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       # taz.de -- Depressionen im Alter: Den Blick nach vorne richten
       
       > Seelisches Leid findet oft im Verborgenen statt, insbesondere im Alter.
       > Wie das Älterwerden die Psyche verändert und was den Betroffenen geholfen
       > hat.
       
   IMG Bild: „Ich bin kein ängstlicher Typ“, sagt Margarete Nienaber über sich. Doch wenn sie in einer depressiven Phase sei, ändere sich das
       
       taz | Zwei- bis dreimal die Woche packt Margarete Nienaber Badeanzug,
       Schwimmbrille und Handtuch in ihre Tasche und setzt sich in die
       Straßenbahn. Im Sommer steuert sie das Freibad an, „bei Wind und Wetter“,
       wie die 76-Jährige sagt. Jetzt, im Herbst, fährt sie wieder ins Hallenbad.
       
       Nienaber braucht das Schwimmen. Weil sie fit bleiben will. Aber auch, weil
       die Depression in den Hintergrund rückt, wenn sie ihre Bahnen zieht und das
       kalte Wasser auf der Haut spürt. „Wenn ich schwimmen gehe, weiß ich, dass
       es mir danach besser geht, dass ich wenigstens das geschafft habe“, sagt
       sie, als sie an einem Donnerstagnachmittag in einem Frankfurter Bistro
       sitzt.
       
       Vor sechs Jahren zog die ehemalige Englisch- und Politiklehrerin in die
       hessische Großstadt. Um ihre Tochter mit den Kindern zu unterstützen und
       weil sie auch ein bisschen Lust auf Veränderung hatte. Nienaber kommt aus
       Nienburg an der Weser, einer Kleinstadt in Niedersachsen. Wenn sie von
       ihrer Heimat erzählt, spricht sie aber nur vom „Norden“, wo alles ein
       bisschen ruhiger zugeht und wohin sie sich ab und zu zurücksehnt, wenn
       Frankfurt ihr zu viel wird.
       
       ## „Man geht sich auf die Nerven“
       
       Bis vor wenigen Tagen noch war Nienaber mit einer Freundin auf der
       Nordseeinsel Borkum unterwegs. Ein Urlaub, den die beiden Frauen regelmäßig
       zusammen machen. „Da geht man sich natürlich auch mal auf die Nerven“,
       erzählt Nienaber und lacht. „Aber wir kennen uns seit 50 Jahren“, da sei
       das kein Problem.
       
       Den Umzug in die Großstadt hat Nienaber mehr oder weniger allein gestemmt.
       Transporter organisiert, Kisten rein und los. 400 Kilometer Richtung Süden,
       mit 69 Jahren. „Ich bin kein ängstlicher Typ“, sagt sie. „Ich habe nicht
       einmal Höhenangst.“ Doch wenn sie in einer depressiven Phase sei, dann habe
       sie vor allem Angst, vor dem Tag, der vor ihr liege, vor dem ganzen Leben.
       
       Seitdem sie 18 ist, lebt Nienaber mit Depressionen, schon ihre Mutter war
       daran erkrankt. Das Alter empfindet die Seniorin als einen Verstärker ihrer
       Depressionen. Vor allem durch die Einsamkeit. Ihre Töchter und ihre Enkel
       seien inzwischen groß, da werde sie nicht mehr gebraucht. Freundinnen
       würden krank, gemeinsame Treffen immer seltener. Hinzu kommt das Gefühl, im
       Alter von der Gesellschaft übersehen zu werden. Das merke sie schon, wenn
       sie in Frankfurt über die Straßen laufe – dass die Menschen ihr keinen
       Platz machten.
       
       Und dann ist da noch der Faktor Zeit: „Manchmal denke ich, ich verliere so
       viele Tage und Wochen mit der Depression“, sagt Nienaber. „Und dieses
       Gefühl wird im Alter schlimmer, weil die Zeit, die mir bleibt, ja immer
       weniger wird.“
       
       ## Verstecktes seelisches Leid
       
       Nun kommen schwere Depressionen den meisten Studien zufolge im Alter nicht
       grundsätzlich öfter vor als in jüngeren Jahren. [1][Allerdings leiden
       Senior*innen zwei bis drei Mal so häufig an leichteren Depressionen]
       oder solchen, bei denen nicht alle Symptome vorliegen. Zudem steigt mit dem
       Alter das Risiko für einen Suizidversuch, dem häufig eine Depression
       vorausgeht. So war im Jahr 2023 ein Mensch, der sich in Deutschland das
       Leben genommen hat, im Schnitt [2][61,5 Jahre alt]. Besonders für Männer
       steigt das Risiko. Aber auch jede zweite durch Selbsttötung verstorbene
       Frau ist älter als 60, wie aus den [3][aktuellen Zahlen des Nationalen
       Suizidpräventionsprogramms (NASPRO)] hervorgeht.
       
