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       # taz.de -- Montgomery-Fotoausstellung in Hamburg: Sein cineastischer Blick aufs Staatsversagen
       
       > Schmerzhaft verdichtet zeigt der Fotograf Philip Montgomery auf seinen
       > Bildern die Zustände in den USA. Zu sehen ist das in einer großen
       > Hamburger Schau.
       
   IMG Bild: Ein überschwemmtes Wohnzimmer nach Hurrikan „Harvey“: „Piano“, Houston, Texas, 2017
       
       Man könnte sie Zeugen der Anklage nennen: Fotos, die nicht schreien oder
       lamentieren, sondern schlicht dokumentieren, was sich derzeit zuträgt in
       den USA. Auf verschiedenste Schauplätze hat sich der
       mexikanisch-amerikanische Fotograf Philip Montgomery dafür begeben, einer
       der renommiertesten Dokumentarfotografen der USA derzeit, der regelmäßig im
       New York Times Magazine und im New Yorker publiziert.
       
       Jetzt gilt ihm [1][in Hamburgs Deichtorhallen die erste große
       institutionelle Einzelausstellung] „weltweit“, wie es in der
       Pressemitteilung heißt. Mit 110 seit 2014 entstandenen, teils
       erstveröffentlichten Fotos.
       
       „American Cycles“ hat der heute 37-jährige Montgomery die Schau genannt,
       die sich mit Rassismus, Wirtschaftskrisen und Umweltkatastrophen befasst,
       wiederkehrende Stereotype der weißen Mehrheitsgesellschaft fest im Blick.
       
       Er habe sich bei seinen bewusst schwarz-weißen Fotos an [2][Gangsterfotos
       der 1930er Jahre orientiert], sagt Montgomery. „Ich will zeigen, welches
       Verbrechen derzeit in den USA passiert.“ Umgesetzt hat er das in Bildern,
       die wie Filmstills wirken, Bewegungen im Moment einfangen und so für die
       Ewigkeit mumifizieren: eine Endlosschleife, analog zur anhaltenden
       Polizeigewalt in den USA.
       
       Montgomery übt einen cineastischen Blick, der die Fotos inszeniert wirken
       lässt. Aber das sind sie nicht – sondern die schmerzhaft verdichtete
       Realität des Augenblicks. Wobei das schockierendste Foto der Schau
       beiläufig mittendrin hängt: Ein totes Pferd liegt im Vordergrund,
       ausgemergelt und noch an seinen Pflock gebunden. Weiter hinten laufen vier
       Männer orientierungslos durch die ausgedörrte Landschaft. Man denkt an eine
       fiktive, grausige Wildwest-Szene.
       
       ## Ein Foto von Trumps Grenzmauer
       
       Diese Ambivalenz ist gewollt. Man wundert sich, und der Dialog mit dem Bild
       kann beginnen. In Wahrheit suchen die Männer nach Angehörigen, die immer
       wieder in der Grenzregion zwischen Mexiko und den USA verschwinden. Sie
       werden Opfer organisierter Kriminalität – einer von vielen Gründen für die
       von Präsident Trump vehement bekämpfte Migration. Daneben hängt das Foto
       eines Abschnitts von Trumps staatlich finanzierten Grenzmauer.
       
       Um Grenzüberschreitungen eines toxisch agierenden Staatsapparats geht es
       auch auf Fotos der Proteste gegen die Erschießung der Schwarzen Michael
       Brown (2014) und [3][George Floyd (2020) durch weiße Polizisten]. Die
       Bilder bezeugen die strukturell rassistische Gewalt, die sich bei den
       Protesten fortsetzt: Da liegt ein Schwarzer Protestler am Boden, dem ein
       Weißer eine weiße, vermutlich schädliche Flüssigkeit ins Gesicht schüttet.
       
       Anderswo, in einem nur scheinbar anderen Kontext: ein Porträt des schwarzen
       Polizisten Dominick Tricoche, der sich 2021 [4][dem Sturm aufs Kapitol]
       entgegenstellte und von Trumps Anhängern giftige Chemikalien ins Auge
       bekam.
       
