# taz.de -- Vereinigung Griffelkunst wird 100: Weiterverkauf verboten!
> Seit 100 Jahren entzieht der Verein Griffelkunst grafische Werke
> namhafter Künstler dem Markt. Die Kunsthallen Hamburg und Bremen huldigen
> ihm zum Jubiläum.
IMG Bild: Die Vision der Kunst für alle führt immer wieder zu visionären Grafiken: Emma Talbots „Dream“ (2018) ist in Bremen zu sehen
100 Bilder für 100 Jahre ist keine ganz neue Idee, aber für das Jubiläum
der Griffelkunst-Vereinigung aus Hamburg angemessen: Die Zeitläufe anhand
der verlegten grafischen Blätter zu spiegeln, das passt zu einem Verein,
der in dieser Form bis heute welteinzigartig ist.
Sein Gründer, der Kunstlehrer Johannes Böse, wollte im Sinne der
sozialdemokratischen Volksbildungsgedanken der Weimarer Republik – die
Volkshochschule wurde 1919 etabliert, die Büchergilde 1924 – in einer neu
gebauten Wohnstadt im peripheren Hamburg-Langenhorn echte Kunst in weniger
vermögende Haushalte bringen.
Da die dazu 1925 gegründete Griffelkunst stets in ideeller und teils
personeller Verbindung mit der Hamburger Kunsthalle stand, gibt es dort
unter dem, etwas abwegig in Englisch, Ewigkeitshoffnungen formulierenden
Titel „And so on to infinity“ die größte der Jubiläumsausstellungen.
## Große Vielfalt im kleinen Format
Zu den 100 im Katalog ausführlicher beschriebenen Blättern an der Innenwand
des dritten Stocks der Galerie der Gegenwart hat die Kuratorin Corinne
Diserens weitere 370 Arbeiten aus dem seit 1970 auch Fotos und gelegentlich
Multiples umfassenden Editionsprogramm ausgewählt. Diese Vielfalt im
kleinen Format dürfte als Ganzes kaum rezipierbar sein. Sie verdeutlicht
aber die Breite des Vorhabens, originale Kunst an gegenwärtig 4.500 Sammler
zu bringen.
Die signierten Auflagen sind keine Reproduktionen, sondern extra für die
verschiedenen Vervielfältigungstechniken entworfene Originale. Preisgünstig
und unlimitiert bis zur Höhe des jeweiligen Bestelleingangs stehen sie
außerhalb der Logiken des Kunstmarkts: Ein Weiterverkauf ist verboten. Das
individuelle Einkommen der Bezieher sollte bitte ein „mittleres
Beamtengehalt“ nicht übersteigen, lautete eine Auflage der ersten Satzung.
Die Reichskulturkammer schaffte diese Vermögensgrenze dann ab, war aber
letztlich mit dem Verein einverstanden. Johannes Böse musste zwar 1937 in
die NSDAP eintreten, einmal erschien auch eine Edition mit Hitlerbild, doch
manövrierte er den Verein trotz Materialmangel und Druckereizerstörungen
mit ungebrochen regelmäßigen Editionen auch durch die Kriegsjahre.
Böse beauftragte zudem Künstler, die von der Partei unerwünscht waren,
frühere Hamburger Sezessionisten wie Ivo Hauptmann, Willem Grimm, Friedrich
Ahlers-Hestermann, Eduard Bargheer und sogar den gesellschaftskritischen A.
Paul Weber, wenn auch mit Motiven, die nicht als „entartet“ verdächtigt
werden konnten. Bis zu seinem Tode 1955 blieb der Gründer der alleinige
Entscheider in einem stetig wachsenden Vereinsverlag.
Was mit der Radierung einer Torfarbeiterin durch einen lokalen Künstler in
einem kleinen Arbeiterverein begann, [1][ist inzwischen der größte
Grafikverleger] der Welt geworden, eine Kunstinstitution. Um die 1.000
junge und arrivierte internationale Künstlerinnen und Künstler des gesamten
heutigen Spektrums von Georges Adéagbo bis Gerhard Richter, von Joseph
Beuys bis Jonathan Meese haben für sie Werke entworfen.
