# taz.de -- Präsidentschaftswahl in Chile: Chile vor der Richtungswahl
> Der Rechtsextreme Kast zieht als Favorit in die Stichwahl gegen die linke
> Kandidatin Jara. Unterschiedlicher könnten ihre Wahlprogramme kaum sein.
IMG Bild: Hoffnungsträgerin mit wenig Chancen: Jeannette Jara beim Wahlkampf in Santiago
Auf der Plaza de Armas im Zentrum von Santiago de Chile begegnet man einem
Querschnitt der chilenischen Gesellschaft: Migranten verkaufen Süßigkeiten,
Sexarbeiterinnen bieten ihre Dienstleistungen an, Evangelikale singen
Lieder.
Diego Madrid isst hier einen Tag vor der Präsidentschaftswahl mit seinem
Freund ein Eis. Vor einem Jahr hat er sein Universitätsstudium in
Publizistik abgeschlossen. Seine Mutter hat ihn alleine großgezogen, sie
hat keinen Schulabschluss und arbeitet in einem Almacén, einem kleinen
Lebensmittelladen. Ihre Medikamente für Bluthochdruck und Diabetes erhält
sie dank des öffentlichen Gesundheitssystems.
Der 23-Jährige konnte nur wegen der Gebührenfreiheit für einkommensschwache
Haushalte studieren, die die Ex-Präsidentin Michelle Bachelet 2016 als
Antwort auf die Studierendenproteste eingeführt hatte. „Das
Regierungsprogramm von Jeannette ist stärker auf die Lebensrealität von
armen Menschen wie mir und meiner Familie ausgerichtet, deshalb will ich
für sie stimmen“, sagt er.
Am Sonntag wählen die Chilen*innen ihre neue Präsidentin oder ihren
neuen Präsidenten. [1][Jeannette Jara ist die Präsidentschaftskandidatin
der Mitte-Links-Koalition] Unidad por Chile, der ein breites
Parteienspektrum von der Kommunistischen Partei über die Frente Amplio bis
zu den Christdemokraten angehört.
## Regierungsprogramme stehen sich konträr gegenüber
Einer Umfrage von Activa Research Pulso Ciudadano vom 29. November zufolge
würde Jara in der Stichwahl 41 Prozent der Stimmen erhalten, während ihr
Herausforderer, der Rechtsextreme José Antonio Kast, auf 59 Prozent der
Stimmen kommen würde. [2][15 Prozent der Befragten gaben jedoch an, noch
unentschlossen zu sein.] Die Veröffentlichung von Umfragen zu Wahlabsichten
ist in Chile 15 Tage vor dem Wahltag verboten.
[3][Die Regierungsprogramme der beiden Kandidat*innen gehen in
entgegengesetzte Richtungen.] Jara ist Mitglied der Kommunistischen Partei,
sie will die staatlichen Sozialausgaben erhöhen, insbesondere in den
Bereichen Gesundheit, Bildung und Wohnen. Außerdem hat sie angekündigt, den
Mindestlohn zu erhöhen und die Rechte von Arbeitnehmer*innen zu
stärken.
José Antonio Kast ist Vorsitzender der Republikanischen Partei und
Bewunderer des Ex-Diktators Augusto Pinochet. Er tritt ohne eine Koalition
bei der Wahl an, wird aber von einem breiten rechten Spektrum unterstützt –
auch von den Parteien des rechten Zentrums, die sich einst vom
Pinochetismus abgrenzen wollten.
Kast will die öffentlichen Ausgaben kürzen, Umweltregulierungen und
Sozialhilfen abschaffen. Im Wahlkampf hat er sich auf die Bekämpfung der
Kriminalität konzentriert, die er mit der irregulären Migration verbindet.
## Stimmung gegen Migrant*innen
Er hat irregulär eingereiste Migrant*innen aufgefordert, das Land zu
verlassen und ihnen mit Abschiebung gedroht. Außerdem spricht er sich dafür
aus, sie von staatlichen Leistungen, beispielsweise im öffentlichen
Gesundheits- und Bildungssystem, auszuschließen. Kast macht die amtierende
Regierung des linken Präsidenten Gabriel Boric für alle Probleme im Land
verantwortlich.
Andrea Mena, die mit ihrer Mutter am Samstagnachmittag über die Plaza de
Armas spaziert, ist enttäuscht von der Regierung von Gabriel Boric. Sie hat
vor Kurzem ihre Arbeit verloren. Dass die Kandidatin Jeannette Jara als
Boric’s Arbeitsministerin die schrittweise Reduktion der Wochenarbeitszeit
auf 40 Stunden eingeführt hat, findet sie zwar prinzipiell gut. „Aber
deshalb haben viele Unternehmen die Angestellten entlassen“, vermutet sie.
Das Regierungsprogramm von Kast überzeugt sie zwar nicht, aber sie erhofft
sich durch ihn eine Veränderung. Besonders besorgt ist die 55-Jährige wegen
der Kriminalität in Santiago. Immer wieder beobachte sie Raubüberfälle und
Angriffe mit Schusswaffen. „Ich habe Angst auf der Straße“, sagt sie. Dass
Kast Pinochet gutheißt, gefällt ihr nicht. „Aber ich will ihm trotzdem eine
Chance geben.“
Im Kongress haben rechte Parteien in Zukunft die absolute Mehrheit. Falls
Kast die Stichwahl gewinnt, wird er Gesetze also ohne großen Widerstand
durchsetzen können. Der Publizist Diego Madrid macht sich Sorgen, dass
soziale Rechte abgebaut werden könnten und befürchtet mehr Gewalt gegen die
LGBTQI-Community. „Ich bin selbst homosexuell und wir erleben schon jetzt
viel Gewalt“, sagt er.
Kast, ein fundamentalistischer Christ, hat sich wiederholt ablehnend
gegenüber LGBTQI-Rechten geäußert. Er lehnt die gleichgeschlechtliche Ehe
ab und gehörte 2012 zu den Abgeordneten, die gegen das sogenannte Gesetz
Ley Zamudio stimmten, das die Diskriminierung aufgrund der sexuellen
Orientierung und Geschlechtsidentität verbietet. Madrid macht sich Sorgen,
dass Hass gegen Homosexuelle unter Kasts Präsidentschaft zunehmen wird.
14 Dec 2025
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## AUTOREN
DIR Sophia Boddenberg
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