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       # taz.de -- Aufarbeitung von NS-Geschichte: Die Sparkasse, der SA-Mann und die Synagoge
       
       > Am 9. November 1938 wurde im hessischen Alsfeld die Synagoge in Brand
       > gesteckt. Dann löschte die Feuerwehr – die Sparkasse wollte das
       > Grundstück.
       
   IMG Bild: Die Alsfelder Synagoge steht heute nicht mehr, die Aufnahme ist undatiert
       
       Die Enteignung und Verfolgung jüdischer Menschen im Nationalsozialismus
       geschah nicht im luftleeren Raum. Sie wurde aktiv begangen, von Menschen in
       deutschen Städten, Kommunen, Dörfern. Darüber zu sprechen, fällt bis heute
       oft schwer – gerade in kleinen Orten, wo jeder jeden kennt. Häufig hängt es
       an wenigen, das Schweigen zu durchbrechen. Dies ist eine Geschichte über
       historische Verantwortung und Aufarbeitung. Erzählt werden kann sie heute
       nur wegen des langjährigen Engagements meines Vaters Michael Riese, genannt
       Micki.
       
       An einem dunklen Herbstabend um kurz nach 21 Uhr hat sich eine
       Menschenmenge auf der Straße versammelt. Die Fenster des Gebäudes vor ihnen
       sind hell erleuchtet. Es ist nicht der Schein von Lampen, es sind Flammen.
       Sie fressen sich durch den Innenraum der Synagoge in Alsfeld. Es ist der 9.
       November 1938. Wie [1][an vielen anderen Orten in Deutschland] setzen auch
       in dieser hessischen Kleinstadt an diesem Abend Menschen die Synagoge in
       Brand, schmeißen die Scheiben jüdischer Wohnungen und Geschäfte ein,
       plündern. Wie an vielen anderen Orten weist auch der Alsfelder
       NSDAP-Ortgruppenleiter die Feuerwehr an, den Brand nicht zu löschen,
       sondern nur die umliegenden Gebäude zu schützen.
       
       Doch in Alsfeld nimmt anders als an vielen Orten in Deutschland die
       Geschichte eine ungewöhnliche Wendung. Zeitzeugen berichten, dass die
       Feuerwehr am Ende doch das Feuer in der Synagoge löschte – nach
       Aufforderung eines örtlichen SA-Manns.
       
       ## Die Verstrickungen der Geldinstitute in „Arisierungen“
       
       Es ist dies keine Geschichte von Zivilcourage, im Gegenteil: Es geht um
       Profiteure von NS-Verbrechen, um sogenannte „Arisierung“ und um die
       Verstrickungen der örtlichen Sparkasse darin. Diese Verstrickungen sollen
       nun wissenschaftlich aufgearbeitet werden.
       
       Unter der Leitung des Historikers Eckart Conze von der Universität Marburg
       wird in Kooperation mit der Historischen Kommission für Hessen die Rolle
       der Vorgängerinstitute der heutigen Sparkasse Oberhessen im
       Nationalsozialismus untersucht. Es soll um die Verstrickungen der
       Geldinstitute in sogenannte Arisierungen gehen, als Kreditgeberin, als
       Käuferin, aber auch um die Nazifizierung der Banken selbst, ihren Umgang
       mit jüdischen Mitarbeiter*innen und Kund*innen ebenso wie die
       Besetzung von Schlüsselpositionen mit überzeugten Nazis.
       
       Beauftragt hat diese Studie die Sparkasse Oberhessen, die sie aus eigenen
       Mitteln finanziert. „Als öffentlich-rechtliche Sparkasse ist es Ausdruck
       unserer gesellschaftlichen Verantwortung, uns mit unserer Vergangenheit
       auseinanderzusetzen“, sagt Ulrich Kaßburg, Vorstandsvorsitzender der
       Sparkasse Oberhessen. „Mit dem umfangreichen Projekt wollen wir Transparenz
       schaffen und für demokratische Werte einstehen.“
       
       Das klingt nach einem starken Willen zur Aufklärung. Doch damit im November
       die offizielle Aufarbeitung beginnen kann, mussten Menschen in Alsfeld
       jahrelang die Geschichte ihres Ortes erforschen, ehrenamtlich. Und das in
       einem Klima, in dem viele lieber schweigen wollen.
       
