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       # taz.de -- Wolfgang Beckers letzter Film im Kino: Geschichte ist, was man dabei fühlt
       
       > „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ ist Wolfgang Beckers letzter,
       > postum vollendeter Film. Seine Betrugsklamotte fragt nach dem Umgang mit
       > Vergangenheit.
       
   IMG Bild: Wer ist hier der Held? Vater Micha (Charly Hübner) und Tocher Natalie (Leonie Benesch) in „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“
       
       Welche Filme wir mögen, verrät vielleicht mehr über unser Alter und unsere
       Herkunft als über unseren besonderen Geschmack. „Die Olsenbande, Louis de
       Funès, Sophie Marceau“, gibt Micha (Charly Hübner) an einer Stelle in
       Wolfgang Beckers „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ an, als er nach
       seinen Lieblingsfilmen gefragt wird. In den Unterhaltungen auf Social Media
       wäre das die perfekte Antwort auf die Frage: „Erzähl mir, wie alt du bist
       und wo du herkommst – ohne mir zu sagen, wie alt du bist und wo du
       herkommst“.
       
       Die Filme über die „Olsenbande“ und ihre skurril scheiternden Versuche, den
       großen Coup zu landen, waren in der DDR (und in Polen und Ungarn) ungeheuer
       populär, in Westdeutschland aber so gut wie unbekannt.
       Louis-de-Funès-Komödien im Fernsehen und „La Boum“ im Kino sind die
       Ecksteine einer GenX-Jugend in Ost wie West. Im konkreten Beispiel macht
       das aus Micha einen Ossi, der beim Mauerfall bereits erwachsen war.
       
       Es gibt noch eine weitere Szene im Film, die viel über die Figur Micha
       aussagt. Das ist die Redaktionssitzung der fiktiven Zeitung Fakt, während
       der der Reporter Alexander Landmann (Leon Ullrich) seine Geschichte über
       eine wenig beachtete Massenflucht aus der DDR und deren bislang unbekannt
       gebliebenen Drahtzieher beziehungsweise Weichensteller pitcht. Als
       Identität seines Helden gibt er an, dass er eine „Videothek im Prenzlauer
       Berg“ leitet. Woraufhin die ganze Redaktion in schallendes Gelächter
       ausbricht.
       
       Nun muss man zugeben, dass die Handlung von „Der Held vom Bahnhof
       Friedrichstraße“ sich 30 Jahre nach dem Mauerfall zuträgt, mithin 2019
       spielt. Auch damals war das Geschäftsmodell der Videothek schon
       hoffnungslos veraltet. Weshalb es der perfekte Lebensunterhalt für eine
       Loser-Gestalt wie Micha ist.
       
       Man sieht ihn in der ersten Szene des Films in den Hinterräumen seines
       Ladens aufwachen, sein Computer hat noch einen Kastenmonitor, die ganze
       Einrichtung samt Filmplakaten an den Wänden ist ein Museum ausrangierter
       Kulturtechniken. Als seine Tochter Natalie (Leonie Benesch) mit ihren
       Kindern bei ihm vorbeischaut, fragt sie ihn zum Abschied besorgt und leise,
       ob er vielleicht wieder Geld bräuchte. Worin sich wiederum zeigt, dass
       Micha zwar im Leben gescheitert sein mag, aber ein guter Kerl ist, dessen
       Tochter unbedingt zu ihm hält.
       
       ## Kleines Werk mit großem Schattenwurf
       
       Solche Charakterisierungen, die im kleinen Detail, in Gesten und im Tonfall
       mehr aussagen als die Intrigen eines ausgefeilten Plots, waren die Stärken
       der Filme von Wolfgang Becker. Das sind zwar nur wenige – [1][ganze sechs
       konnte der vor ziemlich genau einem Jahr mit gerade mal 70 Verstorbene]
       realisieren, und wirklich bekannt sind im Grunde nur zwei davon. Aber
       allein deren Schattenwurf ist ungleich größer als der von anderen
       Regisseur*innen mit erheblich längeren Filmografien.
       
       Beckers „Good Bye, Lenin!“ (2003) ist der international erfolgreichste
       deutsche Film nach der Wende, in Spanien mit einem Goya ausgezeichnet, in
       Frankreich mit einem César, für einen Golden Globe nominiert. Kein anderer
       neuerer deutscher Film, erst recht keine deutsche Komödie, zog derart viele
       Zuschauer im europäischen Ausland ins Kino; am Lob der britischen Times –
       „der witzigste Film aus Deutschland seit einem Jahrhundert“ – tröstet man
       sich im Heimatland notorischer Humorlosigkeit noch heute.
       
       „Das Leben ist eine Baustelle“ (1997) war mit gut einer halben Million
       Besucher in Deutschland ein eher bescheidener Hit, und doch hat er im Leben
       der damaligen Kinogänger eine tiefe Spur hinterlassen. Nie waren Jürgen
       Vogels Zahnlücken sympathischer und Christiane Paul als Lebenskünstlerin
       zwischen Punk und Melancholie überzeugender. Die Handlung des Films mag so
       gut wie vergessen sein, von der Wärme, die man für die beiden Figuren und
       ihre Darsteller empfand, ist bis heute was geblieben.
       
