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       # taz.de -- Debatte um Kanzler-Aussagen: Hinter dem Stadtbild
       
       > Deutsche Städte haben reale Probleme – allerdings andere, als Friedrich
       > Merz behauptet. Was wir brauchen, ist soziale Gerechtigkeit. Für alle.
       
   IMG Bild: Mit selbstgemachten Schildern wird gegen die rassistisch gelesenen Aussagen von Bundeskanzler Friedrich Merz protestiert
       
       Es gebe „im Stadtbild noch dieses Problem“, sagte Friedrich Merz am 14.
       Oktober. Deshalb sei der Bundesinnenminister jetzt dabei, in sehr großem
       Umfang abzuschieben. Auf die Frage, wie er das gemeint habe, sagte der
       Bundeskanzler später auf einer Pressekonferenz dann: „Fragen Sie mal Ihre
       Töchter.“
       
       Hat Merz mit seiner „Stadtbild“-Aussage „nur ausgesprochen, was jeder
       sieht“? So verteidigte ihn Unionsfraktionschef Jens Spahn gegen Kritik,
       nannte beispielhaft Duisburg, Hamburg und Frankfurt und sprach von
       „Verwahrlosung, Drogendealern, jungen Männern – meistens mit
       Migrationshintergrund, meistens osteuropäisch oder arabisch-muslimisch“.
       Zunächst muss man Merz und Spahn zustimmen: Viele wussten sofort, was mit
       dem Geraune gemeint war. Die Rede vom Stadtbild im Zusammenhang mit
       Migration ruft Bilder hervor – Bahnhöfe, Innenstädte, Gruppen junger
       Männer, Armut, Verelendung.
       
       Doch was hier als sichtbare Realität behauptet wird, ist keine einfache
       Beobachtung, sondern eine Projektion. Sie setzt einen Blick voraus, der
       Armut, Männlichkeit und Migration nicht nur miteinander verknüpft, sondern
       naturalisiert – als wäre ihre Sichtbarkeit kein Effekt gesellschaftlicher
       Prozesse und politischer Entscheidungen.
       
       Wohnungsknappheit, schlechte Arbeitsbedingungen, ein härter werdender
       freier Markt, der Verlust sozialer Sicherung. Auch die Illegalisierung von
       Menschen ist eben keine naturgegebene Tatsache, sondern das Ergebnis
       politischer Steuerung. Von Entscheidungen darüber, wer arbeiten, wohnen und
       bleiben darf – und wer nicht.
       
       ## Wir haben ein Männerproblem
       
       Beide – Merz wie Spahn – beschreiben ein reales Symptom, kommen aber zu den
       falschen Schlüssen. Nicht Migration ist das Problem, sondern wie mit ihr
       umgegangen wird. Was Merz und jene, die ihm zustimmen im „Stadtbild“ stört,
       das sind die sichtbaren politischen und sozialen Folgen dessen, was
       passiert, wenn Migration mit sozialer und ökonomischer Ungleichheit
       verschränkt wird. Die politischen Entscheidungen dahinter werden teils
       absichtlich verschwiegen und unsichtbar gemacht. Genau darin liegt die
       Wirksamkeit der „Stadtbild“-Aussage: Sie schafft eine scheinbare Evidenz,
       ein visuelles Wissen, das alle zu teilen glauben. Mit seiner Aussage macht
       der Bundeskanzler so ein politisches zu einem vermeintlich ästhetischen
       Problem. Fragen von Armut und Ausbeutung werden zu einer Frage der Optik.
       
       Das „Stadtbild“ steht in dieser Rhetorik für das Verlangen nach Kontrolle
       und die Vision von einer homogenen Gesellschaft, in der Vielfalt nur stört.
       Wenn das Aussehen einer Stadt zum Problem erklärt wird, dann nicht nur,
       weil sie sich verändert, sondern weil sich die Vorstellung davon, wer
       dazugehören darf, verengt hat. Zum „Problem“ gemacht werden diejenigen, die
       unter diesen Strukturen und bestehenden Verhältnissen am stärksten leiden.
       Und ja, eine solche Sicht auf die Dinge entlastet die Mehrheitsgesellschaft
       und Politik von ihrer Verantwortung.
       