       ## Als seien die kleinen braunen Männchen aus dem All gekommen
       
       „Es ist noch nicht lange her, da wurde in Alsfeld nur sehr schamhaft über
       die Pogromnacht am 9. November 1938 gesprochen“, sagt Joachim Legatis,
       Journalist und engagiert im Förderverein zur Geschichte des Judentums im
       Vogelsberg. Es gebe zwar schon seit vielen Jahren eine Gedenkveranstaltung.
       „Aber da wurde sehr bemüht nicht darüber gesprochen, wer das eigentlich
       war, der hier als brutaler Mob durch die Stadt gezogen ist, wer Scheiben
       eingeschlagen und Menschen körperlich angegriffen hat: die Leute aus dem
       Ort und Umbegung nämlich, die eigenen Eltern, Onkel, Freunde der Familie“,
       sagt Legatis.
       
       Zeitzeugen berichteten später von der Verwüstung: „Die Bänke waren
       umgestürzt und zerschlagen“, erinnert sich Michael Maynard,
       Holocaust-Überlebender aus Alsfeld. „Zubehör war abgerissen, Gebetbücher
       zerrissen und herumgeworfen. Man hatte versucht, den Bodenbelag zum
       Feuermachen zu benutzen, Bänke waren angekohlt.“ Alles Glas sei zerschlagen
       gewesen, alle Türen im Inneren zersplittert.
       
       „Es gab Menschen, die widersprochen haben oder eingeschritten sind – aber
       es waren sehr wenige“, sagt Joachim Legatis. „Und auch, dass Alsfeld schon
       sehr früh eine Hochburg der Nazis war, darüber wurde hier sehr lange
       geschwiegen. Als seien die kleinen braunen Männchen aus dem All gekommen
       und hätten die Synagoge verwüstet, und als wären sie 1945 spurlos
       verschwunden.“ Erst im Jahr 2022 widmete sich die Stadt Alsfeld
       ausführlicher ihrer NS-Geschichte: mit einem Kapitel in der Festschrift zum
       800-jährigen Jubiläum der Stadt.
       
       Was geschah mit der Alsfelder Synagoge nach der Pogromnacht 1938? „Dass es
       ‚brave Alsfelder‘ waren, die sich da bereichert haben, darüber wollten die
       Leute damals nicht sprechen“, sagt Legatis. Ein erster Hinweis darauf
       findet sich in dem 1988 erschienenen Buch „Geschichte der Juden in Alsfeld“
       der Lokalforscher Heinrich Dittmar und Herbert Jäkel. „Auch da heißt es
       aber lediglich sehr neutral, das Grundstück sei an eine Bank überschrieben
       worden“, sagt Legatis.
       
       Eine Erklärung, die manchen nicht reicht. Einer von ihnen ist der Lehrer
       und Kommunalpolitiker Michael Riese, damals Vorsitzender im Förderverein.
       „Micki wollte dem auf den Grund gehen, hat nachgebohrt“, sagt Legatis. „Er
       ist in Archive gegangen und hat dort gesucht – und Unterlagen gefunden, die
       die Sparkasse ins Zentrum rückten.“
       
       ## Der Sparkassendirektor war Chef der Alsfelder SA
       
       Diese Dokumente sind heute [2][auf der Webseite des Fördervereins]
       einsehbar. Am 29. Dezember, keine zwei Monate nachdem die Synagoge
       ausbrannte, kaufte die Bezirkssparkasse Alsfeld das Grundstück. Der
       Kaufpreis: Die Bank erließ der jüdischen Gemeinde eine Darlehensschuld von
       3.700 Reichsmark. Das Synagogengebäude sollte abgerissen werden, an seiner
       Stelle Wohnhäuser entstehen.
       
