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       # taz.de -- Frauenrechte in den Niederlanden: Ganz schön doll
       
       > Einst verbrannten sie Korsetts, jetzt sind die Dolle Minas zurück. Warum
       > so viele junge Frauen das Gefühl haben, für ihre Rechte kämpfen zu
       > müssen.
       
   IMG Bild: Zwei Generationen Protest: Dolle-Mina-Mitgründerin Dunya Verweji und junge Mitstreiterin bei einer Protestaktion Ende September
       
       Das Jahr 2025 ist erst ein paar Wochen alt, als die Niederlande von der
       eigenen Frauenbewegung überrascht werden. Am 23. Januar stehen im Süden
       Amsterdams trotz Regen und Wind ein paar Dutzend Menschen um das Denkmal
       Wilhelmina Druckers, einer Pionierin des niederländischen Feminismus. In
       ihrer Mitte: Dunya Verweij, 78, eine der prägenden Aktivistinnen der frühen
       Dolle-Mina-Bewegung. Sie hebt ein altes Korsett hoch, zündet es an –
       genauso wie vor 55 Jahren. Der Stoff flammt auf, die Umstehenden jubeln.
       
       „Die Dolle Minas sind zurück!“, titeln die Medien wenig später. Eine
       spontane Pressemitteilung reicht, um die ikonische Gruppe der 1970er Jahre
       wieder sichtbar zu machen. Und der Moment trifft einen empfindlichen Nerv.
       Frauen verdienen im Durchschnitt noch immer 17 Prozent weniger als Männer,
       berichten die Fernsehsender. Viele fühlen sich auf den Straßen unsicher,
       unabhängig von der Tageszeit. „Ihr werdet noch von uns hören“, sagt Verweij
       in die Kameras.
       
       Geplant war dieses Comeback nicht. Kurz nach Neujahr erhält Verweij einen
       Anruf ihrer früheren Mitstreiterin Claudette van Trikt. Ob sie an einem
       Zoom-Gespräch mit der Filmemacherin Sia Hermanides teilnehmen wolle, über
       ihre gemeinsame Zeit als Aktivistinnen? Die beiden Frauen sind bis heute
       eng befreundet – „und immer Dolle Mina geblieben“, wie Verweij sagt.
       
       In dem Gespräch geht es schnell nicht nur um die Vergangenheit, sondern um
       die Gegenwart: Um den Versuch, das Recht auf Abtreibung infrage zu stellen,
       um die sexuelle Doppelmoral, „die wir nicht aus der Welt bekommen konnten“,
       um eine wiedererstarkende patriarchale Bildsprache in sozialen Medien: „So
       stumpfsinnig, so archaisch!“ Und es geht um die bevorstehende zweite
       Vereidigung Donald Trumps. „Wenn Diktatoren an die Macht kommen, geraten
       Frauenrechte als Erstes unter Druck“, sagt Verweij. „Dann merkst du, wie
       Dinge, die du für unantastbar hieltest, weich wie Butter werden.“
       
       Irgendwann fällt ihnen in dem Gespräch auf Zoom auf, dass es genau 55 Jahre
       her ist, dass die Minas erstmals ein Korsett verbrannten. „Eine schöne
       Zahl. Die sollten wir nicht verstreichen lassen“, sagen sie. Nach dem
       Gespräch beginnen sie zu mobilisieren – ohne zu ahnen, was sie damit
       auslösen würden. Frauen schreiben ihnen, sie wollen mitmachen. Andere
       fragen, was sie tun können. Redaktionen melden sich.
       
       „Am 24. Januar begann das Ding zu piepen und hat nicht mehr aufgehört“,
       sagt Verweij einige Monate später und deutet auf ihr Telefon, das in ihrer
       Wohnküche im Dorf Heerde liegt, mitten zwischen Wäldern. Es ist Frühherbst,
       und aus einer spontanen Aktion ist längst eine Bewegung geworden: Rund
       3.000 Frauen und einige Männer treffen sich in 37 lokalen Gruppen, mehr als
       90.000 Follower sind es auf Social Media.
       
       Das nötige Momentum erhielten die wieder auferstandenen Dolle Minas durch
       den Internationalen Frauentag. „Der 8. März steht vor der Tür. Hey, Ladies!
       Da müssen wir etwas tun – wie haben wir das damals noch gemacht?“, rief
       jemand nach der Aktion am Denkmal. Verweij, die erfahrene Aktivistin, lacht
       glucksend.
       
