URI:
       # taz.de -- Antifa-Prozess beginnt: Die Abrechnung
       
       > Eine Gruppe um Johann G. soll jahrelang Rechtsextreme attackiert haben.
       > Nach vier Jahren im Untergrund steht er nun in Dresden vor Gericht.
       
   IMG Bild: Protest nach Urteilsverkündung im Antifa-Ost-Verfahren und Verurteilung von Lina E., Berlin 31.5.2023
       
       Es war am Vormittag des 9. Februar 2023, ein Donnerstag, als [1][Johann G.]
       mit mehreren anderen Linken aus Sachsen und Thüringen in Budapest
       losgezogen sein soll. Rechtsextreme aus ganz Europa hatten sich in diesen
       Tagen in der ungarischen Hauptstadt versammelt, [2][zu ihrem alljährlichen
       „Tag der Ehre“]. Bei dem Aufmarsch verherrlichen sie die SS und Wehrmacht,
       die hier 1945 eingekesselt gegen die Rote Armee kämpfte. Einige Neonazis
       tragen dafür Uniformen und Stahlhelme, zeigen Hakenkreuze. Und wie in den
       Vorjahren gab es linken Gegenprotest. Johann G. und die anderen aber sollen
       diesmal mehr gewollt haben.
       
       Schon am Morgen sollen zwei Mitstreiter aus der Gruppe am Budapester
       Westbahnhof einen bekannten ungarischen Neonazi, der in Szenekleidung
       zwischen den Zugtüren stand, entdeckt und ihm Pfefferspray ins Gesicht
       gesprüht haben. Eine Stunde später soll dann auch Johann G. mit anderen
       losgezogen sein. Sie wiederum erspähten drei polnische Rechtsextreme, die
       sie verfolgten und schließlich vor einem Café in der Innenstadt angriffen,
       Johann G. soll dabei mit einem Schlagstock zugeschlagen haben, ein anderer
       Vermummter einen Hammer dabei gehabt haben. Auch als ein Angegriffener
       schon am Boden lag, soll weiter geprügelt worden sein. Erst als sein
       Begleiter ein Pfefferspray zückte, hätten die Vermummten die Flucht
       ergriffen.
       
       In den beiden Tagen darauf folgten drei weitere Angriffe. Insgesamt neun
       Rechtsextreme werden in Budapest verletzt. Sie erleiden Kopfplatzwunden,
       Knochenbrüche, Prellungen. Ein Opfer soll mehr als 15 Schläge auf den Kopf
       bekommen haben – auch hier soll Johann G. mit zugeschlagen haben. Ein
       weiterer Angegriffener sei, als er schon bewusstlos auf dem Gehsteig lag,
       noch mit Schlägen traktiert worden.
       
       All dies geht aus Ermittlungsergebnissen der Bundesanwaltschaft hervor. Und
       wenn Johann G. tatsächlich bei diesen Taten in Budapest dabei war, würde es
       eine gewisse Chuzpe bedeuten: Denn der 32-Jährige wurde damals schon seit
       knapp drei Jahren vom BKA und Zielfahndern der sächsischen „Soko Linx“
       gesucht, mit internationalem Haftbefehl, als Topziel. Wegen mehrerer
       Angriffe auf Rechtsextreme in Ostdeutschland mit demselben Tatmuster.
       
       Aber auch in Budapest entkam Johann G. offenbar wieder. Anderthalb Jahre
       blieb er danach noch verschwunden. Trotz veröffentlichter Fahndungsfotos,
       [3][trotz ausgelobter Belohnung von 10.000 Euro für Hinweise], trotz
       Ausstrahlung seines Falls in der TV-Sendung „XY ungelöst“. Dann, am 8.
       November 2024, ein Freitagvormittag, [4][fasste ihn die Polizei doch noch]:
       in einer Regionalbahn bei Weimar. Fahnder hatten zuvor eine Thüringer
       Bekannte von ihm observiert, die in der Bahn saß. Dann soll Johann G.
       dazugestiegen sein – und wurde festgenommen.
       
