im Livestream, während sie töteten.
       
       Sexismus und männliche Herrschaft durchziehen nach wie vor Alltag, Politik
       und Beziehungen. [3][Jede dritte Frau in Deutschland] wird in ihrem Leben
       Opfer physischer oder sexualisierter Gewalt. [4][Vier von fünf
       Tatverdächtigen partnerschaftlicher Gewalt] sind Männer. Die Leipziger
       Autoritarismusstudie 2022 bescheinigt zudem einem Drittel der Männer ein
       geschlossen antifeministisches und sexistisches Weltbild – Tendenz
       steigend. Männer, die der Cyber-Pillenkultur angehören, ignorieren diese
       Realität.
       
       Brigitte Temel forscht am Wiener Institut für Konfliktforschung zu Incels
       und der sogenannten Mannosphäre. Incels sind unfreiwillig sexlose, zumeist
       frauenhassende Männer. Die Mannosphäre bezeichnet antifeministische
       Männerbünde im Netz. Die Wissenschaftlerin ist besorgt: „Die Räume der
       Mannosphäre sind nicht mehr abgetrennt.“ In sozialen Medien erreichen sie
       viele. So sickern auch ihre Ideen durch, sagt Temel. Die Politik müsse
       Antifeminismus ernster nehmen. Denn: „Diese Leute verschieben Debatten –
       spätestens, wenn sie bei Tiktok, Instagram oder Youtube geklickt werden.“
       
       Inzwischen bezeichnen sich nicht mehr nur wütende Antifeministen als
       „pilled“. Konservative bis stramm Rechte rechnen sich der „Red Pill“ zu, um
       sich als Gegensatz zum Mainstream zu inszenieren. Fox News bezeichnete etwa
       Kanye West als „red-pilled“. Auch Elon Musk twitterte: „Take the red pill.“
       Und der bekannte US-amerikanische Rechtsextremist David Duke bescheinigte
       Donald Trump, er verabreiche der Bevölkerung rote Pillen, als der damalige
       Präsidentschaftskandidat ein Foto von Hillary Clinton mit einem Davidstern
       postete und sie als korrupt verunglimpfte. Der Begriff hält für
       verschiedenste Verschwörungsideologien her, schafft Verbindungen zwischen
       ihnen. Auch manche Jugendliche nutzen den Begriff „pilled“ sein, wenn sie
       etwas begeistert.
       
       Die Cyberkultur hat sich mittlerweile über die rote und blaue Pille hinweg
       erweitert und auch den deutschsprachigen Raum längst erreicht.
       
       ## Die rote Pille
       
       Sogenannte Red-Piller wähnen sich in einem Kampf der Geschlechter. Sie
       glauben, der Feminismus dominiere die Gesellschaft und unterdrücke Männer.
       Aufgrund angeblich biologisch feststehender Geschlechterrollen seien Frauen
       darauf programmiert, auf dominante Muskelprotze zu stehen, die sie
       unterdrücken. Nur Männer mit hohem Status hätten angeblich Erfolg beim
       Dating. Diesen könnten sie etwa durch Aussehen, Karriere oder
       heteronormativen Sex erreichen. Mithilfe von Coachings, Flirttechniken und
       Selbstoptimierung versuchen die Red-Piller zum „Alpha-Mann“ oder auch
       „Chad“ aufzusteigen.
       
       „Die Red Pill bietet ein Erweckungserlebnis, das Gefühl, es verstanden zu
       haben“, sagt Temel. In den Echokammern der Szene gebe es kaum abweichende
       Meinungen. „Diese Männer verbringen ewig dort, ihre Ansichten verhärten
       sich.“ Dort grassiere auch Rassismus und Antisemitismus. Die Ideologie sei
       anschlussfähig an Rechtsextremismus.
       