       Mit seiner genauso umstrittenen Aussage „Fragen Sie mal Ihre Töchter“, hat
       Friedrich Merz der Debatte eine weitere Ebene hinzugefügt: Er lädt
       gesellschaftliche Ängste moralisch auf und beantwortet soziale Fragen
       patriarchal.
       
       Migration ist demnach eine Bedrohung, die Nation muss „ihre Frauen“
       beschützen. In dieser Logik erscheinen Ausgrenzung, Diskriminierung und
       Kriminalisierung als väterliche Fürsorge. Merz ruft damit ein altes
       Narrativ auf: der migrantische Mann als triebhaft, gefährlich,
       frauenverachtend – der deutsche Mann als ordnend, zivilisiert, beschützend.
       
       Die italienische Soziologin Sara Farris nennt es „Femonationalismus“, wenn
       Feminismus instrumentalisiert wird, um nationale und ethnische
       Grenzziehungen zu stabilisieren. Der vermeintliche Schutz „unserer“ Frauen
       dient dabei nicht der Gleichberechtigung, sondern dem Ausschluss von
       anderen.
       
       Dabei ist klar: Wir haben ein Männerproblem. Und es zieht sich durch alle
       Schichten und Herkünfte. Es zeigt sich in Gewaltverhältnissen, in
       unbezahlter Sorge-Arbeit und ihrer ungleichen Verteilung, in ungleichen
       Löhnen, in Parteien, Unternehmen und Medien. Wer Töchter und Frauen also
       wirklich schützen will, muss diese Absicht in Politik übersetzen – gegen
       geschlechtsspezifische Gewalt, gegen die Entwertung von Fürsorge, für
       gleiche Löhne und gleiche Teilhabe.
       
       ## Ungleichheit lässt sich tatsächlich im Stadtbild ablesen
       
       Friedrich Merz will das offensichtlich nicht. Stattdessen verspricht er
       Abschiebungen. Das ist kein Zufall, sondern Programm. Die visuelle Ordnung
       wird mit einer Politik des Ausschlusses verknüpft. Wer optisch auffällt,
       gerät ins Visier – das trifft Geflüchtete, aber auch alle anderen, deren
       Anwesenheit nicht in das Ideal einer „geordneten“ und „kontrollierten“
       Stadt passt. Wohnungslose, Arme, prekär Beschäftigte, migrantische
       Personen.
       
       Die Rede vom Stadtbild übersetzt ökonomische Konflikte in kulturelle
       Kategorien und erklärt strukturelle Probleme zu Fragen des Auftretens und
       Aussehens.
       
       Dabei lässt sich soziale Ungleichheit tatsächlich im Stadtbild ablesen – an
       Kleidung, Gesten, Sprache, an den Spuren von Armut, körperlicher Arbeit und
       Erschöpfung. Diese Sichtbarkeit ist Ausdruck realer sozialer Verhältnisse,
       doch sie wird kulturell und rassifiziert gedeutet. Der Habitus – also die
       Art, sich zu bewegen, zu sprechen oder den öffentlichen Raum zu nutzen –
       wird zum sozialen Marker. So verschmelzen Klasse und Herkunft zu einer
       Wahrnehmungsordnung, in der soziale Unterschiede als Defizite gelesen
       werden. Wer „nicht passt“, der verdient weder Sichtbarkeit noch Mitgefühl.
       Wer nicht passt, wird aussortiert.
       
       So verschiebt die Rede vom Stadtbild politische Verantwortung – von
       staatlichen und politischen Institutionen auf jene, die die Folgen dieser
       Entscheidungen tragen müssen. Das Stadtbild zeigt demnach auch nicht, wie
       behauptet wird, das Scheitern von Integration – es zeigt Menschen, die
       diese Gesellschaft tragen und gleichzeitig von ihr ausgeschlossen werden.
       Diejenigen, die Straßen reinigen, Pakete liefern, Kranke und Alte pflegen,
       bilden das Rückgrat einer auch migrantisch gestützten Ökonomie.
       
       Zuletzt betonte Merz, er habe jene gemeint, „die nicht arbeiten“ – und dass
       Deutschland migrantische Arbeitskräfte brauche. Seine Rhetorik wird dadurch
       noch deutlicher: Zugehörigkeit bemisst sich an ökonomischer Verwertbarkeit.
       Wer arbeitet, gilt als erwünscht; wer nicht, als überflüssig.
       