       ## Der Prozess um Johann G. fängt am Dienstag an
       
       Zur Festnahme äußerte sich damals selbst die amtierende
       Bundesinnenministerin Nancy Faeser, die von einem „sehr wichtigen
       Fahndungserfolg“ sprach. Denn es seien bei linksextremen Gruppen
       „Hemmschwellen gesunken, politische Gegner mit äußerster Brutalität
       anzugreifen“, so die Sozialdemokratin. Sachsens Innenminister Armin
       Schuster, CDU, frohlockte, dass einer „der meistgesuchten Linksextremisten“
       festgenommen wurde: der „Drahtzieher vielfältiger schwerer Straftaten“ und
       „das zentrale Puzzleteil im gesamten Ermittlungskomplex“.
       
       Ab Dienstag nun wird Johann G. mit sechs anderen Linken in Dresden vor dem
       Oberlandesgericht stehen, in einem Hochsicherheitssaal am Stadtrand,
       [5][angeklagt von der Bundesanwaltschaft]. Die Vorwürfe gegen die Gruppe,
       die Medien mal als „Antifa Ost“, mal als „Hammerbande“ titulieren: neun
       schwere Angriffe auf Neonazis, begangen von Oktober 2018 bis Februar 2023
       in Wurzen, Leipzig, Dessau-Roßlau, Eisenach, Erfurt, die letzten in
       Budapest. Dazu ein Angriff auf ein Geschäft der bei Rechtsextremen
       beliebten Modemarke Thor Steinar in Dortmund.
       
       Einige der Neonazis wurden vorher ausgespäht und in ihrem Wohnumfeld
       attackiert. Andere, als sie von Aufmärschen zurückkehrten. In Eisenach war
       es der [6][Anführer der rechtsextremen Kampfsporttruppe „Knockout51“, Leon
       Ringl], der gleich zwei Mal angegriffen wurde. In Leipzig-Connewitz traf es
       spontan einen Kanalarbeiter, der eine Mütze einer bei Rechtsextremen
       beliebten Marke trug. Johann G. soll an acht der neun Taten beteiligt
       gewesen sein – die anderen Beschuldigten bei einzelnen Angriffen.
       
       Und die Bundesanwaltschaft hängt die Vorwürfe hoch: Sie wirft allen
       Angeklagten die Bildung oder Unterstützung einer kriminellen Vereinigung
       vor sowie gefährliche Körperverletzungen. Und in zwei Fällen, bei den
       Angriffen in Erfurt und Dessau-Roßlau, auch versuchten Mord, weil die
       Attackierten dort auch mit Schlagstöcken und Hämmern gezielt auf die Köpfe
       geschlagen wurden, was zu lebensgefährlichen Verletzungen geführt habe.
       Zwei der Opfer mussten auf einer Intensivstation behandelt werden, einer
       mit Einblutungen in den Schädelinnenraum. Neben Johann G. sitzen drei
       weitere Beschuldigte seit Monaten in Untersuchungshaft. Zwei von ihnen
       hatte die taz zuletzt im Gefängnis besucht: die Berliner [7][Thomas J.] und
       [8][Tobias E.]
       
       Ihnen steht nun der größte Antifa-Prozess seit Jahren bevor,
       Verhandlungstermine sind bis ins Jahr 2027 vorgesehen. Und das Verfahren
       setzt im Grunde einen anderen Prozess fort, in dem im Mai 2023 an selber
       Stelle vier Antifaschist*innen wegen der selben Angriffsserie zu
       Haftstrafen verurteilt wurden. Hauptbeschuldigte war damals: [9][die
       Leipzigerin Lina E., verurteilt zu gut fünf Jahren Haft,] die sie momentan
       absitzt – die frühere Verlobte von Johann G. Schon damals galt ihr
       Lebensgefährte als mutmaßlicher Gruppenanführer. Da aber war er noch auf
       der Flucht – und soll weiter Straftaten begangen haben.
       
       Und Druck kommt inzwischen auch aus dem Ausland. Denn schon im September
       stufte die ungarische Rechtsaußen-Regierung von Viktor Orbán die „Antifa
       Ost / Hammerbande“ als terroristische Vereinigung ein. [10][Nun tat es vor
       einer guten Woche die US-Administration von Donald Trump gleich] und
       erklärte, man werde Antifagruppen „auf der ganzen Welt bekämpfen“.
       