       Vertreter der deutschen Szene tummeln sich, neben den eigenen Foren, heute
       vor allem auf Youtube, Instagram und Tiktok. Dort vermarkten sie sich als
       Männlichkeits-, Dating- oder Businesscoaches. Einem bekannten deutschen
       Red-Piller und Businesscoach, Karl Ess, folgen auf Instagram über 400.000
       Menschen. Das größte deutsche Forum der Pick-up-Szene mit Red-Pill-Inhalten
       zählt 180.000.
       
       ## Die blaue Pille
       
       Wer nichts von den Pills wissen will oder sich von ihnen und ihren
       Ideologien distanziert, wird von den Szenen häufig als „Blue Piller“ oder
       auch als „Normie“ beschimpft. „Blue Piller“ streben Gleichberechtigung an,
       hinterfragen Rollenbilder oder zeigen schlicht ein Mindestmaß an Respekt
       gegenüber Frauen. Die blaue Pille ist meist eine Fremdbezeichnung. „Das
       ganze Selbstbild der Szene basiert auf der Abgrenzung zur Blue Pill“, sagt
       Konfliktforscherin Temel.
       
       Für das Dasein als Blue-Piller haben die anderen Pills zwei Erklärungen:
       Entweder seien „Normies“ komplett vom Feminismus indoktriniert oder solche
       „Adonisse“, „Alphas“ oder „Giga-Chads“, also so gutaussehend, dass ihnen im
       Leben alles zufliege.
       
       ## Die lila Pille
       
       Die lila Pille liegt zwischen Blau und Rot. „Purple Pill“-Anhänger
       postulieren, einen unideologischen Diskurs zu pflegen, der offen Argumente
       prüfe. Brigitte Temel weist auf die Unterschiedlichkeit innerhalb der
       Purple-Pill-Kultur hin. Teilweise verstünden sich ihre Mitglieder gar als
       links oder feministisch, andere wiederum als antifeministisch. Es sei
       unklar, ob die Purple Pill dazu beitrage, biologistische Rollenbilder –
       also vermeintlich durch Biologie festgeschriebene Geschlechterrollen – zu
       verfestigen oder doch helfe, radikalere Positionen aufzuweichen.
       
       Der lila Pille lässt sich ein deutschsprachiges Forum mit annähernd 1.000
       Mitgliedern zuordnen. Es enthält auch White- und Pink-Pill-Inhalte, auf die
       im weiteren Text eingegangen wird.
       
       ## Die schwarze Pille
       
       Wer black-pilled ist, ist meist Incel – involuntarily celibate –
       unfreiwillig enthaltsam. Diese Männer hatten noch nie Sex und sind deswegen
       frustriert und wütend. Zwar gibt es auch unter den anderen Pills Incels.
       Die sind aber zumindest „optimistisch“, dass Männer sich trotz ihrer
       angeblichen Benachteiligung durchsetzen können. Black-Piller glauben jedoch
       – wenn überhaupt – nur noch an Schönheits-OPs.
       
       Wer der schwarzen Pille angehört, sieht sich als „Beta-Mann“. Das ist das
       Gegenteil der dominanten „Alphas“ oder „Chads“. Sie halten sich für
       bemitleidenswert und sehen keinen Ausweg aus ihrer Lage. In Foren
       fantasieren sie von Gewalt. Manche realisieren sie dann auch, so etwa in
       den USA. 2014 tötete ein Mann beim ersten bekannten Incel-Amoklauf in Isla
       Vista, Kalifornien, sechs Menschen und verletzte vierzehn weitere. Einen
       weiteren Täter verurteilte ein Gericht für zehn Morde und sechzehn
       versuchte Morde; er war 2018 in Toronto mit einem Auto in eine
       Menschenmenge gefahren. Die Täter werden in den Foren für ihre „Incel
       Rebellion“ gefeiert, mit der sie „Chads“, „Normies“ und vor allem Frauen
       unterwerfen wollen. Wer viele Menschen umbringt, wird zur Legende; wer
       wenige oder niemanden tötet, bleibt Versager.
       