       Seelisches Leid findet oft im Verborgenen statt, insbesondere im Alter.
       Doch woran liegt das? Was macht es mit der Psyche, wenn das Lebensende
       näher rückt? Wie kann älteren Menschen mit Depression geholfen werden? Und
       vor allem: Welche Rolle spielt dabei die Gesellschaft und ihr Umgang mit
       den Themen Alter und Tod?
       
       Margarete Nienaber ist ihr ganzes Leben lang offen mit den Depressionen
       umgegangen. Als sie einmal länger krankgeschrieben war, verfasste sie für
       ihre Lehrkolleg*innen einen Brief, in dem sie von ihren Depressionen
       erzählte. Und wies darauf hin, wie viele Menschen ihr Schicksal teilten.
       
       Inzwischen nimmt Nienaber eine gewisse Enttabuisierung von Depressionen
       wahr. Doch von einer wirklichen Anerkennung könne noch keine Rede sein. Das
       merke sie daran, dass um sie herum mit körperlich erkrankten
       Senior*innen anders umgegangen werde als mit psychisch Erkrankten. „Wenn
       es um eine Herzkrankheit geht, wird sich gekümmert“ sagt Nienaber. Geht es
       um Depressionen, beobachte sie häufig Verunsicherung, unpassende Ratschläge
       oder Schweigen – was sicher auch daran liege, dass man die Erkrankung
       Betroffenen nicht ansehe.
       
       Helmut Stein hat sich zur Aufgabe gemacht, dieses Schweigen zu bekämpfen,
       ein Vierteljahrhundert schon. Seitdem leitet der 82-Jährige eine
       Selbsthilfegruppe im Auftrag des Leipziger Bündnisses gegen Depression, zu
       dessen Gründungsmitgliedern er gehört. Das Angebot richtet sich an Menschen
       mit Depressionen, Ängsten und Schlafstörungen. Die meisten Mitglieder sind
       älter als 65.
       
       Stein, der seit seinem 59. Lebensjahr an Depressionen leidet, ist heute zu
       Fuß gekommen, seine Wohnung liegt nur ein paar Hundert Meter vom
       Seniorenbüro Südost entfernt. Eigentlich fahre er gerne Fahrrad, erzählt
       der ehemalige Pädagoge und Heilerziehungspfleger, als er im Seniorenbüro
       angekommen ist. Doch je älter er werde, desto weniger traue er sich. „Nicht
       nur der Körper, auch die Seele wird alt“, sagt er. Nur werde darüber
       bislang zu wenig gesprochen.
       
       ## Was bedeutet Älterwerden?
       
       Den wenigsten sei klar, was Älterwerden wirklich bedeute: das Gedächtnis
       lasse nach, eine Ruhelosigkeit breite sich aus, Unsicherheiten und Ängste
       nähmen zu. Das liege vor allem auch am körperlichen Abbau. „Wenn plötzlich
       alles nur noch in Zeitlupe geht, dann macht das was mit einem.“ In einer
       Viertelstunde geht das Treffen los. Der Gruppenleiter schiebt Tische
       zusammen, füllt eine Karaffe mit Wasser auf, holt Gläser aus der Küche. Ein
       festes Skript für die Gruppentreffen habe er nicht. Es gehe darum, dass
       jeder seine Probleme auf den Tisch packen könne, um im Austausch mit den
       anderen einen Umgang mit der Depression zu finden. Er sei wie „der
       Moderator im Fernsehen“, der dafür sorge, dass alle zu Wort kommen.
       
       „Wie geht es uns heute?“, fragt Stein in die Runde. Sechs
       Teilnehmer*innen sind an diesem Montag ins Seniorenbüro gekommen: zwei
       Männer, vier Frauen.
       
