# taz.de -- Jane Austen: Die Klassikerin
> Zu Jane Austens Lebzeiten begannen sich die romantischen Gefühle von der
> Gesellschaft zu emanzipieren. Interessant ist, was uns heute von ihr
> trennt.
IMG Bild: Affektiv lässt sich der Graben, der ihre Zeit und unsere trennt, überspringen. Auf dem Jane-Austen-Festival in Canberra
Etwas passt, zweifellos. Etwas in diesem Werk trifft auf eine weibliche
seelische Stimmung, die sich nicht gewandelt hat. Wir könnten es den
Regenbogen der Enttäuschung nennen, eine Desillusionierung in allen Farben
– denn die Erfüllung ist nicht Jane Austens Sache.
Sie hat sie weder erotisch noch in einer Partnerschaft jemals erlebt. Ein
Kuss, vielleicht. Eine über Nacht gelöste Verlobung. Möglicherweise zudem
eine Neigung, die sich nicht erfüllte; wir können das nicht wissen, weil
ihre Schwester Cassandra etliche Briefe verschwinden ließ. Doch der Mangel
an Beziehungserfahrung hat die Jungfer Jane Austen nicht zur
Melancholikerin gemacht.
Eher hatte sie Freude daran, der Welt ihren Außenblick auf die Ehe in
untadeliger, zugleich unerbittlicher Weise mitzuteilen. „Lady Elliot war
eine vortreffliche, vernünftige und liebenswürdige Frau gewesen, und wenn
man einmal von der Verliebtheit in ihrer Jugend absieht, infolge derer sie
zur Lady Elliot wurde, hatten ihr Urteilsvermögen und Betragen später nie
Anlass zur Nachsicht gegeben.“
Austen behauptet nicht, vom anderen Geschlecht wirklich etwas zu verstehen
– in ihrem ganzen Werk gibt es keine Unterhaltung allein unter Männern –,
doch sie verrätselt es auch nicht; jeglicher Essenzialismus war ihr fern.
Das Unglück einer falsch gewählten Verbindung kann in ihrem Werk Frauen wie
Männer gleichermaßen treffen.
## Das romantische Gefühl
Irrtum ist möglich auf beiden Seiten, und er ist im Regelfall Ergebnis von
jenem Rohstoff, dessen Verarbeitung sich in den 250 Jahren seit Austens
Geburt entscheidend gewandelt hat: das romantische Gefühl. Insofern ist die
Austen-Industrie – vielleicht der stabilste englische Wirtschaftszweig der
Gegenwart – ein höchst produktives Missverständnis.
Die unmittelbaren Erscheinungsformen der romantischen Empfindung sind,
schon klar, dieselben geblieben: Sehnsucht, Verklärung, Vergötzung.
Schüchternheit, Befangenheit und Schwärmerei. Unerklärliche Anziehung
bereits beim ersten Augenblick, unaufhörliche, bange Spekulation und
unerschöpfliche Geduld.
Wenn, in Jane Austens Roman „Verstand und Gefühl“, Elinor diverse
Jahreszeiten auf eine erlösende Erklärung des zurückgezogenen Edward wartet
– was unterscheidet sie von einer hoch disziplinierten Zeitgenossin, die
gelernt hat, einen avoidant attacher nicht durch Nachstellung zu
verschrecken?
Und wenn ihre Schwester Marianne, schier verzweifelnd am undurchsichtigen
Willoughby, die Nahrung verweigert, hektisch Briefe schreibt und dann ins
seelische Koma fällt, zwischen rasendem Aktionismus und
selbstzerstörerischer Apathie sich jeglicher Hilfe unzugänglich macht – was
trennt sie von den liebeskranken jungen Mädchen, die heutzutage in
psychosomatischen Kliniken landen?
## „Stolz und Vorurteil“
Spüren wir nicht Anne Elliots melancholische Mutlosigkeit unmittelbar nach,
wenn sie, die – durch Liebeskummer – „früh Verblühte“, den jungen Leuten
zum Tanz aufspielt? Fühlen wir nicht Elizabeth’ Unglück in „Stolz und
Vorurteil“, als sie am Rande der Tanzfläche steht, unaufgefordert, in
vertrackter Ambivalenz mit dem rätselhaften Mr. Darcey verstrickt? Zorn und
Zärtlichkeit, Unterwerfung und Selbstbehauptung, das Versinken in
Illusionen, ist uns das allen nicht unwohl bekannt?
Die romantische Liebe ist, wie der Soziologe Niklas Luhmann so
gletscherhaft kühl und doch nicht ohne Anteilnahme schrieb, jene Krankheit
geblieben, „von der man nicht geheilt werden will“. Es gibt sie, als
gesellschaftlich anerkannten Formenkreis des Wahns, erst seit etwa 250
Jahren; Austens Lebenszeit fiel mit ihrem allmählichen Aufstieg zusammen.
Insofern sind ihre Romanheldinnen uns nah. Doch liegt zwischen ihrer Epoche
und der unseren ein Graben, den wir nur affektiv überspringen, aber nicht
mehr schließen können.