       Vor dem Notar erschien an diesem Dezembertag für die Sparkasse deren
       Direktor Hermann Trips, gleichzeitig Obersturmführer und Chef der Alsfelder
       SA. Vermutlich war er derjenige, der in der Pogromnacht die Feuerwehr rief.
       So beschrieb es etwa Michael Maynard, der Sohn des damaligen
       Gemeindevorstehers Philipp Moses. In seinen Zeitzeugenberichten ist die
       Rede von einem SA-Mann Hermann T., der einige Zeit nach der Pogromnacht bei
       seinem Vater erschien.
       
       Er habe sich erstaunt gegeben, dass die jüdische Gemeinde nicht versucht
       habe, der Sparkasse die Synagoge zum Kauf anzubieten, sagte Maynard. „Er
       deutete dann an, dass er nicht wieder dasselbe tun könne wie am 9.
       November, das heißt, die Feuerwehr zu benachrichtigen, falls die Synagoge
       nicht bald der Sparkasse überschrieben würde.“ Auch müsse die Gemeinde
       andernfalls sofort die noch offene Hypothek aufbringen. Es war eine kaum
       verhohlene Drohung des Sparkassendirektors Hermann Trips.
       
       Trips sei für seinen Anruf bei der Feuerwehr von anderen Nazis als
       „Judenfreund“ gerügt worden. Er habe sich damit verteidigt, dass er dies
       nur getan habe, um „einen Wertgegenstand für die Bank zu erhalten“. Dann
       habe Trips das Gespräch mit dem Hinweis beendet, dass man ihm „in die Ohren
       geflüstert“ habe, falls die Synagoge weiter in jüdischen Händen bliebe,
       würde in der Silvesternacht ein „großes Feuerwerk“ stattfinden.
       
       Die jüdische Gemeinde hatte keine andere Wahl, als sich der Erpressung zu
       beugen. Die Sparkasse baute auf dem Gelände Wohnraum, teils mit den Steinen
       der abgerissenen Synagoge.
       
       ## Ein Antrag im Kreistag war der Wendepunkt
       
       Die Aussagen des Zeitzeugen, der Kaufvertrag, die Korrespondenz zwischen
       Sparkasse, Bürgermeister, NSDAP-Kreisleitung und weiteren NS-Behörden sind
       heute öffentlich, einsehbar auf der Webseite des Fördervereins. Die
       Reaktionen in der Stadt? „Schweigen“, sagt der Journalist Legatis. „Micki
       nutzte dann seine Funktion als Kreistagsmitglied, um die Aufarbeitung
       voranzubringen.“
       
       Im Mai 2022 stellte die Fraktion Die Linke/Klimaliste, deren Mitglied
       Michael Riese war, einen Antrag im Vogelsberger Kreistag: „Der Kreis derer,
       die daran beteiligt waren, die jüdische Bevölkerung ihrer wirtschaftlichen
       Existenz zu berauben, war umfänglich“, heißt es darin. „Geschwindigkeit und
       Ausmaß“ der sogenannten Arisierungen seien vor allem in den Anfangsjahren
       von lokalen Akteuren bestimmt gewesen. „Sparkassen und Volksbanken waren
       lokal die wichtigsten Finanzhäuser in der Region.“ Banken seien „auf
       verschiedene Weise“ beteiligt gewesen, gegenüber ihren jüdischen
       Kund*innen „oder indem sie sogenannte Arisierungskredite für die neuen
       Eigentümer vergaben“.
       