       Gudrun, gelbes T-Shirt, kurze Haare, fängt an. Ihre ersten beiden Jahre
       Rente habe sie genossen, erzählt die 69-Jährige, deren Name wie bei allen
       anderen Gruppenmitgliedern in diesem Text geändert wurde. Doch dann starb
       ihr Partner. Die Angst vor dem Alleinsein lähmte sie. Sie habe lange
       gebraucht, um sich bei Helmut Stein zu melden. Inzwischen sei sie froh,
       einen Ort zu haben, an dem sie sich mit Menschen in ihrem Alter über ihre
       Depression austauschen kann.
       
       Steins Blick wandert zu Karin, blauer Strickpulli, Rollator, ehemalige
       Handballerin. Viel erzählt die 84-Jährige heute nicht. Nur, dass sie sich
       so weit ganz gut fühle, aber auch ein bisschen allein.
       
       Ein Gefühl, das auch Hannelore kennt. Ihr Sohn habe sich eben bei ihr
       gemeldet, berichtet die 80-Jährige, die eine Föhnfrisur trägt und viele
       goldene Ringe an den Fingern. Er sei wieder gut in Deutschland angekommen
       nach dem Türkei-Urlaub. Tränen der Erleichterung laufen Hannelore übers
       Gesicht – und werden zu Tränen der Trauer. Sie erzählt von ihrem Mann, der
       vor zwei Jahren gestorben ist. Fast hätten sie 60 Jahre Ehe geschafft.
       Trotzdem: Mit ihrem Partner habe sie nie über ihre Depression sprechen
       können. „Der hat das nicht verstanden.
       
       ## Depressionen und Scham
       
       Der sagte immer nur, wir haben doch alles, wir können uns doch alles
       leisten.“ Also schloss sie sich der Gruppe von Helmut Stein an. Seit dem
       ersten Treffen der Gruppe ist Hannelore dabei. Andere Mitglieder hätten die
       Gruppe in der Zwischenzeit wieder verlassen, weil sie ihre Depression
       überwunden hätten, sagt Helmut Stein. „Veteranen“ nennt er sie. Andere
       seien ins Pflegeheim gezogen, manche auch gestorben.
       
       Wie Hannelore meldeten sich viele bei ihm, weil sie mit ihren Angehörigen
       nicht über ihre Depression sprechen könnten. Manche verheimlichten ihre
       Erkrankung über Jahre. Gerade Männern falle es schwer, sich zu öffnen. „Die
       ziehen sich eher zurück oder spielen nur Skat miteinander. Da spielt sicher
       auch ein gewisses Schamgefühl eine Rolle“, sagt Stein. Umso mehr Ermutigung
       brauchten die Männer, sich Hilfe zu holen.
       
       So wie Peter. Seine Frau habe die Selbsthilfegruppe vor drei Jahren für ihn
       ausfindig gemacht, erzählt der Senior mit Schnauzbart. Was ihm die
       regelmäßigen Treffen geben? „Ich bin hier unter Gleichgesinnten. Das heißt,
       ich werde nicht bedauert, so wie ich es oft bei Angehörigen erlebe. Das
       zieht mich meist nur noch mehr runter.“
       
       Dass das Älterwerden für die Psyche herausfordernd sein kann, weiß auch
       Alexandra Wuttke. Die 37-Jährige ist Professorin für Klinische Psychologie
       und Psychotherapie des höheren Lebensalters an der Uni Konstanz. „Das Alter
       per se ist kein Risikofaktor für eine Depression, die meisten Menschen
       finden einen guten Umgang mit dem Älterwerden“, sagt sie. „Aber es gibt
       altersspezifische Faktoren, die das Risiko einer psychischen Störung und
       damit auch einer Depression erhöhen können.“ Dazu zählen zum Beispiel der
       Renteneintritt, der nicht selten eine ganz neue Lebensspanne einläutet, das
       Auftreten von Erkrankungen, Pflegebedürftigkeit oder der Verlust von
       sozialen Kontakten.
       
       Obwohl das weitgehend bekannt ist, sei die Versorgungslage für ältere
       Menschen mit Depressionen in Deutschland prekär, kritisiert Wuttke. Das
       fange bereits bei der Diagnostik an. „Meist werden nur die Hauptsymptome
       wie gedrückte Stimmung, Freudlosigkeit und verminderter Antrieb abgefragt,
       aber bei älteren Menschen zeigt sich eine Depression häufig vor allem
       körperlich, in Form von Konzentrationsstörungen, Kopf- oder Bauchschmerzen
       oder Schlafproblemen.“ Das führe oft dazu, dass die Erkrankung übersehen
       werde. In der Folge seien die meisten Zahlen zum Vorkommen von Depressionen
       im Alter nur bedingt aussagekräftig.
       