Die am meisten vertretenen Künstler waren allerdings eher etwas
konservativ: Von A. Paul Weber wurden 220 Blätter, von Horst Janssen 122
verbreitet. Auch die Reeditionen von Avantgarde-Fotografien aus den
jeweiligen Nachlässen sind sehr beliebt.
Da seit Beginn alles auf Kommunikation über originale Kunst angelegt ist,
steht vor der massenhaften Herstellung die Präsentation der angedruckten
Vorschläge zur Auswahl in den 90 ehrenamtlich geführten Vereinsgruppen in
ganz Deutschland. Die kleinste befindet sich auf Helgoland. Elf
hauptberuflich für die Griffelkunst Tätige übernehmen dann in Hamburg die
Produktion der Bestellungen und die Verteilung der pro Quartal gewünschten
Werke.
Und was ist mit dem seltsamen Namen? Der ist Max Klinger entliehen. Der
Leipziger Symbolist schätzte die Druckkunst in besonderem Maße und fasste
alles vom Grabstichel der Radierung über die zahlreichen Zeichenstifte
unter dem Begriff „Griffel“ zusammen.
Diese Herleitung betont [2][die Bremer Kunsthalle in ihrer
Sonderausstellung] zur Griffelkunst: Sie zeigt Klingers berühmte grafische
Folge „Ein Handschuh, Opus VI“ von 1881, ergänzt mit 60 anderen
erzählerischen Arbeiten aus dem Programm des Vereins. Das liegt nahe, denn
dessen Gründer Johannes Böse wurde 1879 in Bremen geboren. Erst 1902 ging
er als Volksschullehrer nach Hamburg.
Die „Schwarzen Künste“, also die Handdruckverfahren Holzschnitt und
Radierung, Lithografie und Siebdruck wurden 2018 von der deutschen
Unesco-Kommission in die nationale Liste des [3][immateriellen Kulturerbes
aufgenommen.] Um diese Techniken gegenüber der Digitalwelt nicht in
Vergessenheit geraten zu lassen, lädt die Griffelkunst zweimal jährlich
Kunstschaffende mit einem Stipendium zu traditionellen Drucktechniken in
Werkstätten in Hamburg und bei Berlin ein. Vielleicht finden so junge Ideen
weiterhin zur intensiven Begegnung im alltäglichen Lebensumfeld, ganz wie
es der Vereinsgründer wollte.
27 Nov 2025
## LINKS
DIR [1] /Supalife-Kiosk-in-Prenzlauer-Berg/!6048276
DIR [2] /Zum-Verhaeltnis-von-Kunst-und-Blindheit/!6086873
DIR [3] https://www.unesco.de/staette/kuenstlerische-drucktechniken-des-hochdrucks-tiefdrucks-flachdrucks-durchdrucks-und-deren-mischformen/
## AUTOREN
DIR Hajo Schiff
## TAGS
DIR zeitgenössische Kunst
DIR Moderne Kunst
DIR Kunst
DIR Druck
DIR Kunsthalle Hamburg
DIR Kunsthalle Bremen
DIR Bildung
DIR Bildende Kunst
DIR Fotografie
## ARTIKEL ZUM THEMA
DIR Kunst auf Postkarten: Subversives im unscheinbaren Format
Eine Schau im Dresdener Kupferstichkabinett zeigt Postkartenkunst nach
1960. Sie ist Protest gegen Hochkultur und Dialog über Systemgrenzen
hinweg.
DIR Kurator über das Sammeln von Fotos: „Einfach dem Gefühl folgen“
Wie sammelt man Kunst? Wie unterstützt man noch wenig bekannte
Künstler*innen? Michael Horbach, Gründer einer Stiftung, hat Antworten.
DIR Grafik des 16. Jahrhunderts in Bremen: Das Kopfkino der Neuzeit
Die Bremer Kunsthalle zeigt eine Ausstellung mit hochkarätiger, wenig
erforschter italienischer Renaissance-Grafik.