       Die Beteiligung regionaler Geldinstitute sei jedoch bisher nicht
       aufgearbeitet worden. „Vor diesem Hintergrund mögen die Vogelsberger
       Vertreter im Verwaltungsrat der Sparkasse Oberhessen sich für eine
       Aufarbeitung der Rolle der damaligen Sparkassen in der Region an den
       Arisierungen einsetzen.“ Ebenso solle sich der Kreistag dafür einsetzen,
       dass auch die Volksbanken ihre damalige Rolle untersuchen ließen.
       
       Nach Jahrzehnten des Schweigens war dieser Antrag ein Wendepunkt. Der
       Kreistag stimmte mit 40 Ja-Stimmen zu 4 Nein-Stimmen und einer Enthaltung
       zu. „Das war vor dreieinhalb Jahren“, sagt Dietmar Schnell,
       Fraktionsvorsitzender der Linken/Klimaliste. „Gut, dass die Aufarbeitung
       nun wirklich startet. Wir erwarten, dass die Ergebnisse dann auch
       öffentlich präsentiert und diskutiert werden.“ Er bedaure es jedoch, dass
       die Volks- und Raiffeisenbanken nicht ebenfalls aktiv würden. „Die sind an
       Aufarbeitung offenbar gar nicht interessiert.“ Die Sparkasse habe sich da
       deutlich aufgeschlossener gezeigt. „Aber auch sie brauchte erst den Impuls
       von außen.“
       
       ## In Frankfurt gab es Streit
       
       Die Untersuchung leiten wird Eckart Conze von der Universität Marburg. Im
       Auftrag der Sparkasse erarbeiteten er und zwei wissenschaftliche
       Mitarbeiter im Jahr 2024 zunächst eine sogenannte Explorationsstudie: „Wir
       mussten erst einmal herausfinden, was es an Materialien gibt, an Dokumenten
       und Quellen, um abschätzen zu können, ob eine systematische
       wissenschaftliche Aufarbeitung machbar ist“, sagt er im Gespräch mit der
       taz. Das Ergebnis ist eindeutig: „Es gibt eine sehr reiche Material- und
       Quellengrundlage.“ Es gebe Unterlagen in öffentlichen und kommunalen
       Archiven, etwa den Finanzverwaltungen. Vor allem seien da die Unterlagen
       der Sparkasse selbst, die heute im hessischen Wirtschaftsarchiv in
       Darmstadt eingesehen werden könnten. „Sonst würde ich ein solches Projekt
       nicht übernehmen“, sagt Conze.
       
       Eine Bemerkung, die nicht trivial ist. Viele Sparkassen haben ihre
       Geschichte zwar noch nicht aufarbeiten lassen, die erste ist die
       oberhessische Bank aber nicht. So hat etwa die Sparkasse Dortmund gerade
       erst ein Buch über ihre Rolle in der Nazizeit vorgestellt.
       
       Doch nicht immer läuft eine solche Aufarbeitung konfliktfrei ab. Wie bei
       der Frankfurter Sparkasse, die zu ihrem 200-jährigen Bestehen eine
       Festschrift beauftragt hatte, die sich in einem Kapitel auch der NS-Zeit
       widmen sollte. Einer der damit betrauten Historiker, Ralf Roth, stieß in
       diesem Zusammenhang auf zehntausende Konten jüdischer Kund*innen, die
       damals gesperrt und deren Inhaber*innen enteignet wurden. Auch habe die
       Bank jüdische Mitarbeiter verfolgt und sei als „NS-Musterbetrieb“ geführt
       worden. Ein Viertel ihres Jahresgewinns habe sie an den Gauleiter von
       Hessen-Nassau gespendet. Die Täter seien nach dem Krieg weiter in führenden
       Positionen bei der Sparkasse geblieben.
       