       In der Selbsthilfegruppe fragt Helmut Stein nun Peter, wie es ihm heute
       gehe. Peter erzählt von seinen Rückenschmerzen, wegen derer er bald einen
       Termin in einer Klinik habe. Er leide bereits an Parkinson und Diabetes.
       „Die Krankheiten werden immer mehr“, sagt er. Aus der Depression finde er
       auch deshalb zur Zeit kaum heraus.
       
       ## Gemeinschaft gegen Trauer
       
       Was bei Peter die Rückenschmerzen sind, ist bei Sandra die Arthritis, sind
       bei Gudrun die zittrigen Hände. Die Menschen, die heute im Seniorenbüro
       zusammensitzen, verbindet nicht nur die Diagnose Depression, sondern auch
       die Erfahrung des Alterns. Deshalb geht es heute neben Ängsten und Trauer
       auch um Pflegestufen und Pflegekosten, Rollatoren, altersgerechte Ausflüge
       und Hockergymnastik – und die Apotheke, die neulich im Leipziger Stadtteil
       Stötteritz eröffnete, nachdem drei Apotheken nacheinander geschlossen
       hatten.
       
       Aber auch Themen, die nichts mit dem Alter zu tun haben, werden hier
       besprochen. Hannelore berichtet von der Rolle Kunstrasen, die noch auf
       ihrem Balkon verlegt werden will, Peter von seinem Handyvertrag, den er
       kündigen möchte und Bernd von seinem Pflaumenkuchen-Erfolg. Das erste Mal,
       dass er überhaupt was gebacken habe, erzählt er. Sonst habe das ja immer
       seine Frau gemacht. „Warum hast du denn nichts mitgebracht?“, fragt
       Hannelore. Die Runde lacht.
       
       Zum Schluss ist der Gruppenleiter selbst dran. Seine Rückenschmerzen
       machten ihm zu schaffen, erzählt Helmut Stein. Er merke, wie seine Kräfte
       nachließen und auch seinen Tag zu strukturieren, falle ihm immer schwerer.
       Wehmut klingt aus seinen Worten heraus. Doch er will weiter machen mit
       seiner Gruppe, solange er kann. Sie sei schließlich nicht nur Hobby für
       ihn, sondern Lebensinhalt. Mit ihr habe er nicht nur anderen Betroffenen
       geholfen, sondern vor allem auch sich selbst.
       
       Psychologin Alexandra Wuttke kritisiert nicht nur die diagnostischen
       Fehlschlüsse bei Patient*innen im höheren Lebensalter, sondern auch,
       dass bei ihnen viel zu häufig nur zu Psychopharmaka gegriffen werde,
       anstatt auch mit einer Therapie zu behandeln. Zwar gelten die Leitlinien
       zur Behandlung von Depressionen altersübergreifend und empfehlen je nach
       Schweregrad Psychotherapie und/oder medikamentöse Therapie. Allerdings
       liege der Anteil älterer Menschen in der Psychotherapie aktuell bei unter
       drei Prozent, bei hochaltrigen beinahe bei null. Gleichzeitig würden immer
       mehr Psychopharmaka verschrieben. „Das ist dramatisch“, sagt die Expertin.
       Vor allem in Pflegeheimen würden oft nur Antidepressiva gegeben anstatt
       Psychotherapeut*innen hinzuzuziehen.
       
       Doch woran liegt das? Einerseits beobachtet Wuttke Vorbehalte unter
       Behandelnden gegenüber älteren Patient*innen: „Viele denken, sie seien
       nicht kompetent genug für das Thema oder sie spielen es herunter, nach dem
       Motto, depressive Symptome sind ja normal im Alter.“ Andererseits sei das
       Bewusstsein für die Themen psychische Gesundheit und Psychotherapie bei
       Patient*innen aus der Nachkriegsgeneration mitunter wenig ausgeprägt.
       Bei jüngeren Senior*innen hingegen sieht die Dozentin eine zunehmende
       Offenheit.
       
       ## Psychotherapie hilft auch Ältern
       
       Glücklicherweise, schließlich könne Psychotherapie älteren Menschen genauso
       gut helfen wie jüngeren – anders als es Sigmund Freud behauptete. Der
       Begründer der Psychoanalyse ging davon aus, dass Menschen mit zunehmendem
       Alter geistig unbeweglich werden und eine Therapie aufgrund der vielen zu
       verarbeitenden Lebenserfahrung zu zeitaufwändig ist.
       
