# taz.de -- Essay über Moral in der Politik: Nützliche Moralkeule
> Rückgrat zeigen: Anne Rabe dekliniert in ihrem Essay „Das M-Wort“ durch,
> wie der gesellschaftliche Rechtsruck gestoppt werden kann.
IMG Bild: Das Telux-Gelände in Weißwasser
Zum Beispiel Waldheim. Eine Mittelstadt in Sachsen, 9.000 Einwohner. Hier
finden auch im Jahre 2024 noch jeden Montag sogenannte Spaziergänge
vermeintlich besorgter Bürger:innen statt, die „ihrem Frust“ auf „die da
oben“ Luft machen. Zu den Spaziergängen rufen AfD und die ebenfalls
rechtsextremen Freien Sachsen auf. Die Stadt schaut weg, einer Anmeldung
bedarf es nicht, denn offiziell gelten die Spaziergänge nicht als Demos.
Bis sich die „Bunten Perlen Waldheim“ gründen, eine Initiative engagierter
Bürger:innen. Sie zwingen die Stadt sich mit den Aufmärschen
auseinanderzusetzen, diese müssen genehmigt werden, genau wie die
regelmäßigen Gegenproteste. Mittlerweile finden die rechtsextremen Demos
nicht mehr statt.
Ein kleiner Sieg der demokratischen Zivilgesellschaft, erkämpft in einer
Region, wo die AfD bei der Bundestagswahl über 40 Prozent der Erst- und
Zweitstimmen erhielt. Es sind solche plastischen und Mut machenden
Beispiele, die die Schriftstellerin Anne Rabe anführt, wenn sie sich in
ihrem jüngsten Buch das „Das M-Wort. Gegen die Verachtung der Moral“ mit
dem gesellschaftlichen Rechtsruck und der Frage, was man dagegen tun kann,
auseinandersetzt.
Rabe, Jahrgang 1986, ist in der ostdeutschen Provinz aufgewachsen, sie
erlebt als Kind und als Jugendliche die Baseballschlägerjahre mit und den
Versuch rechtsextremer Gruppen, „national befreite Zonen“ zu etablieren.
Die innerfamiliären und gesellschaftlichen Gewalterfahren der gerade
wiedervereinigten DDR-Bürger:innen verarbeitete sie in ihrem breit
gelesenen und viel diskutierten Roman „Die Möglichkeit von Glück“.
In ihrem zweiten Buch setzt sich die Bestsellerautorin erneut mit
autoritären gesellschaftlichen Mustern und Tendenzen auseinander, diesmal
in Form eines Essays. Im Titel „M-Wort“, angelehnt an den Neologismus
„N-Wort“, die rassistische Bezeichnung für schwarze Menschen, steckt
Provokation und pessimistisches Zwischenfazit zugleich.
Moral ist Rabe zufolge zum Unwort verkommen: Wer moralisch handelt und
argumentiert, wird entweder als ideologisch oder realitätsfern
wahrgenommen. Dieser behauptete Realismus dient Rabe zufolge jedoch
entweder der Verteidigung eigener Privilegien oder Politiker:innen als
Ausrede, um es sich leichter zu machen. Werte wie Gleichheit, Rücksicht und
Menschenwürde sind ja schön und gut – aber eben nicht in Einklang zu
bringen etwa mit einer „realistischen“ Migrationspolitik oder einer soliden
Personalpolitik, die auf Bestenauswahl setzt.
Gegen die vor allem in rechtskonservativen Kreisen beliebte Erzählung, dass
die falsche Rücksichtnahme auf Gleichberechtigung und die Rechte von
Minderheiten Wut und Ablehnung provoziere und damit erst den Weg für die
Autoritären geebnet habe, setzt Rabe die Gegenthese: Fehlendes moralisches
Rückgrat der demokratischen Kräfte erleichtert den autoritären und
rückwärtsgewandten Akteuren den Durchmarsch.
Rabe dekliniert das an verschiedenen Politikfeldern durch – in der
Migrationspolitik, in der Geschlechterpolitik, im Umgang mit Armut oder mit
dem Klimawandel. Entstanden in der Zeit zwischen der Wiederwahl Donald
Trumps Ende 2024 bis zu den ersten Regierungswochen der schwarz-roten
Koalition im Frühjahr 2025, schreibt Rabe auch unter dem Eindruck der
jeweiligen politischen Tagesereignisse.
Der Versuch, aus aktuellen Ereignissen gesellschaftliche Trends abzuleiten
und auf die deutsche Politik zu übertragen, gelingt nicht immer. Den
zweifellos beklemmenden Prozess um die Peiniger und den Ehemann von Gisèle
Pelicot mit dem überwiegend männlich geprägten Kreis um den deutschen
Kanzler Friedrich Merz zu verknüpfen, ist eine Umdrehung zu viel. Merz’
Männermanschaft zeugt wohl eher vom konservativen Weltbild eines
70-Jährigen als von toxischer Männlichkeit.
Doch über weite Strecken gelingt es Rabe sehr gut, das Große im Kleinen
nachzuvollziehen und die rechte Erzählung zu dekonstruieren. Besonders
eindrücklich sind ihre Schilderungen aus dem ländlichen Raum in
Ostdeutschland.
Etwa aus dem sächsischen Weißwasser, wo der Stadtrat mit einer Mehrheit aus
AfD, freien Wahlbündnissen und einem SPD-Abgeordneten die Finanzierung des
soziokulturellen Zentrums Telux aussetzt, und zwar mit dem
„realpolitischen“ Argument der knappen Haushaltslage und selbst gegen
Einwände lokaler Gastronomen, die eine weitere Verödung der Innenstadt
befürchten.
Analog zu den USA, wo die politische Rechte unter Führung der
Trump-Regierung aggressiv gegen alles, was in ihren Augen zu links und zu
woke ist, vorgeht, indem sie Kritiker:innen entlässt oder verklagt,
Universitäten Gelder entzieht und Diversitätsprogramme einstellt, tobt
dieser Kulturkampf auch in Deutschland. Oft nutze die AfD die knappe
Haushaltslage, um unliebsamen Akteuren den Stecker zu ziehen, nicht selten
unterstützt von Teilen der CDU.
Rabes Buch ist ein leidenschaftliches Plädoyer, sich dieser Erzählung nicht
zu ergeben, ihr zu widersprechen und die Moral selbstbewusst in den
Mittelpunkt des eigenen Handelns zu stellen. Ein Fundus an klugen Ideen und
Argumenten, eine praktische und wichtige Moralkeule im aktuellen Diskurs.
28 Nov 2025
## AUTOREN
DIR Anna Lehmann
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