       Wobei es als repräsentativ gelten kann, dass in dieser Ausstellung die
       schwarzen Opfer überwiegen – auch bei der Zwangsräumung einer Familie,
       organisiert von einer Firma, die mit „problemloser Räumung“ warb.
       Entsprechend brutal tritt der Wachmann gegen die Treppe des Hauses, als
       wolle er eigentlich die Bewohner (weg)treten.
       
       ## Voyeurismus bleibt tabu
       
       Andere Fotos zeigen Menschen nach Hurrikans und Überschwemmung, knietief im
       Wasser oder zwischen verschlammten Möbeln. Tote zeigt Montgomery nie,
       Voyeurismus bleibt tabu. Sie hat die Hände vors Gesicht geschlagen, die
       schwarze Frau, die nach der Flucht ins Frauenhaus eigentlich eine größere
       Wohnung bekommen hat und mit ihren vier Kindern weiter in einem Zimmer
       wohnt. Die Enge ist Schutzschild geworden, das Gewalttrauma wirkt nach.
       
       All diese Szenen stehen exemplarisch für die Folgen struktureller Gewalt,
       des Staatsversagens in jeglicher Form. Da ist ein Zimmerboden mit Socken
       und einem umgestürzten Stuhl – und erst spät bemerkt man den Arm eines
       Toten. Wieder so ein beiläufiger Schock, der den Blick schärft.
       
       Auch dieses Foto wirkt wie ein sorgsam arrangiertes Stillleben. Aber die
       Szene ist real und das Foto ein Verweis auf die nur langsam auslaufende,
       seit 90ern Hunderttausende Tote fordernde Opioid-Krise in den USA. Die
       Ursache: wider besseres Wissen von Pharmakonzernen beworbene, massig
       verschriebene Fentanyl-Schmerzmittel, die süchtig machen und oft zum
       Umstieg auf harte Drogen führen.
       
       Unauffällig wirkt auch die Zusammenkunft einiger Männer auf einem
       Golfplatz, wie man zunächst glaubt. Der zweite Blick zeigt: Sie tragen
       Gewehre und „sichern“ nach allen Seiten. Einer lächelt, als habe er gerade
       einen Treffer gelandet. Es sind Mitglieder einer Kampftruppe um Stewart
       Rhodes, den Gründer der rechtsextremen Oath Keepers. Er zählt [5][zu den
       Organisatoren des Sturms auf das Kapitol 2021].
       
       ## Ein Raumschiff, das längst jemand anderes steuert
       
       Auch die idyllische Siedlung mit der jungen Frau in Rückenansicht täuscht:
       Denn die Frau, Trumps Wahlkampfhelferin von 2024, zeigt ihr Pistolen-Tattoo
       am Rücken. Sie muss es dem Fotografen stolz präsentiert haben. Für
       kritische Geister wie Montgomery ist das letztlich eine bedrohliche Geste.
       
       Dann gibt es noch die mit scharfem Licht arbeitenden Innenraum-Fotos, die
       so eigenartig strukturiert sind. Auf der Entzugsstation einer JVA in Ohio
       sieht man Menschen, die – so individuell wie anonym den Raum bevölkernd –
       ähnlich choreografiert sind wie die Figuren des Bauhaus-Künstlers Oskar
       Schlemmer.
       
       Auch die vor Bildschirmen erstarrten Angestellten der New Yorker Börse
       scheinen im Spotlight surreal. Auf sich stetig verselbstständigende
       Algorithmen starrend, wirken sie wie in einem Raumschiff, das längst jemand
       anders steuert.
       
       11 Dec 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.deichtorhallen.de/de/ausstellungen/philip-montgomery/
   DIR [2] /Roman-ueber-Fotografin-Gerda-Taro/!5682474
   DIR [3] /Satire-ueber-polarisierte-Gesellschaft/!6123958
   DIR [4] /Bildsprache-im-Sturm-auf-das-Kapitol/!5826575
   DIR [5] /Nach-dem-Sturm-auf-das-US-Kapitol/!5738598
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Petra Schellen
       
       ## TAGS
       
   DIR zeitgenössische Fotografie 
   DIR USA
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