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       # taz.de -- Britta Flaig über Leben mit Alzheimer: „Man muss sich wegen der Krankheit nicht schämen“
       
       > Britta Flaig war erst Mitte fünfzig, als Alzheimer bei ihr diagnostiziert
       > wurde. Man muss die Krankheit annehmen, weiß sie. Und offen mit ihr
       > umgehen.
       
   IMG Bild: Erzählt manchmal mehrfach dasselbe, obwohl sie das gar nicht will: Britta Flaig muss mit Alzheimer leben
       
       taz: Frau Flaig, wie geht’s der Fee Dementia heute? 
       
       Britta Flaig (lacht): Jetzt geht’s ihr besser. Heute morgen war sie
       lebhaft, da ist sie viel herumgeflattert. Ich habe viermal dasselbe erzählt
       und es nicht gemerkt.
       
       taz: Wir müssen das kurz erklären: Wer oder was ist Fee Dementia? 
       
       Flaig: Am Anfang, als es losging mit der Vergesslichkeit, hatte ich das
       Bild, dass Motten mein Gehirn wegfressen. Doch mit der Zeit merkte ich,
       dass ich mit diesen Motten niemals Frieden schließen kann. Zum Glück
       erschien mir das Bild der kleinen Fee Dementia, die einfach in meinen Kopf
       eingezogen ist. Dieses Bild ist freundlicher, und es lässt sich besser
       darüber sprechen. Wenn mein kleiner Enkel merkt, dass ich viel vergesse,
       sagt er: Oh, deine Fee flattert gerade ordentlich herum.
       
       taz: Bei Ihnen wurde im Jahr 2024 [1][Alzheimer diagnostiziert]. Wie ging’s
       Ihnen damals? 
       
       Flaig: Zuerst ist in mir alles zusammengebrochen, ich habe viel geweint.
       Dann kam die Erleichterung, dass nun endlich feststand, was mit mir los
       ist. Immerhin habe ich lange Zeit in Unsicherheit gelebt. Als es mit den
       ersten Symptomen der Vergesslichkeit losging, haben alle an Burnout oder
       Überarbeitung gedacht. Aber ich wusste: Das ist es nicht. Also war nach der
       Diagnose auch ein Stück Erleichterung dabei: Aha, ich hatte doch das
       richtige Gefühl gehabt. Dann war Stille in mir, und ich fragte mich: Was
       mache ich nun damit?
       
       taz: Sie sagten es schon, bis zur Diagnose hatten Sie einen langen Weg
       hinter sich – wann ging es los, wann und wie haben Sie etwas gemerkt? 
       
       Flaig (an ihren Mann gewandt): Stefan, weißt du noch, wie es losging? Ach
       so: Ich hatte immer viel zu tun, bei meiner Arbeit als Grundschullehrerin,
       mit meinen vier Kindern. Und ich habe immer mehr Dinge vergessen. Also ging
       ich zum Arzt, der meinte, na klar, das ist Burnout. Ich machte eine Kur,
       habe mich toll erholt, wurde in der Schule wiedereingegliedert – und habe
       dennoch weiterhin ständig etwas vergessen. Also gab es noch eine Kur … ach
       nein, eine Gesprächstherapie, bei der es um Überlastung und Burnout ging.
       
       taz: Sie haben damals angefangen, Kinderbücher zu schreiben, worum ging es
       da? 
       
       Flaig: Genau, während meines angeblichen Burnouts habe ich Schafhausen
       erfunden, ein Dorf, in dem Schafe die Hauptrolle spielen. Ich wollte es
       eigentlich im Unterricht benutzen, jedes Kapitel fing mit einem Buchstaben
       des Alphabets an: Bretzelschaf Brunhilde wohnt beim Bäcker, und in der
       Geschichte kommt ein Buchstabe oft vor: Flatternde Fledermäuse fliegen …
       Dazu habe ich Aquarelle gemalt und das Ganze drucken lassen. Irgendwann bin
       ich zu einem anderen Neurologen gewechselt. Der kam auf die Idee, ein MRT
       und eine Hirnwasseruntersuchung zu machen. Dabei wurde eine leichte
       kognitive Beeinträchtigung festgestellt, eine mögliche Vorstufe von
       Demenz.
       
       taz: Sie arbeiten heute nicht mehr als Grundschullehrerin. Warum haben Sie
       aufgehört? 
       