       ## Johann G. und die Mitbeschuldigten schweigen bisher
       
       Den Verteidiger*innen der in Dresden Angeklagten schwant deshalb
       nichts Gutes. Bereits zur Anklageerhebung beklagten sie in einer Erklärung,
       es sei „höchst zweifelhaft, ob diese Anklage in einem fairen und
       rechtsstaatlichen Verfahren verhandelt werden kann“. Das LKA Sachsen habe
       „nicht neutral“ ermittelt. Dem LKA warfen sie vor, Verfahrensinhalte
       rechtswidrig weitergegeben zu haben, stellten deshalb Anzeige wegen
       Geheimnisverrats. „Das Vorgehen des LKA Sachsen verstößt fundamental gegen
       die Unschuldsvermutung.“
       
       Am Montag nun kritisierten die Anwält*innen, dass die Anklage das
       „Konstrukt einer Vereinigung“ schaffe und den Vorwurf einer kriminellen
       Vereinigung „erheblich“ ausweite. Benannt werde gar keine feste
       Organisationsstruktur mit Mitgliedern und Hierarchien. Mehrere Angeklagte
       seien „lediglich Randpersonen“, die nur an einer der vorgeworfenen Taten
       beteiligt gewesen sein sollen.
       
       Zudem gaben die Verteidiger*innen bekannt, dass sie einen
       Befangenheitsantrag gegen den Strafsenat eingereicht haben. Denn drei der
       fünf Richter*innen hätten schon beim Prozess gegen Lina E. und die
       anderen mitgewirkt – und dort bereits Schuldfeststellungen zu einigen
       Beschuldigten getroffen, etwa dass diese Teil einer kriminellen Vereinigung
       gewesen seien oder ein Kronzeuge glaubhaft war. Deshalb sei nicht davon
       auszugehen, dass diese Richter*innen im jetzigen Prozess
       unvoreingenommen seien. Laut der Verteidigung wurde der Befangenheitsantrag
       aber bereits am Sonntag abgelehnt, „weshalb diese Frage später von höheren
       Gerichten geprüft werden muss“.
       
       Johann G. und die Mitbeschuldigten schweigen bisher, ob sie etwas mit den
       angeklagten Taten zu tun haben. Auch Thomas J. und Tobias E., durften bei
       den Haftbesuchen der taz, nichts zu Verfahrensinhalten sagen – LKA-Beamte
       wachten darüber. Thomas J., mit 48 Jahren der älteste Beschuldigte,
       [11][erinnerte aber im Gespräch daran, dass der Eisenacher Neonazi Leon
       Ringl mit seiner Kampfsportgruppe jahrelang Menschen verprügelte] und in
       seiner Stadt einen „Nazi-Kiez“ errichten wollte. Antifa-Gruppen hätten früh
       darauf aufmerksam gemacht, lange ohne dass die Polizei eingeschritten sei.
       „Das war nicht irgendwer“, sagte Thomas J. im Besucherraum der Berliner JVA
       Moabit. „Wie weit sollte das noch gehen?“
       
       Auch im ersten Dresdner Prozess, 2021, schwiegen Lina E. und die anderen
       Beschuldigten. In einer Erklärung aber betonten auch sie damals: Man müsse
       „über die gesellschaftliche Realität rechter Gewalt sprechen, die
       antifaschistisches Engagement notwendig macht“. Rechter Terror,
       AfD-Wahlerfolge, rechtsoffene Coronaproteste, Neonazi-Übergriffe – dagegen
       hätten „alle Formen antifaschistischer Arbeit ihre Berechtigung“. Es sei
       „nicht hinnehmbar, aus Mangel an eigener Betroffenheit wegzuschauen“.
       
       Für die Sicherheitsbehörden aber ist gerade Johann G. ein linker
       Gewalttäter, den sie lange hinter Gittern sehen wollen. Schon vor Jahren
       stuften sie ihn als Gefährder ein, dem schwerste Straftaten zugetraut
       werden. In der Anklage der Bundesanwaltschaft heißt es, seiner Gruppe sei
       es mit den Angriffen darum gegangen, Rechtsextreme „nachhaltig“ in ihren
       Aktivitäten zu stoppen und andere Szeneangehörige durch die Signalwirkung
       abzuschrecken.
       
