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       # taz.de -- Sexualdelikte in Mexiko: Die Präsidentin legt ihre Zurückhaltung ab
       
       > Ein Mann begrapschte Präsidentin Claudia Sheinbaum in Mexiko-Stadt. Die
       > Bilder gingen viral. Erst nach einigem Zögern hat sie ihn nun angezeigt.
       
   IMG Bild: Selbst Claudia Sheinbaum musste die Rosie Riveter in sich erst entdecken: sexuelle Übergriffe werden in Mexiko oft hingenommen
       
       Die Bilder wirkten verstörend: Mitten im Zentrum von Mexiko-Stadt, nahe dem
       Regierungspalast, bewegt sich ein betrunkener Mann [1][auf offener Straße
       auf die Präsidentin] Claudia Sheinbaum zu und greift ihr von hinten an die
       Brust. Dann versucht er noch, [2][der mexikanischen Staatschefin einen Kuss
       zu geben], was aber einer ihrer Personenschützer zu verhindern weiß.
       
       Die Präsidentin reagiert zurückhaltend und erscheint verunsichert. Sie
       lächelt, spricht den Angreifer freundlich an und beruhigt ihn mit den
       Worten: „Mach dir keine Sorgen.“ Man habe ein gemeinsames Foto gemacht.
       
       Natürlich ging ein Video des Vorfalls der ersten Novemberwoche schnell
       viral. Unzählige Feministinnen, Politikerinnen, Journalistinnen sowie
       weiterer Bürgerinnen und Bürger solidarisierten sich mit Sheinbaum, die
       feministische [3][Aktivistin Julia Didriksson warf die Frage auf]: „Wie
       hätte ich reagiert?“
       
       Fast jede Frau habe sich in der Zurückhaltung der Präsidentin
       wiedererkannt, erklärt sie auf Instagram und erläuterte, warum Frauen auf
       solche Angriffe oft nicht adäquat kontern.
       
       ## Ein gefährliches Bild von Männlichkeit
       
       Viele reagierten zögerlich, weil sie sich schämten, Angst hätten, verwirrt
       seien oder die Situation nicht noch verschärfen wollten, sagte Didriksson.
       Ihr Post endete mit einem Aufruf zur Debatte über die „Konstruktion von
       Maskulinität“, die Männer glauben lasse, sie hätten das Recht, „uns ohne
       unsere Erlaubnis zu berühren“.
       
       Tatsächlich rief die Tat eine umfangreiche gesellschaftliche Diskussion ins
       Leben. Am Tag nach dem Angriff äußerte sich Sheinbaum selbst: „Wenn sich
       jemand so der Präsidentin gegenüber verhält, was passiert dann erst mit all
       den anderen Frauen im Land?“ Von der augenscheinlich konzilianten Haltung
       des Vortags war nichts mehr geblieben.
       
       Sie ergänzte ein paar erklärende Sätze zu der sicherheitstechnischen Frage,
       warum sich ihr jemand ungehindert nähern konnte. Sie werde auch weiterhin
       nicht auf die Nähe zur Bevölkerung verzichten, betonte die
       Linkspolitikerin, die das Bad in der Menge von ihrem Vorgänger Andrés
       Manuel López Obrador übernommen hat.
       
       Darüber hinaus fand Sheinbaum deutliche Worte: „Männer müssen kapieren,
       dass solche Vorfälle Gewalt gegen Frauen sind und damit ein Delikt
       darstellen.“ Sie erstattete Anzeige gegen den Täter [4][und kündigte einen
       Generalplan gegen sexuelle Übergriffe an]. Dabei geht es in erster Linie um
       eine Typifizierung des Delikts. Künftig sollen die Taten in ganz Mexiko
       strafrechtlich einheitlich verfolgt werden.
       
       Bislang werden diese Angriffe nicht in allen der 32 Bundesstaaten als
       Straftat betrachtet. Und das in einem Land, in dem täglich zehn Frauen
       getötet werden. Einem Land, in dem Untersuchungen des Staatlichen
       Statistischen Instituts zufolge 70 Prozent der Mädchen und Frauen ab 15
       Jahren psychologische, sexualisierte oder andere körperliche Gewalt
       erfahren haben.
       
       93 Prozent der Opfer geben an, die Angriffe nicht angezeigt zu haben. Das
       ist nicht zuletzt so, weil die meisten Anzeigen folgenlos bleiben, da
       Strafverfolger die Vorwürfe nicht ernst nehmen und sich nicht um Aufklärung
       kümmern. Oder weil sie diese bewusst verhindern: Nur zwei von hundert
       Verfahren enden mit einer Verurteilung.
       
       ## Sexualdelikte werden nicht wahrgenommen
       
       Darin liegt das Problem. Die „Konstruktion von Maskulinität“, wie
       Didriksson es nennt, verhindert eine juristische Verfolgung, wie hoch eine
       mögliche Strafe auch sein mag. Zweifellos wurden Frauenrechte in Mexiko in
       letzter Zeit gestärkt und die Lebensbedingungen der weiblichen Bevölkerung
       verbessert.
       
       Dennoch dominiert in zahlreichen Familien, Gemeinden und Behörden ein
       machistisches Denken, in dem sexualisierte Delikte nicht als solche
       wahrgenommen werden. In ihrer gewalttätigsten Formen kommt das in Gegenden
       zum Ausdruck, die von kriminellen Kartellen kontrolliert und deren
       Männlichkeitskult geprägt sind.
       
       Gesetze werden bislang dagegen wenig ausrichten. Dennoch dürften Sheinbaums
       Anzeige und ihre deutlichen Worte ihre Wirkung nicht verfehlen. Gerade
       auch, weil viele ihre erste zurückhaltende Reaktion gut verstehen.
       
       19 Nov 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Oekologisches-Projekt-in-Mexiko/!6087698
   DIR [2] https://www.theguardian.com/world/2025/nov/05/man-gropes-mexico-president-claudia-sheinbaum
   DIR [3] https://www.youtube.com/watch?v=5bZ-bpjvf18
   DIR [4] /Vor-den-Wahlen-in-Mexiko/!6014052
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Wolf-Dieter Vogel
       
       ## TAGS
       
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