       Der Großteil der Incels glorifiziert die Taten und ermutigt dazu, wird
       jedoch nicht selbst zum Terroristen. „Black-Piller zeichnen sich vor allem
       durch Hoffnungslosigkeit und Frauenhass aus“, sagt Brigitte Temel. Daraus
       resultiere Gewalt gegen sich selbst und andere. Sie seien stark
       indoktriniert und hätten ein gefestigt-negatives Selbstbild. Bekannte
       Phrasen in den Foren sind „lay down and rot“ – hinlegen und verrotten – und
       „cope or rope“, also „komm klar oder erhäng dich“. Teils ermutigen Incels
       sich untereinander zum Suizid.
       
       [5][In einer Umfrage im größten englischsprachigen Incel-Forum] gaben 43
       Prozent der Befragten an, in Europa zu leben. Eines der größten deutschen
       Foren für Incels und Rechtsextreme, auf dem auch das Video des Attentäters
       von Halle auftauchte, wurde laut der Datenanalyse-Plattform Semrush im Mai
       2023 3,1-Millionen-Mal geklickt. Es zählt annähernd 30 Millionen Beiträge.
       
       ## Die pinke Pille
       
       Die pinke Pille steht für die Femcels, weibliche Incels. Männliche Incels
       sprechen ihnen zumeist ihren Leidensdruck ab. Die Pink-Pill-Szene tritt
       kaum aggressiv auf. Suizid und psychische Krankheiten thematisieren sie
       aber ebenfalls. Femcels prangern dabei Schönheitsnormen oder
       Benachteiligung von Frauen an. Sie blicken kritisch auf den Frauenhass
       anderer Incels.
       
       Brigitte Temel kritisiert, dass die Aufmerksamkeit vor allem auf Red und
       Black Pill liege. „Dort brennt es zwar am meisten, da passieren die
       Anschläge“, sagt sie. Doch Frauen werde oft abgesprochen, gefährlich zu
       sein. Es sei nicht auszuschließen, dass auch hier Gewaltpotenzial liegt.
       Zudem müsse der Suizidgefahr begegnet werden. „Zur Gruppe der Femcels ist
       noch wenig bekannt, hier benötigt es mehr Forschung“, sagt Temel.
       
       ## Die weiße Pille
       
       Die „White Piller“ glauben mit Akzeptanz und Meditation ihr Leben
       verbessern zu können. Sie versuchen, sich abseits von Sex und Dating zu
       orientieren. Freundliche Optimisten unter den Incels sind sie deshalb aber
       nicht. Auch ihr Weltbild basiert auf Red- oder Black-Pill-Erzählungen, also
       der Lüge, dass eine frauendominierte Gesellschaft Männer unterdrücke. Nur
       glauben sie, mit der richtigen Einstellung diese erfundene „Unterdrückung“
       ändern zu können. Die Aggressivität der roten und der Nihilismus der
       schwarzen Pille ist oft nur einen Klick entfernt. Die White Pill sei eine
       Spielart der Black Pill, sagt auch Brigitte Temel. „Black-Piller verlieren
       sich in Hass, während White-Piller die Stoiker oder Buddhas mimen.“
       
       Größere deutschsprachige White-Pill-Foren oder -Kanäle, sind nicht bekannt.
       Ein englischsprachiger Youtuber mit White-Pill-Fokus zählt etwa 1.600
       Abonnent:innen.
       
