# taz.de -- Neuer Roman von Nina George: Flucht aus einem Frauenleben
> Nina Georges Roman „Die Passantin“ ist ein hartes Buch, voller Wut über
> patriarchale Gewalt. Die Autorin beherrscht ihre Geschichte souverän.
IMG Bild: Nina George auf der Frankfurter Buchmesse 2025
Nach einem Dreh in Barcelona beschließt die gefeierte französische Filmdiva
Jeanne Patou, ihr Leben zu beenden. Oder vielmehr, daraus zu verschwinden.
Erst ist da nur ein plötzlicher Impuls: „Ich kann nicht. Ich will nicht.
Ich will das nicht. Alles will ich nicht.“
Spontan schlüpft sie durch die Lücke zwischen zwei Baustellenplanen am Rand
des Rollfelds. Da ist eine Tür zur Ankunftshalle. Und schließlich sitzt
Jeanne Patou bei einem Glas Rotwein in der Markthalle La Boquería und
erfährt, dass der [1][Germanwings-Flug 4U9525] in den südfranzösischen
Alpen abgestürzt ist, mitsamt 144 Passagieren. Die Gelegenheit ist perfekt.
„Die Passantin“ erzählt von einer verzweifelten Flucht aus einem
Frauenleben, das hinter der Fassade aus Ruhm, Erfolg und Wohlstand einem
SM-Studio gleicht: Ehemann Bernard kontrolliert Jeanne Patou. Er hat sie
zur Filmdiva geformt, ihr die Rolle ihres Lebens auf den Leib geschrieben.
Und diesen Leib kommentiert und verletzt er, wie es ihm beliebt.
## Innerlich aufgegeben
Der glanzvollen Preisverleihung vor Publikum folgt zu Hause prompt die
verbale Abwertung ihres „nuttenroten Fickmauls“ (falscher Lippenstift) oder
ihrer Brüste, an Sonntagen gibt es Milchkaffee mit Zimt ans Bett – und
hinterher Analsex. Und nach jeder Premiere, jedem Takshowauftritt filmt er
sie heimlich beim Geschlechtsakt und verhökert die Filmchen im Internet.
Als sie davon erfährt, hat sich Jeanne Patou innerlich bereits aufgegeben.
Sie ist ganz auf ihn ausgerichtet – eine „Satellitenantenne, die in Zeit
und Raum hineinlauschte“. Immer bereit, etwas zu tun oder zu lassen, damit
es ihm gut ging.
Erst der offizielle Tod bietet der Frau, die nicht mehr Jeanne Patou sein
will, die Chance, sich neu zu erfinden. Wenn sie es noch kann. Durch diesen
schmerzhaften Selbstfindungsprozess voller unerwarteter Wendungen nimmt der
Roman die Leserin mit; quer durch die [2][Altstadt von Barcelona,] in der
sich die Polizei für eine Schlacht mit katalanischen Separatisten rüstet.
Und in ein Haus voller Frauen, die ebenfalls für die Welt verschwunden sind
und die für die Protagonistin zur Ersatzfamilie werden: die von einem
Fleischerhaken in der Schulter vernarbte ehemalige Metzgersgattin Lisann,
die Blumenhändlerin Leyla, die ihr Mann in der Kloschüssel ertränken
wollte, die Kellnerin Rachel, die schon mit elf vom Bruder „vermietet“
wurde. Und Tania, die früher Tananos hieß – alle werden sie von der
ehemaligen Nonne Dona Marca unter einem digitalen Schutzschild versteckt:
Fingierte Tode, falsche Berufe, neue Identitäten.
## Den größtmöglichen Fehler begehen
In der Polizistin Nina findet die Frau, die einmal Jeanne war, schließlich
eine Verbündete, die bereit ist, mit ihr den größtmöglichen Fehler zu
begehen: ihrem ehemaligen Leben zu nahe zu kommen.
Nina George hat keine Erzählung einer zaghaften Selbstfindung geschrieben,
sondern einen fulminanten, energiesprühenden Roman, der zwischen rasanten
Plotwendungen immer auch poetische Momente einstreut. Es ist auch ein
hartes Buch, in dem viel Wut über das [3][Verhältnis der Geschlechter]
durchscheint, über patriarchale Gewalt.
Mitunter malt George die männliche Brutalität mit allzu dickem Pinsel aus,
das fragile Innenleben ihrer Protagonistin droht mitunter von einer Fülle
von Scheußlichkeiten an die Wand gespielt zu werden. Das gilt besonders für
den Moment, in dem die Frauen des Hauses Gelegenheit bekommen, sich an
einem Vergewaltiger zu rächen; hier steht das Buch auf der Kippe zum
feministischen Rache-Splatter.
## Die Komfortzone verlassen
Doch George überspringt diesen Abgrund erstaunlich leichtfüßig und leitet
den Plot einem raffinierten Ende entgegen. Die Souveränität, mit der sie
ihre zwischen mehreren Zeitebenen und Figurenperspektiven wechselnde
Geschichte beherrscht, beeindruckt – umso mehr, wenn man weiß, dass Nina
George mit Bestsellern wie „Das Lavendelzimmer“ oder „Das Bücherschiff“
bisher eher im schlichteren Fach unterwegs war.
Diese Komfortzone hat sie nun mit dem Wechsel zu dem kleinen Schweizer
Verlag „Kein und Aber“ verlassen. Mit „Die Passantin“ beweist sie, dass
ihre Erzählkunst auch dort trägt, wo es nicht nach Mittelmeer riecht,
sondern nach Blut und Tränen.
29 Oct 2025
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## AUTOREN
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