       ## Hommage an Becker selbst
       
       Sie wirkt bis in diesen neuen, nun leider letzten Film Beckers hinein, in
       dem Christiane Paul eine Hauptrolle spielt und Jürgen Vogel gen Ende kurz
       als Nebenfigur auftaucht. „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ ist die
       Adaption des gleichnamigen Romans aus dem Jahr 2022 von Maxim Leo. Becker
       schloss die Dreharbeiten kurz vor seinem Tod noch ab; ein Team aus
       Mitarbeiter*innen und Verbündeten vollendete die Produktion. Implizit,
       mit all seinen kleinen und größeren Auftritten von Schauspieler*innen
       aus seinen Filmen, ist es eine melancholisch-herzliche Hommage an Becker
       selbst geworden.
       
       An der Oberfläche kommt er als Collage der bekannten
       Ost-West-Triggermomente daher, arrangiert als wilde Betrugsklamotte
       zwischen Stasi, „Schtonk“ und [2][Relotius-Affäre]. Im Innern aber geht es,
       wie schon in „Good Bye, Lenin!“, um Gefühle. Nicht nur der romantischen
       Art, sondern von der Sorte, die schwerer zu fassen ist. Etwa gegenüber der
       eigenen Vergangenheit und was man darin getan oder unterlassen hat. Oder
       gegenüber Leuten, von denen man sich verraten, aber auch geliebt fühlte.
       
       Die absichtsvoll hanebüchene Handlung ist die: Charly Hübners Micha, der
       Videotheksbesitzer in Prenzlauer Berg, bekommt eines Tages Besuch von
       Alexander Landmann, besagtem Reporter, der zum 30. Jahrestag des Mauerfalls
       eine große Geschichte schreiben möchte und dabei auf ein bislang
       unterbelichtetes Ereignis aus dem Sommer 1985 stieß. Damals sei eine S-Bahn
       aus dem Osten Berlins mit über 127 Passagieren im Gleisgewirr des Bahnhofs
       Friedrichstraße unversehens in den Westen geleitet worden, weil er, Micha,
       als stellvertretender Stellwerksleiter die Weiche so gestellt hätte.
       
       Landmann will ihn jetzt endlich groß herausbringen. Sein Chefredakteur
       (Arnd Klawitter) spricht vom „ostdeutschen Oskar Schindler“. Und was soll
       Micha sagen, er ist nicht mehr jung und braucht das Geld – also zieht er
       mit.
       
       ## Eigentlich war alles etwas anders
       
       Natürlich erfindet Landmann in seiner Reportage Relotius-mäßig tüchtig –
       die Teile des Films, die als Satire auf den Medienbetrieb funktionieren
       sollen, wirken recht abgestanden –, und bald macht Micha als „Held vom
       Bahnhof Friedrichstraße“ Karriere. Es folgen nicht nur Fernsehauftritte
       neben Katarina Witt (Cameo), sondern auch eine Einladung zum
       Bundespräsidenten (keiner kann berufsmäßige Jovialität besser als Bernhard
       Schütz), der Plan zur Kinoadaption mit Schauspielstar Alex Allonge
       (natürlich: Daniel Brühl) in der Hauptrolle und schließlich die Ehre des
       ganz großen Auftritts vor dem Bundestag.
       
       Spätestens da wird es Micha langsam selbst unheimlich – und
       „Berufsdissident“ Wischnewsky (Thorsten Merten) wie auch Ex-Stasi-Mann
       Teubner (Peter Kurth) fühlen sich auf den Plan gerufen. Denn eigentlich war
       alles etwas anders. Nicht nur Reporter Landmann hat übertrieben, auch Micha
       erweist sich als Fabuleur, der gern und dabei recht talentiert immer das
       erzählt, was man von ihm erwartet. Charly Hübner spielt das großartig: Sein
       Micha ist ein Mann mit Nuancen, einerseits der bärige Verlierer, der seine
       Tage im Bademantel verbringt – was ihn zum Geistesbruder von [3][Leonardo
       DiCaprios Altrevoluzzer in „One Battle After Another“] macht, beide im
       übrigen „Girl Dads“ –, andererseits sich der jeweiligen Umgebung lebendig
       und geschickt anpassen kann.
       
       Weshalb er auch gegenüber Paula (Christiane Paul) die Gelegenheit ergreift.
       Auch wenn das bedeutet, dass er die Staatsanwältin belügen muss. Sie saß
       als Mädchen in jener S-Bahn und fragt sich seither, was wohl aus ihr
       geworden wäre, wenn es ihn, Micha, nicht gegeben hätte. Ihr zu gestehen,
       dass seine Rolle in ihrem Schicksal vielleicht übertrieben ist, fällt ihm
       schwer. Aber ist das schon eine Lebenslüge? Es fühlte sich eben richtig an
       …
       
       9 Dec 2025
       
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