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       # taz.de -- Antimilitarismus in der Linken: Wehrt man sich nicht, lässt man es zu
       
       > Die Menschen in der Ukraine können entweder beim Sterben zusehen oder
       > eingreifen, um Leben zu retten. Warum Sofapazifismus ihnen nicht hilft.
       
   IMG Bild: Gedenk- und Totenfeier für David Chichkan, am Sarg steht seine Partnerin und Ehefrau Anna
       
       Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in der Straßenbahn. Plötzlich merken Sie,
       wie Sie mit voller Geschwindigkeit auf fünf Personen zurasen. Rechts sehen
       Sie ein Ausweichgleis – dort steht nur ein Mensch. Die Bremsen der Tram
       sind kaputt, aber Sie können einen Hebel betätigen und sie so auf das
       rechte Gleis umlenken. Was tun Sie? Lassen Sie eher fünf Personen durch
       Ihre Untätigkeit sterben oder greifen Sie ein und töten eine?
       
       Das Szenario lässt sich noch abwandeln. Man könnte zum Beispiel ergänzen,
       dass die Person auf dem Ausweichgleis ein Terrorist ist, der die Bremsen
       der Tram beschädigt hat, um die fünf Personen zu töten. Oder auch, dass Sie
       sich durch das Umlenken der Bahn in Gefahr begeben, weil die Kumpels des
       Terroristen sich an Ihnen rächen werden. Dieses Gedankenexperiment ist in
       der Philosophie als „Trolley-Problem“ bekannt. Doch für die Menschen in
       der Ukraine ist es kein hypothetisches Dilemma. Für sie heißt es: beim
       Leiden und Sterben zusehen – oder einzugreifen, um Leben zu retten.
       
       Am 10. August fiel ein Bekannter von mir an der Front, der ukrainische
       Künstler und linke Aktivist [1][David Chichkan]. Er erzählte, er habe
       Angebote für Residencies im Ausland gehabt, aber er wollte lieber als
       Soldat gegen die imperialistischen Invasoren kämpfen. Er wusste, dass er
       dabei sterben konnte.
       
       ## Die böse Rüstungsindustrie
       
       In Deutschland möchten viele Linke nichts mit dem Militär zu tun haben. Die
       Rüstungsindustrie sei inhärent böse, und da man sich internationalistisch
       gibt, spiele es doch überhaupt keine Rolle, in welchem Land man lebt. Das
       seien sowieso nur Linien auf der Landkarte. Einige gehen noch weiter und
       bezeichnen diejenigen, die den ukrainischen Widerstand unterstützen – oder
       gar die Ukrainer:innen selbst – als Kriegstreiber.
       
       Die brutale Realität ist jedoch, dass Zivilist:innen in von Russland
       besetzten Gebieten unterdrückt, gefoltert und getötet, Kinder entführt und
       Männer zum Dienst in der russischen Armee gezwungen werden. Wehrt man sich
       nicht, lässt man das zu.
       
       Das Trolley-Problem ist zwar eine Abstraktion, aber es zeigt grundsätzlich:
       Allein weil man selbst Gewalt ablehnt, heißt das nicht, dass sie deshalb
       nicht geschieht. Mehr noch, Passivität führt in solchen Fällen dazu, dass
       man massive Gewalt nicht verhindert, obwohl man es kann. Dafür trägt man
       Verantwortung.
       
       ## Der Russe, der an der Seite der Ukraine kämpfte
       
       Bevor David sich vor einem Jahr freiwillig zum Militärdienst meldete, malte
       er Porträts von Antifaschist:innen, die auf der Seite der Ukraine kämpfen.
       Unter ihnen waren auch diejenigen Nichtukrainer:innen, die im April 2023
       bei Bachmut fielen – [2][der US-Amerikaner Cooper Andrews, der Ire Finbar
       Cafferkey und der Russe Dmitry Petrov].
       
       Letzterer war ein Anthropologe und linker Aktivist, der sich früher auf den
       Moskauer Straßen mit russischen Nazis prügelte. Nach Beginn der
       Großinvasion meldete er sich freiwillig als Soldat, kämpfte gegen sein
       eigenes Heimatland – und starb.
       
       In seinem Abschiedsbrief, der im Falle seines Todes veröffentlicht werden
       sollte, steht: „Als Anarchist, Revolutionär und Russe hielt ich es für
       notwendig, mich am bewaffneten Widerstand des ukrainischen Volkes gegen
       Putins Besatzer zu beteiligen. Ich tat dies aus Gerechtigkeit, zur
       Verteidigung der ukrainischen Gesellschaft und zur Befreiung meines Landes,
       Russland, von der Unterdrückung. Um all der Menschen willen, denen durch
       das abscheuliche totalitäre System in Russland und Belarus ihre Würde und
       die Möglichkeit, frei zu atmen, genommen wurde.“
       
       ## Dem Leid anderer nicht zusehen wollen
       
       Sein Vater, Dmitry Petrov senior, hat den autobiografischen Roman
       „Roditelskij den“ (Elterntag) über seinen Sohn geschrieben, um den
       unermesslichen Verlust zu verarbeiten. Der Text rührt zu Tränen. Sein Sohn
       wollte nicht dem Leid anderer zusehen und unternahm den konsequentesten
       Schritt, der überhaupt denkbar ist.
       
       Im realen Leben sind Handlungsoptionen nicht binär wie im
       Gedankenexperiment, es gibt Abstufungen zwischen zusehen und selbst zur
       Waffe greifen. Was jedoch sicher nicht weiterhilft, ist ein Sofapazifismus,
       der die russischen Kriegsambitionen kleinredet. Wer den Ukrainer:innen
       die militärische Unterstützung verweigert, handelt nicht im Sinne eines
       Friedens, sondern lässt dem mörderischen Feldzug des Kremls freien Lauf.
       
       29 Aug 2025
       
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       ## AUTOREN
       
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