       Der Weg von Johann G. in die Antifa begann früh. Aufgewachsen in Leipzig
       trennten sich die Eltern in seiner Kindheit. Als 11-Jähriger zog er mit
       seiner Mutter nach Bayern, machte dort sein Abitur mit einem
       3,5-Notenschnitt. Und fiel schon zu Schulzeiten als Sprayer und bei der
       Antifa auf – und mit Straftaten. Bereits 2009, als 15-Jähriger, erhält er
       wegen Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch zwei richterliche Weisungen.
       Es folgen weitere Prozesse und eine erste Woche Jugendarrest, dann eine
       dreijährige Bewährungsstrafe. 2012 attestiert ihm ein Gericht eine
       „verantwortungslos dahintreibende Lebensweise“ und einen „eventorientierten
       Krawalltourismus“.
       
       Als Johann G. nach dem Abitur zurück nach Leipzig geht, für ein Jahr
       Bundesfreiwilligendienst und ein Geschichtsstudium, geht es so weiter. 2015
       wird er wieder verurteilt, erst zu einer Geldstrafe für eine
       Sachbeschädigung, dann weil er mit anderen drei Teilnehmende eines
       Legida-Aufmarschs angriff, eine Frau beschimpfte er dabei als
       „Nazischlampe“. Auch weil er da noch unter Bewährung stand, muss er nun für
       gut ein Jahr in Haft. Die frühere Prognose, dass sich Johann G. zu
       „ernsthafter, gewaltfreier politischer Betätigung gewendet“ habe, habe sich
       nicht bestätigt, halten die Richter fest. G. sitzt die Haftstrafe komplett
       ab.
       
       ## Johann G. taucht ab
       
       Noch zuvor aber lernt Johann G. in Leipzig Lina E. kennen, Anfang 2016
       verloben sie sich. Und seine politische Haltung tätowiert sich Johann G.
       auf die Haut. „Hate cops“ steht nun auf seinen Fingern. Im April 2018 folgt
       dann die nächste Verurteilung zu einer Haftstrafe – wegen Steinwürfen auf
       einer Autonomen-Demonstration in Leipzig.
       
       Vor Gericht bestreitet Johann G. die Vorwürfe und beteuert, die gefundene
       DNA an den Steinen komme daher, dass er erkältet darauf genießt habe. Das
       Gericht glaubt ihm nicht und schickt ihn diesmal für ein Jahr und drei
       Monate in Haft. In seinem Leben habe sich „offenbar nicht wirklich
       Grundlegendes geändert“, monieren die Richter erneut. Sein Studium verfolge
       er „allenfalls halbherzig“, sein Weg bleibe „recht ziellos und unbestimmt“.
       
       Es ist ein halbes Jahr nach dieser Verurteilung, als im Oktober 2018 die
       erste Tat verübt wird, die nun vor dem Oberlandesgericht Dresden angeklagt
       ist. Ein Angriff auf einen früheren NPD-Politiker in Wurzen. der vor seinem
       Wohnhaus niedergeschlagen wird. Johann G. wird eine Mitwirkung daran nicht
       vorgeworfen, aber einer Mitangeklagten, die den Rechtsextremen ausgespäht
       haben soll. An allen acht folgenden Taten aber soll Johann G. dann laut
       Anklage beteiligt gewesen sein – entweder indem er selbst zuschlug,
       Rechtsextreme ausspähte oder, im Fall des Dortmunder Thor
       Steinar-Geschäfts, ein Video der Tat ins Internet gestellt habe.
       
       In dem Video ist zu sehen, wie ein Vermummter eine Glasflasche mit einer
       Flüssigkeit, offenbar Buttersäure, in den Laden wirft, ein zweiter mit
       einem Feuerlöscher Bitumen auf die Verkaufsflächen versprüht. Eine
       Verkäuferin kreischt vor Schreck. „Scheiß Nazischweine“, ruft einer der
       Vermummten, bevor er nach wenigen Sekunden aus dem Geschäft rennt. Das
       Video wurde später auf der linken Onlineplattform Indymedia veröffentlicht,
       verbunden mit dem Aufruf zu Spenden via Bitcoins – für weitere „offensive
       Projekte“.
       