       Rund um die Vorbereitung des Marsches entstehen neue Kontakte zu Gruppen
       und NGOs. Dass die Rückkehr der Minas nach mehr als einem halben
       Jahrhundert so große Resonanz findet, hat Gründe: Die anhaltend niedrigeren
       Durchschnittslöhne von Frauen, das durch MeToo geschärfte Bewusstsein für
       sexuelle Ausbeutung und Einschüchterung sowie fundamental-christliche und
       konservative Kräfte, die das Recht auf Abtreibung und Gleichstellung
       zunehmend unter Druck setzen.
       
       Vor allem aber rückt ein Thema für die Aktivistinnen in den Mittelpunkt:
       Femizide. Rund 40 bis 50 Frauen werden in den Niederlanden jedes Jahr
       getötet, im Schnitt eine alle acht Tage – es ist eine der höchsten
       Pro-Kopf-Raten in Europa. Während Spanien bereits 2004 ein Gesetz gegen
       geschlechtsspezifische Gewalt einführte und Italien inzwischen nachgezogen
       hat, fehlt es in den Niederlanden bis heute an klarer Gesetzgebung und
       konsequenter Aufmerksamkeit.
       
       Die Debatte verschärft sich im Juli 2025, als in der Provinz Nordbrabant
       innerhalb weniger Tage zwei Frauen von ihren (Ex-)Partnern getötet werden.
       Von da an steht das Thema Femizid im Zentrum der öffentlichen
       Aufmerksamkeit. In Rotterdam marschieren daraufhin jeden Sonntag Hunderte
       durch die Straßen, die Dolle Minas mittendrin. Andere Städte schließen sich
       an. Als wenig später in Amsterdam eine 17-Jährige auf dem Heimweg erstochen
       wird, weiten sich die Proteste aus.
       
       Neben den Märschen entstehen Aktionen gegen die ständige Bedrohung von
       Frauen im öffentlichen Raum – meist angeführt von den Minas. Ihre weißen
       T-Shirts, den Protesten der 1970er nachempfunden und bedruckt mit dem
       Slogan „Frauen wollen vorwärts, nicht zurück“, sind überall sichtbar. „Ich
       weiß, wie es ist, auf der Straße angefasst zu werden, ohne dass ich das
       will“, ruft während einer dieser Protestmärsche eine Frau ins Mikrofon.
       Zwischen den Porträts von Femizid-Opfern formiert sich der
       Demonstrationszug in Rotterdam. An seiner Spitze: Eine energische Frau mit
       schwarzen Locken, Megafon und Dolle-Mina-Shirt. Joice Alves dos Santos, 43,
       ist die Initiatorin der Sonntagsmärsche. „Hey hey, ho ho, femicide has to
       go!“, feuert sie die Teilnehmenden an, oder: „Genug ist genug!“
       
       Zur Dolle Mina wurde Alves Dos Santos, die als Aggressions-Coach mit
       Jugendlichen und jungen Erwachsenen arbeitet, im Mai. „Ich wollte bei einem
       nächtlichen Marsch gegen sexuelle Gewalt mitlaufen, hatte aber keine
       Gruppe, der ich mich anschließen konnte. Dann stieß ich auf die Dolle
       Minas, die auch teilnahmen. Ich wusste, dass die in den 1970ern aktiv
       waren, aber nicht, dass sie sich wiederformiert hatten. Wie sie dieses
       Comeback findet? „Dass wir heute wieder für die gleichen Themen
       demonstrieren, wie vor 55 Jahren, ist bizarr. Es bedeutet, dass wir noch
       immer bitter nötig sind. “
       
       In einem Radio-Interview anlässlich des ersten Marschs hatte dos Santos
       gesagt: „Warum gehen die Leute in Spanien oder Italien massenhaft auf die
       Straße, wenn eine Frau ermordet wird, aber in den Niederlanden blieb es
       bisher still? Darum hat Dolle Mina die Initiative ergriffen. Und selbst auf
       dieser Demonstration bekamen wir negative Kommentare wie: Ihr Frauen tragt
       selbst dazu bei, wenn ihr einen Mann so verrückt macht, dass er euch
       ermordet.“
       
       In der Hauptstadt Amsterdam greifen die hiesigen Dolle Minas zu
       ungewöhnlichen Maßnahmen, um den Ernst der Lage deutlich zu machen. An
       einem warmen, aber windigen Nachmittag Ende des Sommers, nach wochenlangen
       Debatten über die Sicherheit von Frauen und Protestmärschen, haben sie sich
       vor dem Rathaus an der Amstel getroffen. Sie warten auf Melanie van der
       Horst, die Beigeordnete für Öffentlichen Raum. Die zwölf Frauen sind in
       Trachten aus dem 17. Jahrhundert gewandet und stellen sich in Zweierreihen
       auf.
       