       4 Jul 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Matrix-Resurrections-im-Kino/!5821065
   DIR [2] /Problematische-Aussagen-zu-Andrew-Tate/!5914065
   DIR [3] https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/frauen-vor-gewalt-schuetzen/haeusliche-gewalt/formen-der-gewalt-erkennen-80642
   DIR [4] https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/kurzmeldungen/DE/2022/11/lagebild-partnerschaftsgewalt.html
   DIR [5] https://unipub.uni-graz.at/obvugruniver/content/titleinfo/7814542/full.pdf
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Moritz Müllender
       
       ## TAGS
       
   DIR Antifeminismus
   DIR Alt-Right-Bewegung
   DIR Misogynie
   DIR GNS
   DIR Misogynie
   DIR TikTok
   DIR Incels
   DIR Schwerpunkt Rassismus
   DIR Schwerpunkt #metoo
   DIR Netzkultur
   DIR Schwerpunkt USA unter Donald Trump
   DIR Antifeminismus
   DIR Twitter / X
   DIR Interview
   DIR Alt-Right-Bewegung
   DIR Antifeminismus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Razzia bei Andrew Tate: Hausarrest statt hinterm Steuer
       
       Andrew und Tristan Tate wurden als frauenfeindliche Influencer bekannt. In
       ihrer Wahlheimat Rumänien gab es nun Razzien wegen diverser Straftaten.
       
   DIR „Hoss und Hopf“ auf Tiktok gesperrt: Zu viel rumgesponnen
       
       Fan-Kanäle des Podcasts wurden von Tiktok wegen Verschwörungserzählungen
       entfernt. Doch bei Spotify & Co steht er weiter zum Streaming bereit.
       
   DIR Incel-Urteil in Kanada: Frauenhass ist Terror
       
       Ein kanadisches Gericht stufte einen Mord, der von einem Incel begangen
       wurde, als Terrorismus ein. So wird die Ideologie hinter der Tat sichtbar.
       
   DIR Grundsatzurteil vom Bundesarbeitsgericht: Kündigung wegen Hetze im Chat
       
       Jobverlust bei Rassismus, Hass und Hetze: Das Bundesarbeitsgericht sieht
       bei Whatsapp-Gruppen keine besonders hohe Vertraulichkeit.
       
   DIR Klage gegen Spiegel zurückgezogen: Finn Canonica gibt auf
       
       Nach einem MeToo-Skandal um Finn Canonica beendet dieser seinen
       Rechtsstreit mit dem Spiegel. Er war früher Chef des Magazins des
       Tages-Anzeigers.
       
   DIR Moderator:innen über Reddit-Streik: „Man kann konstruktiv diskutieren“
       
       Reddit will an die Börse – gegen den Willen der Nutzer:innen. Zwei
       Content-Moderator:innen sprechen über Mods, Subs und digitalen Streik.
       
   DIR Experte zum Faschismus in den USA: „Bei Trumps Gewalt geht es um Lust“
       
       Was in den USA seit Trump passiert, sei klar faschistisch, meint Journalist
       Jeff Sharlet. Nicht nur Weiße fühlten sich davon angesprochen.
       
   DIR Frauenfeindlicher Influencer Andrew Tate: Der Boss im Frauenhass
       
       Ex-Kickboxer Andrew Tate profiliert sich mit Misogynie und spricht
       Millionen Männer an. Dass er vor Gericht steht, schadet seiner Popularität
       nicht.
       
   DIR Neue Musk-Entscheidung bei Twitter: Achtung, Limit!
       
       Seit Samstag können nicht mehr alle lesen, was auf Twitter so geschrieben
       wird. Besitzer Elon Musk liefert dafür eine simple Erklärung.
       
   DIR Psychologe über Männlichkeit: „Patriarchat frisch legitimiert“
       
       Statt progressiver Männlichkeit dominiert wieder Frauenhass. Wieso? Und was
       kann man dagegen tun? Männerforscher Markus Theunert im Gespräch.
       
   DIR Gewalt gegen Frauen und Queers: Tödlicher Hass
       
       Fast täglich werden Frauen, Queers und Transpersonen Ziel patriarchaler
       Gewalt. Verantwortlich dafür sind auch ihre ideologischen
       Wegbereiter:innen.
       
   DIR Antifeministische Online-Community: Todeszone Mann
       
       Der Attentäter von Toronto war offenbar Teil einer Bewegung von militanten
       Frauenhassern. Sie organisieren sich im Internet.