       Flaig: Ich habe den Beruf geliebt, ich war eine Vollblutlehrerin. In der
       Phase vor der endgültigen Diagnose habe ich immer wieder versucht zu
       arbeiten. Aber einmal wurde die Klasse ganz unruhig, das kannte ich gar
       nicht. Ich fragte, was los sei, und meine Praktikantin, die mit im Raum
       war, sagte: Britta, du hast das Ganze grade schon mal erzählt. Da wusste
       ich, das war meine letzte Stunde. Das war – Stefan, wann? – 2021.
       
       taz: Wie alt waren Sie da? 
       
       Flaig: 53 Jahre alt. Also noch sehr jung für diese Krankheit.
       
       taz: Sie haben sich entschlossen, Ihre Krankheit öffentlich zu machen.
       Warum das? 
       
       Flaig: Weil ich finde, dass man sich wegen der Krankheit nicht schämen
       muss. Und ich wollte meiner Umgebung erklären, was mit mir los ist, wenn
       ich Dinge mehrfach erzähle oder etwas nicht weiß. Außerdem habe ich mir
       gedacht, dass es viele mit Alzheimer gibt, die sich nicht trauen, das
       öffentlich zum machen. Also habe ich Leute auf der Straße angesprochen,
       gerade Ältere. Viele fanden das toll, sie fingen an zu erzählen, und ich
       habe gemerkt, wie gut es tut, in so einer Lage nicht allein zu bleiben. Bis
       heute sprechen mich Frauen auf der Straße an – Sie sind doch die mit der
       Demenz. Dann lud mich der lokale Podcast hier aus Eckernförde zu einem
       Gespräch ein. Die Folge lief sehr erfolgreich, und dann hat die Zeitung
       über mich berichtet. Das hat mich ermutigt, weiter in die Öffentlichkeit zu
       gehen.
       
       taz: Sie haben Vorträge gehalten? 
       
       Flaig: Ja, bei dem Projekt [2][Human Library]. Die Idee ist, dass ein
       Mensch quasi als lebendes Buch seine Geschichte erzählt. Das habe ich
       gemacht und davon berichtet, wie sich mein Leben verändert, wie sich Demenz
       auswirkt und wie ich damit umgehe.
       
       taz: Sie haben einen Mann, Stefan, der bei unserem Gespräch dabei sitzt,
       und Sie haben vier Kinder. Haben Sie mit denen besprochen, dass Sie
       sozusagen eine Stimme der Demenzkranken werden wollen? 
       
       Flaig: Nee, habe ich nicht, weil ich mir gar nicht vorstellen konnte, dass
       so viele Nachfragen kommen. Offenbar habe ich ein richtiges
       Informationsloch getroffen. Es war keine bewusste Entscheidung, mich
       bekannt zu machen, ich wollte einfach nur in meinem Umfeld offen mit der
       Krankheit umgehen. Aber falls es einen Grund gibt, warum ausgerechnet ich
       Alzheimer bekommen habe – wobei ich eigentlich nicht glaube, dass es Gründe
       für Krankheiten gibt – dann vermutlich, weil ich gut erzählen und malen
       kann und die Öffentlichkeit nicht scheue. Ich kann berichten, wie es mir
       geht, und so anderen Betroffenen Mut machen, sich nicht zu schämen und
       offen über ihre Lage zu sprechen.
       
       taz: Wie sind die Reaktionen der Umwelt? Gibt’s da auch mal doofe Sprüche
       zu hören oder freuen sich die Menschen, dass jemand dieses Tabuthema
       anpackt? 
       
       Flaig: Bei meinen Vorträgen oder Lesungen sind alle Reaktionen positiv.
       Dennoch bekomme ich manchmal zu hören: Toll, wie Sie drauf sind – wenn Sie
       Alzheimer haben, dann habe ich das auch. Darunter leide ich sehr, das kann
       ich nicht mit Gelassenheit ertragen. Denn diese Krankheit ist schlimm,
       richtig schlimm. Die Wahl, die man hat, besteht darin, sich die ganze Zeit
       zu grämen oder die Fee Dementia anzunehmen. Dazu habe ich mich
       entschlossen. Aber jetzt im fortgeschrittenen Stadium, je ernster die Lage
       wird, desto schwerer fällt mir das.
       
       taz: Sie haben ein Kinderbuch geschrieben, „Mama Berta und das Vergessen“,
       in dem Schaf Berta merkt, dass sie immer mehr vergisst, unter anderem den
       Weg nach Hause nicht mehr findet. Das kennen Sie, oder? 
       