       Im Dezember 2019, nach dem sechsten Angriff, einer Attacke auf den
       Eisenacher Leon Ringl, wird schließlich [12][Lina E. mit einem weiteren
       Leipziger Linken in einem Fluchtauto gefasst], dem VW Golf ihrer Mutter.
       Auch ein zweites Auto mit mehreren Antifas stoppt die Polizei. Es ist
       dieser Moment, ab dem die Polizei nun konkrete Verdächtige hat – und ab dem
       die „Soko Linx“ die linke Szene Leipzigs mit Razzien durchzieht. Und der
       Moment, nach dem sich Johann G. kurz darauf absetzt.
       
       Über die Schweiz soll er zunächst nach Thailand gereist sein. Einige Monate
       später soll Johann G. wieder nach Deutschland zurückgekehrt sein, sich auch
       in Leipzig und am Ende in Berlin aufgehalten haben, zwischenzeitlich in
       Griechenland. Trotz der Fahndung soll Johann G. im Frühjahr 2023 noch an
       Angriffen auf zwei Rechtsextreme in Erfurt und bei denen in Budapest dabei
       gewesen sein. Auch danach taucht noch in Leipzig ein Graffiti auf, „Catch
       me if you can“ oder „Most wanted“, dazu der Name „Spyle“. Es ist der
       Sprayername von Johann G.
       
       Noch zu Anfang seines Abtauchens soll Johann G. auch Kontakt zu Lina E.
       gehalten, ihr Briefe ins Gefängnis geschickt haben, mit verfälschtem
       Absender. Dann aber trennte er sich – und kam offenbar mit einer anderen
       Szenebekannten zusammen, der ebenfalls vorgeworfen wird, in Budapest dabei
       gewesen zu sein. Und dann, im November 2024, wird G. tatsächlich gefasst.
       
       Die Frage vor dem Oberlandesgericht Dresden lautet nun: Waren Johann G. und
       die Mitbeschuldigten tatsächlich an all den angeklagten Taten beteiligt?
       Gab es dafür wirklich eine feste Gruppe? Oder noch ganz andere
       Verantwortliche? Und waren zwei der Angriffe wirklich versuchte Morde?
       
       Die Anklage stützt sich im Fall von Johann G. bei ihrer Anklage auf
       Aufnahmen von Überwachungskameras in Budapest, auf Bilder aus einer
       Regionalbahn bei Wurzen oder auf Handyvideos von Passanten in Erfurt. Am
       Tatort in Eisenach fand sich auch Blut von ihm, er wurde in der Nähe auf
       einem Blitzerfoto abgelichtet. Auch an einem anderen Tatort, am Bahnhof
       Dessau-Roßlau, sollen DNA-Spuren von G. gefunden worden sein. Bei den
       anderen Taten sind es Indizien, welche die Bundesanwaltschaft
       zusammenführt: mehrdeutige Sätze aus abgehörten Gesprächen, verdächtige
       Messengernachrichten, oder eine gefundene Dachbox auf dem Dachboden eines
       Leipziger Mietshauses, in dem Schlagstöcke, Sturmhauben, Polizei-Patches
       oder Hämmer verstaut waren, samt DNA-Spuren von einigen Beschuldigten –
       laut Ermittlern das „Tatmitteldepot“ der Gruppe.
       
       Vor allem aber sind es die Aussagen eines Kronzeugen, auf denen die
       Bundesanwaltschaft ihre Anklage stützt: die von Johannes D. Der 33-jährige
       Szenefreund kannte Johann G. schon aus Bayern, hielt zu ihm anfangs auch
       noch Kontakt, als er in Thailand war. Im Herbst 2021dann aber wurde
       Johannes D. als „Vergewaltiger“ in der linken Szene geoutet und verstoßen.
       Darauf packte er bei Ermittlern über die Leipziger Gruppe aus, nannte
       Namen, wer angeblich dazu gehörte und wer bei Aktionen dabei war. Ziel der
       Gruppe, so der Berliner, sei es gewesen, die Neonazis„psychisch zu
       brechen“.
       