       Psychotherapie könne im Alter genauso ablaufen wie in jüngeren Jahren, sagt
       Wuttke. Alles orientiere sich an den Bedürfnissen des*der Patient*in. Ist
       jemand kognitiv eingeschränkt, könne sie als Therapeutin ihre Inhalte
       vereinfachen. Ist jemand nicht mehr so mobil, könne sie über eine Therapie
       zu Hause nachdenken. Der Fokus lasse sich auf die Zukunft richten, genauso
       wie auf die Vergangenheit, durch Biografiearbeit oder konkrete
       Interventionen im Hier und Jetzt. „Wir therapieren nicht das Alter“, betont
       Wuttke, „sondern die Depression“.
       
       Im Juli dieses Jahres ging dazu ein prominenter Fall durch die Medien.
       Ex-Trigema-Chef Wolfgang Grupp hatte seine Depressionen und einen
       Suizidversuch öffentlich gemacht. In einem [4][Brief an seine ehemaligen
       Mitarbeitenden] schrieb der 84-Jährige, er habe sich zuletzt gefragt, ob er
       überhaupt noch gebraucht werde.
       
       Besonders hoch ist die Suizidgefahr laut Statistik in der Gruppe der
       Über-80-Jährigen. Da das Statistische Bundesamt keine gesonderten Zahlen
       für assistierte Selbsttötungen herausgibt, bleibt allerdings unklar, wie
       hoch der Anteil dieser in den einzelnen Altersgruppen ist. Laut NASPRO sind
       Suizide in Deutschland zunehmend ein Phänomen der Älteren.
       
       In vielen Medienberichten war nach dem Suizidversuch des ehemaligen
       Trigema-Chefs immer wieder von „Altersdepression“ die Rede. Ein Begriff,
       mit dem Laura Pacios Prado ihre Probleme hat. „Er bedient das Stereotyp,
       dass das Alter depressiv macht. Wir sagen ja auch nicht Jugenddepression“,
       kritisiert die 36-Jährige, die in Frankfurt Menschen ab 65 zu Hause
       psychologisch berät. Zwei bis drei Klient*innen besucht Pacios Prado am
       Tag. Rund 100 haben sie und ihre Kollegin seit Beginn des Pilotprojekts,
       das in der Krisen- und Lebensberatungsstelle des katholischen Sozialträgers
       Haus der Volksarbeit initiiert wurde, betreut.
       
       „Vor allem in den Städten gibt es viele Angebote für Senioren, aber
       diejenigen, die das Haus nicht oder nur schwer verlassen können, sind oft
       ausgeschlossen“, sagt Pacios Prado, die sich um eben solche Menschen
       kümmert. 85 Prozent ihrer Klient*innen seien Frauen. Nicht weil es
       Männern besser gehe, sondern weil Frauen sich eher Hilfe suchten. Viele
       Gespräche drehten sich um Einsamkeit, den Verlust des Partners oder den
       bevorstehenden Umzug ins Pflegeheim. „Viele erzählen mir, dass sie bei mir
       zum ersten Mal diese Themen ansprechen können“, sagt Pacios Prado.
       
       ## Dazwischen liegt ein halbes Jahrhundert
       
       Nicht selten trennen sie und ihre Klient*innen ein halbes Jahrhundert.
       Doch ältere Menschen hätten sie schon immer auf eine besondere Weise
       berührt, erzählt die Psychotherapeutin. Und in ihr vor allem eine Neugier
       geweckt: Was hat diese Personen erlebt, was hat sie geprägt? Um die
       psychische Gesundheit von Rentner*innen zu schützen, wünscht sich Pacios
       Prado mehr Wertschätzung und Respekt für deren Lebensleistung.
       
       Etwas, was ihrer Erfahrung nach in ihrer zweiten Heimat Spanien stärker
       praktiziert werde als in Deutschland. „In Spanien sind alte Menschen noch
       eher in die Gesellschaft eingebunden und im Stadtbild präsent, und wenn es
       nur bedeutet, dass sie sich auf die Bank vor dem Haus setzen, um sich mit
       ihren Nachbarn zu treffen. Auch in der Familie spielen die Großeltern noch
       eine größere Rolle.“
       
       Um die Einsamkeit derer abzufangen, die nicht mehr eingebunden sind,
       braucht es Pacios Prados Meinung nach mehr aufsuchende Beratungsangebote
       wie ihres in Frankfurt – auch um zu intervenieren, bevor eine
       Psychotherapie notwendig wird.
       
