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       # taz.de -- Die Wahrheit: Prachtvolle Berliner Ratten
       
       > Die Hauptstadt wird schöner und besser – irgendwann. Bis dahin
       > beherrschen wohlgenährte Nager den Unter- und Obergrund des großen
       > Molochs.
       
       Ich weiß gar nicht, wann mir das Loch zuerst aufgefallen ist. Jedenfalls
       war es irgendwann da bei uns im Innenhof und tat sich zwischen zwei
       betonierten Bodenplatten auf. Zuerst dachte ich: „Oh, ein Mauseloch“!
       Vielleicht so ein Jahr später dachten wir: „Oh, ein Rattenloch!“ Noch ein
       Jahr später begannen wir, uns Sorgen zu machen.
       
       So große Ratten gibt es nicht mal bei uns im Berliner Wedding. Und das will
       was heißen, denn so wohlgenährte, pumperlgesunde Ratten wie bei uns, die
       soll uns erst mal jemand zeigen in Friedrichshain oder Steglitz. Ganz zu
       schweigen von den durch Bio-Kost und zuckerfreie Produkte ausgezehrten
       Mickerratten im Prenzlauer Berg.
       
       Aber selbst unsere wonneproppigen Prachtratten brauchten nicht diesen
       gähnenden Abgrund in unauslotbare Tiefen. Waren es Waschbären? Oder dauert
       die Sanierung des U-Bahnhofs Seestraße deswegen nun schon seit über zehn
       Jahren an, weil ein ganz neuer Ausgang gegraben wurde, der genau in unseren
       Innenhof führt? Das Loch stellte ein nicht zu leugnendes Sicherheitsrisiko
       dar. Nicht auszumalen, wenn jemand nachts trunkenen Schrittes durch den
       Innenhof wankte und versehentlich in das Loch trat. Wenn er nicht gleich
       ganz verschwände, wäre doch mindestens ein gebrochenes Bein unausweichlich.
       
       ## Ein echtes Weihnachtswunder
       
       Doch eines Morgens, kurz vor Weihnachten vorigen Jahres, hatte jemand eine
       große Plastiktonne, vielleicht war sie einmal ein Mülleimer gewesen,
       kopfüber auf das Loch gestellt. Nun konnte niemand mehr versehentlich
       hineintreten. Ein Provisorium mit spektakulärer Wirkung. Ein echtes
       Weihnachtswunder! Die Hausbewohner versammelten sich um die paranormale
       Erscheinung und staunten. Wer mochte die Tonne dort hingestellt haben? Wer
       war dieser Held, diese Heldin des Alltags, der oder die einfach so, in
       Eigeninitiative, unbezahlt und unbeauftragt dieses Problem angepackt hatte?
       Wir haben es nie erfahren.
       
       Im Januar lag kurz mal Schnee und Eis, aber die Tonne hielt stand. Im
       Sommer kletterten die Temperaturen auf die 40-Grad-Marke. Wie heiß es wohl
       im Loch war? Wir wissen es nicht, denn die Tonne steht darüber. Im Herbst
       wehte ein Sturm ein Oberlicht und eine Reihe Ziegel vom Dach und verwüstete
       den Innenhof. Aber nicht die Tonne, die ungerührt über dem Loch stand. Ein
       Baugerüst wurde errichtet, um das Dach zu reparieren. Sorgfältig wurden die
       Stangen um sie herumdrapiert, um die Tonne ja nicht zu bewegen. Jetzt liegt
       nur noch ein großer Haufen Schrott aus alten Oberlichtern, Dachpappen und
       anderem Geröll im Hof. In ihrer Mitte prangt die Tonne, erhaben, unberührt
       und unbeweglich.
       
       In ein paar Jahren wird sie vermutlich unter Denkmalschutz gestellt. Und
       nach dem großen Krieg fangen wir noch mal ganz von vorne an. Nur eine alte
       graue Plastiktonne wird aus dem rauchenden Trümmerfeld ragen. Und wir
       werden wissen: Das ist er – der Grundstein für ein neues, ein besseres, ein
       hoffnungsvolles Berlin.
       
       12 Dec 2025
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Heiko Werning
       
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