       Und er beschuldigte Lina E. und Johann G. schwer: Sie hätten die Gruppe
       zusammengehalten, Trainings und Leute für Angriffe organisiert.Aus einem
       „flexiblen Geflecht“ von Autonomen aus mehreren Städten hätten sich dabei
       bedient. Das Paar sei „ebenbürtig“ gewesen: Lina E. „ruhig, fokussiert,
       überlegter“.Johann G. impulsiv, aber mit „Führungsgeschick“, und einer, der
       auch Equipment oder Bahntickets Erster Klasse besorgen konnte – „gecarded“,
       bezahlt mit geklauten oder gefälschten Kreditkartendaten.
       
       Es sind die Aussagen von Johannes D., derentwegen nun einige Angeklagte
       überhaupt vor Gericht stehen. Thomas J. aus Berlin etwa, von dem D. den
       Ermittlern erzählte, dieser sei bei einem der zwei Angriffe in Eisenach
       dabei gewesen und habe zwei Kampftrainings für die Gruppe angeleitet. Zu
       Tobias E. erzählte D., dass auch dieser in Eisenach und in Dessau-Roßlau
       dabei war. Genau das wirft nun die Anklage den beiden Linken vor. Im Fall
       von Tobias E. beruft sich die Bundesanwaltschaft dabei aber auch auf
       DNA-Spuren von ihm in Dessau-Roßlau, an einer Plastiktüte, in die ein
       Schlagwerkzeug gewickelt war. Zudem wurde Tobias E. in Budapest noch vor
       Ort festgenommen und saß dafür fast zwei Jahre in Ungarn in Haft.
       
       Schon im ersten Prozess gegen Lina E. sagte Johannes D. ganze zwölf
       Prozesstage lang aus. Verteidiger*innen warfen ihm damals reine
       Spekulationen vor: Er reime sich vieles zusammen, denn schließlich sei er –
       außer einmal fernab als Späher – auch nach eigener Auskunft bei keiner der
       vorgeworfenen Taten selbst dabei gewesen. Zudem habe er den Ermittlern
       Informationen liefern müssen, um selbst einen Strafrabatt zu erhalten – den
       er am Ende mit einer Bewährungsstrafe auch bekam. Die Richter im Lina
       E.-Prozess aber glaubten Johannes D.: Dieser habe sachlich, detailliert und
       im Einklang mit den Ermittlungsergebnissen berichtet.D. lebt nun in einem
       Zeugenschutzprogramm. Nun im zweiten Dresden-Prozess wird er erneut als
       Kronzeuge aussagen.
       
       Und die Anklage stützt sich auch auf ein umstrittenes 3D-Modell des
       sächsischen Forensikers Dirk Labudde. Dieser ließ Johann G. mit Lasern
       vermessen, erstellte ein 3D-Modell von ihm. Dann glich er dieses mit
       Überwachungsvideos aus Budapest ab. Das Ergebnis: Ein Vermummter passe zur
       Statur von Johann G. Auch bei den Videos des Angriffs in Erfurt errechnete
       Labudde die Körpergrößen und fand, dass eine Person mit weißer Sturmhaube
       zu Johann G. passe. Zu sehen sind auf dem Video drei Vermummte, die vor
       einem Wohnhausblock auf einen am Boden Liegenden einprügeln. Auf einem
       zweiten Video rennen dann sechs Vermummte davon. „Scheiß Nazis sind das“,
       ruft einer.
       
       Das 3D-Verfahren wurde zuletzt bereits in einem Prozess gegen eine weitere
       Linke verwendet: [13][die Kunststudentin Hanna S. in München]. Auch ihr
       wurde vorgeworfen, bei zwei der Angriffe in Budapest dabei gewesen zu sein.
       Ihre Verteidiger kritisierten die 3D-Methode als unbrauchbar, weil zu
       ungenau. Eine Identifizierung einer Person sei damit nicht möglich. Auch
       das Gericht stützte sein Urteil letztlich nicht auf das Modell, sondern
       berief sich auf andere Indizien – erklärte aber, das Modellergebnis
       widerspreche jedenfalls auch nicht dem Tatvorwurf. Hanna S. wurde letztlich
       zu fünf Jahren Haft verurteilt. Es gebe keine gute politische Gewalt,
       erklärte das Gericht – so wie es auch die Richter beim Urteil gegen Lina E.
       taten.
       