       Das aber passte den Auftraggebern offenbar nicht. Das mit der Festschrift
       beauftragte Institut für Bank- und Finanzgeschichte entzog Roth den Auftrag
       wieder. Zuvor hatte dieser kritisiert, das Institut wolle Erkenntnisse
       zurückhalten. Nach monatelangen Streit verkündeten die Frankfurter
       Sparkasse und die Polytechnische Gesellschaft Ende Mai 2022, dass nun das
       Fritz Bauer Institut damit betraut worden sei, die „Geschichte beider
       Institute während der NS-Zeit in eigenen Forschungsprojekten näher
       aufarbeiten zu lassen“. Das Projekt ist noch nicht abgeschlossen.
       
       ## Die Sparkasse Oberhessen geht voran
       
       „Es gibt zwar schon Studien zu den Sparkassen und der NS-Zeit, aber
       flächendeckend untersucht ist dieses Feld noch lange nicht“, sagt Eckart
       Conze. Oft seien es, wie im Fall der ersten Untersuchung in Frankfurt,
       einzelne Kapitel als Teil zum Beispiel von Festschriften. „Insofern geht
       die Sparkasse Oberhessen hier schon voran, indem sie sagt: Wir lassen
       unsere eigene Geschichte mit Fokus auf die NS-Zeit aufarbeiten.“
       Ergebnissen könne er natürlich nicht vorgreifen, betont Conze. Aber es gebe
       ein breites Spektrum an Themen und Fragen, denen man sich widmen wolle.
       
       Zum einen die sogenannten Arisierungen, wie im Fall der Alsfelder Synagoge.
       „Wenn wir über Sparkassen sprechen, dann sprechen wir nicht über große
       Geldinstitute, sondern über die kleinen Banken vor Ort, mit breiter Präsenz
       und ganz nah an den Privatkunden, den Kleinkunden, den kleinen
       Gewerbetreibenden“, sagt Conze. „Wir dürfen nicht unterschätzen, wie
       entscheidend diese lokale und regionale Präsenz für die Wirtschaft und die
       Finanzpolitik des NS war, und für die verbrecherischen Dimensionen dieser
       Politik.“
       
       An den „Arisierungen“ seien die Sparkassen in verschiedenen Formen
       beteiligt gewesen, sagt Conze: als Käufer, als Vermittler von
       „Arisierungsgeschäften“, als Makler, als Kreditgeber. Man müsse „direkt am
       30. Januar 1933 ansetzen“, sagt Conze. „Was verändert sich nach diesem
       Datum in den Banken?“ Mit welchen Kunden beende man die
       Geschäftsbeziehungen mit jüdischen wie auch anderen von den Nazis
       verfolgten Gruppen? Was passiere in der Personalstruktur, wer wurde
       entlassen, wer eingestellt, vor allem in den Leitungspositionen?
       
       „Vielfach wurden Banken nazifiziert, sie haben sich aber auch selbst
       nazifiziert. Oft hört man die beschönigende Erzählung, man habe ja keine
       Wahl gehabt. Es gab aber auch viel vorauseilenden Gehorsam“, sagt der
       Historiker. „Im Fall Alsfeld war der Sparkassendirektor ja offenbar auch
       ein führender Nazi. Diese Verschränkungen sind interessant und helfen zu
       erklären, warum die sogenannten Arisierungen und andere Formen der
       Kollaboration oftmals so reibungslos funktionierten.“
       
       Denn der Raub und die Enteignung jüdischen Vermögens seien natürlich
       wichtige Schwerpunkte der Forschung. „Aber darin erschöpft es sich nicht“,
       sagt Conze. [3][So seien gerade die Sparkassen „entscheidende
       Kapitalsammelstellen“ für Kriegsanleihen gewesen und hätten so dazu
       beigetragen, den Krieg zu finanzieren]. Ihm ist wichtig zu betonen: „Wir
       untersuchen die Sparkasse Oberhessen und den Nationalsozialismus, nicht
       ihre Rolle im Nationalsozialismus. Das heißt: Wir enden nicht am 8. Mai
       1945, sondern schauen auf die Kontinuitäten.“ Die Studie werde auch den
       Umgang mit etwaigen Entschädigungen und Wiedergutmachungen thematisieren
       sowie die Frage personeller Kontinuitäten. „Es gibt gute Gründe,
       anzunehmen, dass die NS-Verstrickungen auch in Oberhessen in den
       Nachkriegsjahren noch eine Rolle gespielt haben“, sagt Conze. Mit
       Ergebnissen sei in zwei bis drei Jahren zu rechnen.
       
