# taz.de -- Roman zu Belgrad im Zweiten Weltkrieg: Opfer, Feind, Verräter oder Mörder
> In „Buch der Gesichter“ zeichnet der österreichisch-serbische
> Schriftsteller Marko Dinić ein netzartiges Gebilde um ein vergangenes
> Rätsel.
IMG Bild: Das zerstörte Zentrum von Belgrad, 1944
Wie sah das Leben in Belgrad an dem Tag im Mai 1942 aus, als Serbien für
„judenfrei“ erklärt wurde? Das ist die Ausgangsfrage des
österreichisch-serbischen Schriftstellers Marko Dinić in seinem neuen Roman
„Buch der Gesichter“.
Er liefert sechs verschiedene Perspektiven: die des 1910 geborenen
jüdischen Jungen Isak Ras, dessen Vater nicht aus dem Ersten Weltkrieg
zurückkehrt; die seiner Mutter Olga, geborene Kon, die spurlos
verschwindet; die der bosnischen Anarchisten Rosa und Milan, bei denen Isak
unter dem Namen Ivan aufwächst; die seines Halbbruders Petar, der sich den
Partisanen anschließt; die eines Manns, der den Familiennamen des Autors
Dinić trägt und Kollaborateur der Nazis ist; und schließlich die Malkas,
eines Dackels, der mit den aus Wien auf einem Schiff fliehenden Juden nach
Serbien kam.
Der Roman ist netzartig aufgebaut und schickt seine Leser*innen auf
viele verschiedene Fährten. Nach und nach werden die Fäden zusammengeführt,
lösen sich verschiedene Rätsel: Wurde Olga von dem Anarchistenpärchen
umgebracht, hat sie sich in die Donau gestürzt, oder ist sie geflohen? Hat
Petar einen unschuldigen Zivilisten erschlagen, und hat Mirko Dinić Juden
gefoltert?
## Gewalt, Selbsthass, Folter
Verkrüppelte Körper, sexualisierte, trunkene, psychotische Gewalt,
Selbsthass, Folter, ideologisch angetriebene Skrupellosigkeit – Dinić
stellt sich mit seinem Roman in die Tradition der großen historischen
Romanciers des ehemaligen Jugoslawiens wie Ivo Andrić oder Aleksandar
Tišma, die die Kontinuität der Gewalt in dieser Region auch als Folge der
osmanischen, österreichischen und deutschen Eroberer beschreiben.
Die Fäden, die Dinić meisterhaft spannt, sind fesselnde Erzählkunst und
repräsentieren zugleich das unentwirrbare Garn, das die menschliche Psyche
spinnt. Die verschwimmenden Grenzen zwischen Fiktion und Realität sind
dabei zentrales Motiv. Immer wieder tauchen Geister, Ungeheuer und Schatten
auf, die den Spekulationen und Unterstellungen, aus denen sie entstehen,
Nahrung liefern.
Der heimliche Protagonist dieser überwältigend dichten Beschreibung ist
vielleicht gar keine Figur. Der eigentliche Herrscher ist der ewig
anwesende Verdacht: Geboren aus der Ungewissheit der Machtverhältnisse kann
er über Nacht jeden zum Opfer, zum Feind, zum Verräter und Mörder machen.
Doris Akrap
16 Oct 2025
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