Die Soziologin Eva Illouz hat in ihren Analysen dazu, in dem Buch „Warum
Liebe weh tut“, die historischen Schritte nachgezeichnet, die diesen Graben
ausmachen: Da sind der allgemeine Wohlstand und die Emanzipation, die
Frauen ein selbstbestimmtes Leben erlauben, ohne Abhängigkeit von der Ehe.
Da gibt es die Säkularisierung, die Liberalisierung und die
Individualisierung, die Unterschiede in Religion, Hautfarbe, Nationalität
und Vermögen, Bildung und Klasse zu überwindbaren oder trivialen Umständen
reduzieren.
## Konsum der Romantik heute
Da sind Scheidungsgesetze, die einen Irrtum korrigierbar machen. Da ist die
sexuelle Befreiung, die Erfahrungen und Bindungen jenseits juristischer
Festlegung erlaubt. Da gibt es viel freie Zeit, nach Gusto und ohne soziale
Kontrolle zu gestalten. Da wartet, für alle, ein ausgefeiltes Angebot zum
„Konsum der Romantik“ – ein weiterer Titel von Eva Illouz –, vom
Pärchenurlaub bis zur Hochzeitsmesse.
Da gibt es ein unerschöpfliches Angebot von Partner:innen, die online
kontaktiert werden können, auf dass sich für jede sexuelle Vorliebe, für
jede Idee von Beziehung das passende Gegenüber findet. Da gibt es die
zeitgenössische Verzweiflung, wenn das alles nicht funktioniert.
Und da gibt es diese besondere Art von Scham, falls es mit der happiness –
bei all diesen Möglichkeiten – doch nicht klappt. Wer, wenn nicht die
Unglückliche, sollte dafür verantwortlich sein? Und wie kann sie sich aus
dem Sumpf der Enttäuschung ziehen?
So, wie sie hineingeraten ist, ist die Standardantwort unserer Zeit auf
diese Frage: mit dem eigenen Kopf und am eigenen Schopf. Der seelisch
wirksamste Unterschied zwischen unserer Liebeswelt und der Jane Austens ist
die Verantwortung. Wie sie sich innerlich und äußerlich gestaltet. Denn
das, was wir unsere Psyche nennen, das hat es zu ihrer Zeit nicht gegeben.
## Das verzwickte Konstrukt Psyche
Dieses verzwickte Konstrukt, das uns zugleich zu Abhängigen erklärt und zur
Autonomie verurteilt: In dem wir uns mit unserem Begehren und unseren
Wünschen identifizieren – eben mit dem also, was wir weder erfinden noch
kontrollieren können. Unsere „wahren Bedürfnisse“, die wir in unserem
unverwechselbaren Inneren „finden“, danach sollen wir leben. Denn wer
dürfte sich gegen seine Wünsche – und damit sein mögliches Glück –
vergehen?
Falls wir vorübergehend daran scheitern, wartet ein großzügiges
Hilfsangebot; es gibt Ratgeber und Therapien, es gibt Apps zum schnellen
Gefühlsmanagement und anspruchsvolle Bindungstheorien, es gibt
psychologische Podcasts, Rebirthing-Wochenenden und eine hoch reflexive
Gesprächskultur.
Je nach Neigung können wir uns dem inneren Kind, unseren transgenerativen
Traumata oder dem guten alten, seit 125 Jahren etablierten Unbewussten
widmen – aber wir sind allein mit dieser so flackerhaft definierten Psyche.
Und einem Schicksal, das im Liebesunglück als solches erlebt wird, aber
nicht so genannt werden darf.
Da hatte Jane Austen es anders – und einfacher. Denn in ihrer Welt war die
Liebeswahl, aus der unentrinnbar ein Schicksal wurde, eine soziale
Vereinbarung mit einer Vielzahl von einschränkenden Faktoren (Besitz,
Herkunft, Bildung etc.), bei der die Familie und die Gesellschaft den
größtmöglichen Einfluss nahmen. Die Verantwortung war verteilt. Und das
Lebensglück definierte sich nicht durch die Erfüllung von Wünschen. Sondern
durch das, was vor der Psyche war: Wir nennen es Charakter.
## Selbstbeherrschung und Geduld
Das Selbst, wie Austen es dachte, war kein Stück innerer Natur. Kein Urwald
aus Begehren, aus Erfahrungen und Zufällen, der durch Reflexion und
Therapie gelichtet und „bearbeitet“ wird. Sondern ein Ensemble von
Eigenschaften, die sich kultivieren ließen: Selbstbeherrschung und Geduld,
Einfühlsamkeit und Rücksichtnahme. Mit einem starken Charakter, mit einer
bildungswilligen Persönlichkeit war auch das Liebesunglück zu meistern.
Da funkelt ein ferner Stern. Pädagogisch und streng, aber mit Ironie und
Mitgefühl.
12 Dec 2025
## AUTOREN
DIR Elke Schmitter
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