       Flaig: Ja, Mama Bertas Geschichte ist meine eigene. Sie will am Anfang
       nicht wahrhaben, was mit ihr passiert. Sie liebt die Berge, geht allein
       wandern und verläuft sich. Das ist mir passiert: Ich habe mich bei einer
       Bergwanderung verlaufen. Nebel zog auf, ich habe schließlich um Hilfe
       gerufen, und andere Wanderer haben mich zurückbegleitet. Das war meine
       letzte Wanderung alleine.
       
       taz: Die letzte Schulstunde, die letzte Wanderung – Sie müssen von vielen
       Dingen Abschied nehmen, das stelle ich mir sehr schmerzhaft vor. Als würde
       Stück für Stück etwas weggenommen, oder? 
       
       Flaig: Ja, es ist grauenvoll. Inzwischen kann ich nicht mehr sicher
       unterscheiden, ob ich etwas gedacht, gesagt oder getan habe. Heute habe ich
       bei meiner Ergotherapeutin offenbar viermal dasselbe erzählt und es erst
       gemerkt, als sie es mir gesagt hat. Das ist ein Schlag ins Kontor, ein
       Schritt abwärts. Aber als positiver Mensch muss ich versuchen, einen Umgang
       damit zu finden. Ich muss mir angewöhnen, immer zu fragen, ob ich dies oder
       jenes schon erzählt habe.
       
       taz: Die Krankheit greift also immer mehr in den Alltag ein? 
       
       Flaig: Das ist so. Die Krankheit schränkt mich total ein, ich kann vieles
       nicht mehr tun. Auto fahren geht nicht mehr, und selbst Rad fahren wird
       schwierig: Bei einer Tour am Nord-Ostsee-Kanal habe ich nicht gemerkt, dass
       ich mehrfach zwischen zwei Fähren im Kreis hin- und hergefahren bin. Erst,
       als der Fährmann fragte, was denn los sei, habe ich das begriffen. Oder
       beim Einkaufen: Ich ziehe mit der Liste los, aber bis zum Laden habe ich
       die Liste vergessen und kaufe ein, was ich mag. Nach Hause gehe ich mit
       drei Salatköpfen, aber ohne Tomaten oder Brot. Anfangs halfen mir
       Spickzettel, aber jetzt vergesse ich, wo der Zettel ist. Inzwischen haben
       wir eine Tafel im Wohnzimmer aufgestellt, auf der die Termine des Tages
       stehen, und wenn etwas erledigt ist, wische ich es aus. Das ist die neueste
       Stufe.
       
       taz: Das heißt, die Krankheit schreitet spürbar voran. Machen Sie sich
       Gedanken darüber, wie es in Zukunft weitergeht? 
       
       Flaig: Klar machen wir uns Gedanken, und ich weiß manchmal gar nicht, wer
       von uns schlimmer dran ist. Meine Kinder und mein geliebter Mann sehen, wie
       ich immer weniger werde, dass ich nicht mehr die Britta bin, die ich mal
       war. Ich selbst fühle mich meistens so knorke wie vorher. Aber ich werde
       immer wieder damit konfrontiert, dass es nicht so ist. Früher habe ich
       meine Kinder angerufen, wenn bei ihnen eine Prüfung oder Ähnliches anstand.
       Heute weiß ich nicht mehr, wie alt sie sind. Ich habe ihnen das erklärt,
       und sie sagen: Mama, wir wissen doch, dass du an uns denkst. Du hast uns
       viel gegeben, jetzt sind wir dran. Das ist sehr rührend.
       
       taz: Ihr Mann betreut Sie, aber vielleicht brauchen Sie bald mehr Hilfe –
       das ist ein schwieriges Thema, oder? 
       
       Flaig: Ja, das ist richtig doof. Meine Vorstellung ist, dass wir mit
       anderen Menschen zusammenziehen, am liebsten mit Freunden, in eine große
       Wohnung, vielleicht ein Haus … Es gibt Demenz-WGs, aber da zieht der
       Partner nicht mit ein. Man kann auch eine Hilfe ins Haus holen. Ja, das zu
       organisieren, ist die nächste Aufgabe, und wir müssen das entscheiden. Aber
       so lange es geht, mache ich weiter mit Lesungen.
       
       taz: Ich stelle mir das sehr schwierig vor, so eine Lesung zu schaffen. 
       
       Flaig: Noch funktionieren die Tricks. Ich habe Zettel in mein Buch geklebt,
       auf denen „Bild 1“ steht, dann weiß ich, dass ich dieses Bild zeigen will.
       Und ich habe mit Leuchtstift markiert, welche Absätze ich vorlesen will.
       Meistens merken die Leute kaum etwas von der Demenz, außer ich komme
       durcheinander. Aber ich werde nicht nervös auf der Bühne, schließlich bin
       ich Lehrerin und habe auch Theatererfahrung.
       
       taz: Sie hatten nach der Diagnose eine Liste gemacht mit Dingen, die Sie
       noch machen wollten, unter anderem eine große Reise und ein Fest. Sind noch
       Positionen offen? 
       