       ## Auch die Kleiderfabrik wurde unter Druck und für wenig Geld verkauft
       
       Ergebnisse, auf die Joachim Legatis aus Alsfeld gespannt wartet. Und von
       denen er sich noch mehr erhofft als neue Erkenntnisse zur Synagoge. So habe
       es zum Beispiel noch eine Kleiderfabrik gegeben, Steinberger und Strauss.
       Dem einen Geschäftsführer gelang rechtzeitig die Flucht aus Deutschland,
       der andere wurde von den Nazis ermordet. Für ihn liegen heute Stolpersteine
       in Alsfeld. Steinberger habe die Fabrik unter Druck und für wenig Geld an
       den Inhaber der Kleiderfabrik Bücking verkaufen müssen, bis in die 1980er
       Jahre hinein bestand sie weiter.
       
       Auch die bis 2019 bestehende Alsfelder Brauerei hatte eine einschlägige
       Geschichte. 1935 musste der Inhaber Karl Wallach das seit 1858 im
       Familienbesitz befindliche Unternehmen an eine frisch gegründete
       Genossenschaft aus Gastwirten verkaufen. Seine Schwiegertochter Charlotte
       Wallach berichtete Ende der 1980er Jahre, wie die Familie von Vertretern
       der NSDAP unter Druck gesetzt worden sei. Ihr selbst, damals schwanger, sei
       eine Pistole an den Bauch gehalten worden. Versuche, die Brauerei nach 1945
       wieder zurückzuerlangen, scheiterten. „War auch bei diesem Verkauf die
       Sparkasse im Spiel?“, fragt Joachim Legatis. Dass eine Bank involviert war,
       liege nahe.
       
       „Es hat mehrere Jahrzehnte gedauert, bis man offenbar bereit ist, auch
       dorthin zu schauen, wo es wehtut“, sagt Legatis. Dass es jetzt eine
       systematische Aufarbeitung gibt, begrüßt er sehr. „Das nimmt auch den Druck
       von den Engagierten vor Ort, die bisher all das Material und Wissen
       zusammengetragen haben, auch gegen die Abwehrhaltung ihrer Umgebung“, sagt
       er. „Lokalforscher sind nicht beliebt. Echt nicht“, erzählt Legatis.
       „Nestbeschmutzer sind das, auch heute noch. So traurig das ist.“
       
       Eine Leistung, die auch der Marburger Historiker Conze betont. „Es ist noch
       nicht lange her, da haben Historiker die Arbeit der lokalen Initiativen nur
       mit spitzen Fingern angefasst“, sagt er. Das habe sich zum Glück geändert.
       „Man kann die Arbeit dieser Initiativen gar nicht hoch genug bewerten. Als
       Impulsgeber, aber auch die genuine Forschungsleistung, die diese Menschen
       erbringen“, meint Conze. „Auch unsere Untersuchung wird auf dem aufbauen,
       was Engagierte vor Ort geleistet haben.“
       
       Ohne die Beharrlichkeit einzelner Engagierter in Alsfeld würde die Arbeit
       an dieser Studie nun nicht beginnen. Micki Riese wird ihre Fertigstellung
       nicht mehr erleben. Er ist im Dezember 2024 verstorben.
       
       9 Nov 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Reichspogromnacht/!t5054800
   DIR [2] https://juedische-geschichte-vogelsberg.de/
   DIR [3] /Goetz-Alys-Wie-konnte-das-geschehen/!6107576
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dinah Riese
       
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