       ## Der Mord-Vorwurf wird zurückgewiesen
       
       Zumindest einen Vorwurf aber wies das Münchner Gericht zurück: Dass die
       Angriffe in Budapest versuchte Morde waren. Zwar seien die Opfer schwer
       verletzt worden, aber ihren Tod hätten die Angreifer zu keiner Zeit in Kauf
       genommen. Und auch im Prozess gegen Lina E. und die anderen erfolgten die
       Verurteilungen wegen gefährlicher Körperverletzungen. Die
       Bundesanwaltschaft erhebt nun den Vorwurf des versuchten Mordes aber nicht
       nur in Dresden, sondern auch in einem weiteren Großprozess gegen sechs
       Antifaschistinnen, der im Januar in Düsseldorf beginnt, auch wegen der
       Angriffe in Budapest. Eine weitere Person steht dafür derzeit in Ungarn vor
       Gericht: [14][die nonbinäre Thüringer*in Maja T., der 24 Jahre Haft
       drohen].
       
       In der linken Szene läuft deshalb bereits seit Monaten Solidaritätsarbeit
       für die Beschuldigten. Auch am Dienstag soll es vor dem Dresdner Gericht
       eine Kundgebung geben. Die „Rote Hilfe“ sieht die „nächste Runde der
       Rachejustiz“. Eher intern läuft aber auch eine kontroverse Debatte über die
       militanten Angriffe, gibt es Vorwürfe, die Gruppe um Johann G. seien
       „Antifa-Macker“. Schon im Frühjahr 2023 erklärte die Leipziger Gruppe
       kappa, man müsse über die „Sinnhaftigkeit mancher militanten Praxis“ reden.
       „Militante Aktionsformen sollten nicht vorschnell verworfen werden, jedoch
       auch nicht zum Selbstzweck verkommen.“ Es brauche eine gesellschaftliche
       Einbettung, sonst drohe ein „Gewaltfetisch“. Und erst kürzlich schrieben
       Soli-Gruppen für die Dresdner Angeklagten über „Herausforderungen und
       Widersprüche“ ihrer Arbeit. Die Verhältnisse forderten „antifaschistische
       Selbstverteidigung“, zugleich aber müsse man „patriarchales und misogynes
       Verhalten“ einiger Beschuldigter ansprechen – Namen wurden nicht genannt.
       Auch finde in Teilen der Szene „eine Glorifizierung bestimmter
       Aktionsformen statt“ – mit der Gefahr, „Kritik zu immunisieren und
       patriarchale Strukturen zu reproduzieren“. Trotz der Widersprüche bleibe
       man aber „vereint gegen Repression“.
       
       Die Beschuldigten oder ihre Verteidiger*innen äußerten sich zu der
       Kritik bisher nicht. Sie kritisierten dafür am Montag, dass das Dresdner
       Verfahren das rechte Narrativ bediene, Antifaschismus zum Feindbild zu
       erklären und mit Terrorismus gleichzusetzen. Ein Auswuchs davon sei auch
       die Einstufung der Gruppe als terroristische Vereinigung durch die USA und
       Ungarn. „Antifaschismus ist kein Feindbild“, so die Anwält*innen. „Er
       sollte in einer demokratischen, den Menschenrechten verpflichtenden
       Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit sein.“
       
       Auf die Terroreinstufung hatten deutsche Behörden überrascht reagiert. Die
       USA hätten dies „eigenständig entschieden“, erklärte das Auswärtige Amt.
       Die Trump-Regierung ließ auf Nachfrage offen, welche konkreten Personen
       dies betrifft und erklärte nur, dass Mitgliedern nun der Zugang zum
       US-Finanzsystem versagt sei. US-Bezüge der „Antifa Ost“ gibt es aber gar
       nicht. Der Schritt bleibt damit vorerst Symbolpolitik. Schon jetzt aber
       sind US-Einreisen schwierig bis unmöglich bei extremistischen Vorstrafen.
       