       Als die Politikerin kommt, tritt Dunya Verweij vor. Sie trägt einen
       schwarzen Mantel mit weinroter Schärpe und weißem Kragen – eine Referenz an
       Frans Banninck Cocq, eine zentrale Figur in Rembrandts weltberühmtem
       Gemälde „Die Nachtwache“. Sie stellt sich als „Fransina Banninck Cocq“ vor
       und übermittelt in Gedichtform „eine Botschaft für die bedrängte Stadt“,
       deren Töchter innerhalb ihrer Mauern nachts nicht sicher seien. „Ohne
       Sicherheit für Frauen kennt die Stadt keine Freiheit“, folgert Banninck
       Cocq alias Verweij, und überreicht Van der Horst ein Schwert, das man
       ausdrücklich nicht als „Waffe der Verwüstung“ verstanden wissen will,
       sondern als Zeichen einer Art eidgenössischen Verbundenheit. Eingraviert in
       den Stahl steht: „Stoppt Gewalt gegen Frauen. Dolle Mina 2025.“
       
       ## „Wir nennen das den Mino Stylo“
       
       In ihrer Küche auf dem Land merkt man Verweij wenige Tage später noch immer
       an, wieviel Freude ihr diese Aktionen machen. Deren Charakter sei heute wie
       damals derselbe „Fröhlichkeit, gepaart mit Kreativität und Streitlust: „Wir
       nennen das den Mino Stylo.“ Wenn wir irgendwo in Erscheinung treten, muss
       das mit Humor sein. Und es muss die Verhältnisse umdrehen. So wie damals,
       als wir Männern auf der Straße nachpfiffen.“ Sie blättert in einem Buch mit
       alten Schwarz-Weiß-Fotografien, das 1975 zum fünften Dolle-Mina- Geburtstag
       erschien. „Oder hier: dieses Bild mit dem nackten Mann gehörte zu einer
       Peep-Show von Männern, die wir organisierten.“
       
       Geändert hat sich dagegen der Fokus. Natürlich bleibe das Recht auf
       Abtreibung ein zentraler Punkt, für den sie auf die Straße gingen, sagt
       Verveij. Christlich-konservative Oppositionsparteien hatten Anfang Oktober
       dafür gesorgt, dass [1][ein Vorstoß aus dem EU-Parlament,
       Schwangerschaftsabbrüche als Menschenrecht festzuschreiben,] abgelehnt
       wurde. Aber auch ein Unsicherheitsgefühl von Frauen im Alltag beschäftige
       die Dolle Minas, und natürlich: Femizide und häusliche Gewalt.
       
       Die Dolle Minas der 1970er hätten allerdings mehr auf eine Veränderung der
       geltenden Gesetzgebung gezielt, während es heute vor allem um
       zwischenmenschliche Verhältnisse gehe. Verweij schätzt diese erweiterte
       Perspektive. „Wir kommen ja aus den Geschichtsbüchern. Dort wird man leicht
       ikonisiert“, lächelt sie. „Das aber bedeutet Versteinerung, denn eine Ikone
       kann sich nicht mehr entwickeln.“
       
       Überrascht ist sie manchmal von der Resonanz gerade junger Frauen und
       Mädchen. „Wir bekommen viele Anfragen von Schülerinnen weiterführender
       Schulen, die Hausarbeiten über Dolle Mina schreiben wollen. Das hätte ich
       nicht erwartet.“ Letzten Endes sind diese Reaktionen auch das, was aus der
       einmaligen Comeback-Aktion eine Bewegung hat werden lassen. „Wir haben
       damit auch eine Verantwortung auf uns genommen“, sagt Verweij.
       
       Die Folgen sind deutlich sichtbar: Viele Kommunen erwägen nun, zentrale
       Anlaufstellen für die Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt einzurichten. Im
       Herbst stellte die Sozialdemokratin Songül Mutluer [2][ein Gesetzesvorhaben
       zum Thema Femizid im Parlament vor], das unter anderem vorsieht, die
       strafrechtlichen Konsequenzen für Stalking zu erhöhen. Und im Dezember ehrt
       Amsterdam den 100. Todestag Wilhelmina Druckers mit einer Straßenbahn, die
       das Porträt der feministischen Pionierin zeigt. Für Dunya Verweij, die nun
       bald 79 Jahre alt wird, und ihre Gruppe ein Grund, in der Tram Flugblätter
       zu verteilen und einmal mehr das Denkmal aufzusuchen, an dem sie sich immer
       „wie in einem Déjà-vu“ fühle.
       