       Für Hartmut Sonntag wäre dieses Angebot vielleicht genau das richtige
       gewesen. Insbesondere in der Zeit, als er es kaum noch vor die Tür
       schaffte. Acht Jahre sind seitdem vergangen, doch der 66-Jährige erinnert
       sich noch, als wäre es gestern: Sonntag ist damals Dozent bei einem
       Unternehmen, das Weiterbildungen für Erwachsene anbietet. Er leitet die
       Leipziger Niederlassung. Die Arbeit bedeutet ihm viel, durch sie fühlt er
       sich gebraucht. Doch die Firma muss schließen. Monatelang ist Sonntag damit
       beschäftigt, das Geschäft in Leipzig abzuwickeln. Obwohl er schon lange
       eine enorme Erschöpfung spürt, gibt er 100 Prozent, schiebt alle Gefühle
       beiseite. So erzählt es der Rentner, als er an einem Vormittag im
       Spätsommer auf seinem Balkon im Leipziger Osten sitzt, wo die roten
       Geranien ihre letzten Blüten in diesem Jahr tragen.
       
       Wie einen Schlag habe es ihn dann getroffen, als er am letzten Arbeitstag
       seinen Firmenschlüssel abgeben musste. „Ich saß zu Hause auf dem Sofa und
       habe nur noch geheult. Ich dachte, jetzt bin ich Ende 50 und stehe vor dem
       Nichts“, erzählt Sonntag, während er immer wieder auf die Zettel schaut,
       die neben seiner Kaffeetasse auf dem Balkontisch liegen. Am Computer hat er
       sich zuvor Notizen fürs Interview gemacht, alles aufgeschrieben, was seit
       der Depression passiert ist, die sein Leben heute in ein „Vorher und
       Nachher“ teile.
       
       Sonntag fällt damals in ein tiefes Loch. Eine Mischung aus Erschöpfung,
       Angst und Gleichgültigkeit lähmt ihn. Seine Wohnung verlässt er nur, um
       sich etwas zu Essen zu kaufen. „Nichts sehen, nichts hören“, wie er sagt.
       Er verliert sich in einem Strom aus Grübeleien und Selbstvorwürfen.
       
       Erst als seine Vermittlerin in der Agentur für Arbeit ihm dazu rät, geht
       Hartmut Sonntag zu seinem Hausarzt. Die Diagnose: Depression. Ein Schock.
       Depression? Er? „Ich dachte immer, wer depressiv ist, der bildet sich das
       alles nur ein, der ist einfach nur zu faul und braucht ein bisschen Druck,
       dann geht es schon wieder“, erinnert er sich. Doch bei ihm geht im Herbst
       2017 gar nichts mehr. Selbst den Hörer in die Hand nehmen, um die Liste der
       Psychotherapeut*innen abzutelefonieren, die ihm sein Hausarzt
       mitgegeben hat: zu viel.
       
       Mehrere Monate vergehen so. Dann schafft es Sonntag, sich Hilfe zu holen.
       Er beginnt eine Gruppentherapie und wird Teil einer Theatergruppe, in der
       Menschen mit Depressionen zusammenkommen. Das gibt ihm wieder Kraft.
       
       ## Älterwerden als Krankheitsverstärker
       
       Doch für den Wiedereinstieg in den Beruf reicht sie nicht. Ein Zustand, den
       er damals nur schwer aushält. Was auch daran liegt, wie er die Wende 1989
       erlebt hat. Der Mauerfall bedeutete für Sonntag, zu der Zeit Berufssoldat,
       zunächst vor allem Arbeitslosigkeit. Eine Erfahrung, die sich schmerzhaft
       bei ihm einbrennt.
       
       Ähnlich wie Margarete Nienaber, nimmt auch Hartmut Sonntag das Älterwerden
       als Verstärker seiner Erkrankung wahr. „Man hat ja weniger Ablenkung durch
       den Alltag und somit mehr Zeit zum Grübeln“, sagt er. Es habe Jahre
       gedauert, bis er einen guten Umgang mit der Depression gefunden habe.
       Inzwischen sei er in der Lage, die Warnsignale zu erkennen. Wenn er abends
       im Bett liege und nicht einschlafen könne, weil er sich wieder in
       Gedankenschleifen verliere, dann stehe er wieder auf. Dann wandere er durch
       seine Wohnung, erledige Dinge im Haushalt, schaue Fernsehen, mache sich
       eine heiße Milch mit Honig – oder eben Frühstück, „auch wenn es erst 3 Uhr
       ist“.
       