       Für Johann G. und die anderen Angeklagten in Dresden geht es vorerst aber
       darum, ob und wie lange sie jetzt in Haft wandern – oder bleiben. Vor allem
       für Johann G. stehen dabei sehr viele Jahre im Raum. Die
       Sicherheitsbehörden feiern schon jetzt einen Erfolg: Denn seit den
       Festnahmen hat die Angriffsserie auf Rechtsextreme in Ostdeutschland
       vorerst geendet. Das Bundesinnenministerium betont, dass sich das
       Gefährdungspotential der „Antifa Ost“ damit „zuletzt erheblich verringert
       habe“. Was sich nicht verringert hat, ist die rechtsextreme Bedrohungslage:
       Die Gewalttaten der rechten Szene lagen im vergangenen Jahr auf einem
       Rekordhoch.
       
       24 Nov 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /BKA-fahndet-nach-abgetauchtem-Autonomen/!5962795
   DIR [2] /Fahndung-gegen-Linksaussen/!5985352
   DIR [3] /BKA-fahndet-nach-abgetauchtem-Autonomen/!5962795
   DIR [4] /Leipziger-vier-Jahre-auf-der-Flucht/!6047784
   DIR [5] /Wegen-Angriffen-auf-Rechtsextreme/!6092526
   DIR [6] /Urteil-gegen-Knockout51/!6021205
   DIR [7] /Anklagewelle-gegen-Antifa/!6090027
   DIR [8] /Linken-droht-Auslieferung-nach-Ungarn/!6073407
   DIR [9] /Urteile-im-Linksextremismus-Prozess/!5934710
   DIR [10] /Terrororganisationen-in-den-USA/!6129777
   DIR [11] /Anklagewelle-gegen-Antifa/!6090027
   DIR [12] /Prozess-gegen-Lina-E/!5934474
   DIR [13] /Angriffe-in-Budapest/!6103784
   DIR [14] /taz-besucht-Maja-T-exklusiv-in-Haft/!6101642
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Konrad Litschko
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Antifa
   DIR Linksextremismus
   DIR Rechte Gewalt
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR GNS
   DIR Reden wir darüber
   DIR Antifa Ost
   DIR Johann G.
   DIR Antifa Ost
   DIR Schwerpunkt Antifa
   DIR Social-Auswahl
   DIR Linksextremismus
   DIR Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)
   DIR Maja T. 
   DIR Ungarn
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Aktivistinnen zu US-Terrorvorwurf: „Die Antifa Ost gibt es gar nicht“
       
       Die USA haben die Antifa-Ost als Terrorgruppe eingestuft. In Deutschland
       gehe die Entwicklung in die gleiche Richtung, klagen zwei
       Unterstützerinnen.
       
   DIR Beschuldigter Linker Johann G.: JVA beschlagnahmt „Nova“-Shirt von Antifa-Inhaftiertem
       
       Der Antifaschist Johann G. solidarisierte sich in seinem Prozess mit einem
       Shirt mit dem israelischen „Nova“-Festival – nun beschlagnahmte es die JVA.
       
   DIR Linksextreme vor Gericht: „Antifaschismus ist notwendig“
       
       Im Antifa-Prozess in Dresden äußern sich Beschuldigte zur Anklage. Zu
       konkreten Vorwürfen schweigen sie – aber die Anklage kritisieren sie
       deutlich.
       
   DIR Auftakt im Antifa-Prozess in Dresden: Im Gerichtssaal gibt es Applaus für die Angeklagten
       
       Die Bundesanwaltschaft wirft sieben Antifas eine brutale Angriffsserie auf
       Neonazis vor. Unterstützer*innen fordern die Freiheit der Angeklagten.
       
   DIR 14 Jahre NSU-Prozess: Die letzte Angeklagte
       
       Sie war Beate Zschäpes engste Freundin, half ihr im Untergrund mit
       Tarnnamen. 14 Jahre später startet am Donnerstag der Prozess gegen Susann
       Eminger.
       
   DIR taz besucht Maja T. exklusiv in Haft: „Ich werde vorverurteilt“
       
       Seit über einem Jahr sitzt Maja T., Antifaschist*in aus Thüringen, in
       ungarischer Haft. Es drohen 24 Jahre Gefängnis. Wie geht es Maja T.?
       
   DIR Angriffe in Budapest: Mit welchen Mitteln gegen den Faschismus?
       
       Die Studentin Hanna S. steht wegen versuchten Mordes an Neonazis vor
       Gericht. Statt eines Kunstpreises droht ihr nun eine lange Haftstrafe.