       Und immer wieder das Thema Abtreibung. Die Niederlande haben eine der
       liberalsten Gesetzgebungen dazu in Europa, ein Schwangerschaftsabbruch bis
       zur 24. Woche ist legal – aber die Frauen wollen, dass es so bleibt. Ein
       diesiger Dezemberabend in Breda. 30, 40 Frauen, begleitet von einigen
       Männern, haben sich auf dem Pflaster des Großen Markts versammelt. Um Punkt
       sieben Uhr, als die Glocken der Onze Lieve Vrouwekerk zu schlagen beginnen,
       setzt ein Geräuschteppich aus Trillerpfeifen, Flöten,
       Percussion-Instrumenten, einem Becken sowie Pfannen und Kochtöpfen ein, der
       die folgenden anderthalb Stunden nicht mehr aufhören wird. Übertönt wird er
       immer wieder von einem Megafon, das reihum geht und aus dem beständig die
       alte Dolle-Mina-Forderung schallt: „Baas in eigen buik“: Boss im eigenen
       Bauch. Abtreibung wird in den Niederlanden zwar de facto straffrei
       durchgeführt, steht aber weiterhin als Paragraf im Strafgesetzbuch. Auf die
       Rückseite ihrer T-Shirts haben die Frauen geschrieben: „Mind your own
       uterus!“
       
       Julie Spoorendonk, 39, hat sich ganz nach dem Vorbild der 1970er diesen
       Spruch sogar in großen Lettern auf den Bauch gemalt und tanzt nun mit
       hochgezogenem T-Shirt gegen die Kälte an. Sie gehört zur lokalen Gruppe in
       der Stadt an der belgischen Grenze. Früher hat sie Flugblätter für
       politische Parteien ausgeteilt oder sich für Tierrechte engagiert, in
       letzterem Feld arbeitet sie auch. In einem feministischen Podcast hörte
       sie, die Dolle Minas seien zurück. „Ich habe große Bewunderung für sie und
       möchte gerne in ihre Fußstapfen treten“, sagt sie. Dass sie hier 2025 noch
       immer für das Recht auf straffreie Abtreibung demonstrieren müsse, sei
       „superübel“, so Spoorendonk. „Andererseits ist es schön, mit so vielen
       Gleichgesinnten hier zu kämpfen.“
       
       ## „Mein Bauch ist kein Gesetzesartikel“
       
       Eine Frau, die sich als „Trish Dolle Mina“ vorstellt, ist eine der
       auffälligsten Frauen in der Menge, die sich inzwischen fast verdoppelt hat.
       Sie steckt in einem überdimensionierten grünen Schuhkarton. Auf dessen
       Vorderseite erinnert der Spruch „Mein Bauch ist kein Gesetzesartikel“ an
       die Tatsache, dass Abtreibung - [3][wie in Deutschland auch] – immer noch
       eine juristische Straftat darstellt.
       
       Trish, die als Lehrerin arbeitet und Mutter von zwei Töchtern Anfang 20
       ist, war ein Baby, als Dunya Verweij und ihre Mitstreiterinnen 1970 auf der
       Bildfläche erschienen. Aufgewachsen im liberalen Geist der Niederlande
       jener Zeit, hielt sie die Errungenschaften in puncto Frauenrechte lange für
       selbstverständlich. „Als ich eine Stelle in Australien hatte, wurde mir
       bewusst, dass das nicht so ist. Und auch in den Niederlanden müssen wir
       diese Rechte nun wieder verteidigen.“ Nach der Femiziddebatte des Sommers
       schließt sie sich den Dolle Minas an.
       
       Die Kundgebung auf dem Großen Markt in Breda ist fast zu Ende an diesem
       Dezembertag, als aus dem benachbarten Café ein angetrunkener Mann kommt. Er
       bleibt stehen, schaut auf die tanzende Menge und setzt ein langgezogenes
       „Buuuh“ an, das immer schwächer wird und bald verebbt. Nur Sekunden später
       streckt eine Passantin, die mit ihren schlohweißen Locken wohl auf die 80
       zugeht, ihm einen Daumen entgegen. Und dann wechselt das Megafon ein
       letztes Mal: Vier Mädchen, um die 17 Jahre alt, nehmen es entgegen. Während
       die Geräuschkulisse ein letztes Mal anschwillt, beginnen sie erst zaghaft,
       dann immer lauter zu skandieren: „Boss im ei-gen-en Bauch! Boss im
       ei-gen-en Bauch!“
       
       12 Dec 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://europeannewsroom.com/de/von-amsterdam-bis-valletta-abtreibungsregelungen-in-der-eu-von-liberal-bis-restriktiv/
   DIR [2] https://groenlinkspvda.nl/nieuws/groenlinks-pvda-presenteert-initiatiefnota-tegen-femicide/
   DIR [3] /Studie-zu-Schwangerschaftsabbruechen/!6103252
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tobias Müller
       
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