       Eine Lohnarbeit hatte Sonntag seit seiner Diagnose 2017 nicht mehr. Die
       ersten Jahre bezog er Erwerbsminderungsrente, seit einem Jahr erhält er
       Altersrente. Oft habe er sich seitdem schlecht gefühlt, „ich dachte immer,
       ich lungere ja den ganzen Tag nur herum.“ Doch dann habe er an einer Studie
       zu Depressionen im Alter teilgenommen, bei der er gebeten worden sei, über
       ein paar Wochen alles zu notieren, was er den Tag lang macht, vom Gießen
       der Geranien bis zum Gang zum Supermarkt. „Da habe ich auf einmal gemerkt,
       ich mache ja doch etwas und zwar gar nicht so wenig“, erzählt Sonntag. „Das
       hat meinem Selbstbild gut getan.“
       
       Vor allem aber der Austausch mit anderen Betroffenen habe ihm geholfen.
       „Die Depression verschwindet nicht, wenn man offen über sie spricht“ sagt
       er, „aber man merkt, dass man mit der Erkrankung nicht allein ist“.
       
       Seit seiner Diagnose hat Sonntag es sich zur Aufgabe gemacht, von
       Depression Betroffenen eine Stimme zu geben. Deshalb hat er sich vor sieben
       Jahren, wie Helmut Stein, dem Leipziger Bündnis gegen Depressionen
       angeschlossen. Er gründete eine Selbsthilfegruppe, nahm an Ehrenamtstreffen
       teil, klärte bei Veranstaltungen am Infostand des Bündnisses auf. Vor zwei
       Wochen unterstützte er sogar einen Workshop in einer Schule, um für
       Depressionen zu sensibilisieren, erzählt Sonntag, dessen Gesichtsausdruck
       sich plötzlich erhellt. Die Arbeit mit den Jugendlichen habe ihm Spaß
       gemacht, sagt er und hört sich dabei auch ein bisschen stolz an.
       
       Arbeit, von der es noch viel mehr braucht, wenn es nach Alexandra Wuttke
       von der Uni Konstanz geht. Denn um Menschen im Alter vor psychischen
       Erkrankungen zu schützen, müsse viel mehr Aufklärung stattfinden,
       bestenfalls schon in jungen Jahren. Darüber, wie sich psychische Störungen
       im Alter bemerkbar machen können, wie Psychotherapie helfen kann und welche
       präventive Wirkung soziale Kontakte und Bewegung haben können. Wuttke
       fordert eine „Entstigmatisierung des Alters“. Das bedeute auch, den Fokus
       anstatt auf die Defizite auf die Ressourcen zu legen, die das Alter mit
       sich bringen könne: Lebenserfahrung, Weisheit, Gelassenheit.
       
       Wenn das gelingt, ist sie sich sicher, ließen sich nicht nur Depressionen
       verhindern. Das Alter würde auch nicht mehr so bedrohlich wirken. „Viele
       denken bis heute, ab der Rente werde man automatisch gebrechlich und
       einsam“, sagt die Professorin. „Aber das stimmt nicht.“
       
       Haben Sie suizidale Gedanken? Dann sollten Sie sich unverzüglich ärztliche
       und psychotherapeutische Hilfe holen. Bitte wenden Sie sich an die nächste
       psychiatrische Klinik oder rufen Sie in akuten Fällen den Notruf an unter
       112. Eine Liste mit weiteren Angeboten finden Sie unter
       [5][taz.de/suizidgedanken] im Internet.
       
       25 Oct 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.deutsche-depressionshilfe.de/depression-infos-und-hilfe/depression-in-verschiedenen-facetten/depression-im-alter
   DIR [2] https://www.naspro.de/dl/Suizidzahlen2023.pdf
   DIR [3] https://www.naspro.de/dl/Suizidzahlen2023.pdf
   DIR [4] https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/grupp-brief-100.html
   DIR [5] /Hilfsangebote-bei-suizidalen-Gedanken/!6009869
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Laura Catoni
       
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