       ## Wir müssen uns entscheiden
       
       Schon in den Jahrzehnten der Gastarbeiter*innenmigration waren
       migrantische Körper Teil der Infrastruktur – funktional eingebunden, aber
       gesellschaftlich unsichtbar. Man sah ihre Arbeit, aber nicht die Menschen
       selbst. Und das war gewollt. Die Unsichtbarkeit war integraler Bestandteil
       der Nachkriegsordnung: Migrantische Arbeit galt als vorübergehend,
       austauschbar, entbehrlich. Sie war erwünscht, solange sie der
       Mehrheitsbevölkerung zugute kam.
       
       Mit dem Strukturwandel, der Abwertung industrieller Arbeit und der
       Privatisierung öffentlicher Dienste, verlor diese Arbeitskraft ihre
       Funktion – und mit ihr verschob sich auch der Status der Zugewanderten: von
       der „notwendigen Arbeitskraft“ zur „sichtbaren Störung“. Doch Sichtbarkeit
       war nie einfach gegeben – sie war und ist immer umkämpft.
       
       Der Ford-Streik 1973 in Köln markierte einen Bruch: Tausende migrantische
       Arbeiter*innen traten aus der Unsichtbarkeit hervor und forderten
       bessere Arbeitsbedingungen ein. Sie machten sichtbar, dass sie nicht nur
       Arbeitskräfte, sondern politische Subjekte waren.
       
       Diese Kämpfe setzten sich fort, Muster wiederholten und wiederholen sich –
       von migrantischen Putzkollektiven bis zu den heutigen Streiks bei
       Lieferdiensten und in der Pflege. Lieferfahrer*innen, Reinigungskräfte und
       Pfleger*innen, die unter prekären Bedingungen arbeiten, sind allgegenwärtig
       – sichtbar im Stadtbild, unsichtbar in ihren Rechten. Solange sie liefern,
       reinigen, pflegen, wird ihre Präsenz hingenommen; über ihre Prekarität
       sieht man lieber hinweg.
       
       Wer ein homogenes Stadtbild zum Maßstab gesellschaftlicher Ordnung macht,
       sendet an große Teile der Bevölkerung das Signal: Ihr gehört niemals
       wirklich dazu. Ausgeschlossen und fremd gemacht werden so gerade jene, die
       diese Gesellschaft an vielen Stellen seit Generationen tragen. Solche
       Rhetorik zerstört Vertrauen, wo Zusammenhalt nötig ist. Sie spaltet, wo
       Solidarität gebraucht wird. Dabei ist in einer Zeit, in der die AfD immer
       stärker wird, jede Stimme wichtig, die für eine gemeinsame demokratische
       Gegenwart steht.
       
       ## Arbeit, Wohnraum, Löhne
       
       Was folgt nun auf die berechtigte Empörung, die die Aussagen des
       Bundeskanzlers ausgelöst hat? Wir müssen uns entscheiden. Es geht um die
       Zukunft der Migrationsgesellschaft und die Grundlage unseres
       Zusammenlebens. Und tatsächlich könnte aus dieser Debatte noch etwas
       Konstruktives entstehen – wenn wir sie zum Ausgangspunkt werden lassen, die
       Migrationsgesellschaft neu zu erzählen. Als eine Geschichte, in der wir
       alle zum Stadtbild gehören und keine Gruppe per se ein Problem darstellt.
       
       Damit wir diese Geschichte schreiben können, müssen wir uns den materiellen
       Grundlagen zuwenden: Arbeit, bezahlbarem Wohnraum, fairen Löhnen und einem
       funktionierenden Gesundheitssystem. Dem Zugang zu Bildung und sozialer
       Sicherheit. Denn wer wir sind – als Töchter, Söhne, Bürger*innen und als
       Gemeinschaft –, das entscheiden nicht nur Herkunft und Kultur, sondern vor
       allem unser Verhältnis zu diesen Dingen.
       
       Eine gerechte und solidarische Gesellschaft würde nicht über Herkunft oder
       Zugehörigkeit verhandeln, sondern über Verteilung von Macht, Grundrechten
       und Chancen. Darum sollte es gehen, wenn wir über Stadtbilder in
       Deutschland nachdenken.
       
       25 Oct 2025
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Cihan Sinanoğlu
       
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