       Flaig: Ich habe die Liste abgearbeitet und alles geschafft, was ich wollte.
       Was jetzt noch dazukommt, ist Bonus. Ich war mit zwei meiner Kinder in
       Namibia und Südafrika, das war sehr beeindruckend und sehr lustig. Und das
       Fest – ja, das war toll. Ich habe es mein Lebens- und Hochzeitsfest
       genannt. Über 100 Leute feierten mit, Stefan und ich haben unser
       Hochzeitsversprechen erneuert, wir haben getanzt und gelacht. An dem Tag
       habe ich mich getragen gefühlt, daran erinnere ich mich, wenn es besonders
       schwer ist. Auch wenn ich nicht mehr genau weiß, wer alles dabei war, das
       Gefühl bleibt.
       
       taz: Wie sieht Ihr Alltag heute aus? 
       
       Flaig: Ich versuche, eine feste Struktur zu bewahren. Morgens aufstehen ist
       wichtig, und jetzt im Sommer gehe ich jeden Morgen in der Ostsee baden, mit
       meiner 83-jährigen Nachbarin. Danach gehe ich laufen. Nach dem Sport geht’s
       mir schon mal körperlich gut. Der nächste Punkt ist saubermachen. Das ist
       wichtig, weil ich mir sagen kann, dass ich wieder was geschafft habe. Dann
       gucke ich, was sonst so ansteht. Ich bin oft verabredet oder muss zur
       Ergotherapie. Manchmal besuche ich Stefan bei seiner Arbeit. Aber mir fehlt
       etwas Sinnstiftendes. Ab Herbst organisiert die Alzheimergesellschaft
       Schleswig-Holstein wieder Lesungen für mich. Wenn ich das noch kann. Denn
       die Krankheit ist schnell. Schneller, als ich dachte.
       
       taz: Sie wirken, trotz dieser Perspektive, sehr fröhlich. Ist das wirklich
       so? 
       
       Flaig: Jetzt bin ich gerade wirklich fröhlich, und ich freue mich jeden Tag
       über viele kleine Dinge. Ich freue mich, dass ich es jeden Morgen schaffe,
       aufzustehen, und ich freue mich, wenn ich etwas erledigt habe. Mir ist
       klar, dass mich da draußen, außerhalb von Familie und Freundeskreis, keiner
       mehr braucht. Also konzentriere ich mich auf die kleinen Dinge, die ich
       früher nie so gewürdigt habe. Ich freue mich, wenn mein Enkel froh ist,
       mich zu sehen, ich freue mich, wenn ich den Mut habe, Menschen anzusprechen
       und zu fragen, wie es ihnen geht. Kleine Dinge können groß werden.
       
       taz: Von dieser Haltung könnten sich die meisten Leute eine Scheibe
       abschneiden … Aber das klappt sicher nicht immer? 
       
       Flaig: Ich denke, wenn ich diese Haltung aufgebe, wenn ich die Freude an
       den kleinen Dingen verliere und den schlimmen Seiten zu viel Platz
       einräume, dann begebe ich mich auf einen Weg, der noch tiefer in die
       Krankheit führt. Und damit fange ich an, mich selbst aufzugeben. Dagegen
       wehre ich mich, auch wenn ich merke, dass mein Radius klein und immer
       kleiner wird.
       
       taz: Was ist Ihr Rat an andere Leute, die sich im Frühstadium einer
       Demenzkrankheit befinden? Welche Tipps können Sie ihnen geben? 
       
       Flaig: Ganz wichtig finde ich, die Fee Dementia anzunehmen und offen mit
       ihr umzugehen. Gerade diese Offenheit erleichtert den Alltag unglaublich.
       Denn es ist sehr anstrengend, eine Fassade zu bewahren und immer so zu tun,
       als hätte man nur einmal zufällig etwas vergessen. Das Schwierige an der
       Erkrankung ist, dass man sie den Betroffenen von außen nicht ansieht. Wenn
       ich nicht klar sage, was mit mir los ist, denken andere vielleicht: Na, die
       Britta könnte sich doch mal wieder melden. Aber das schaffe ich nicht mehr.
       Dagegen freue ich mich sehr, wenn meine Lieben sich bei mir melden. Ich bin
       gut eingebettet in einen Freundeskreis, aber kann nicht mehr so eine aktive
       Rolle einnehmen, ich brauche es, dass andere mich einladen und mitnehmen.
       Also: früh sein Umfeld aufklären und kommunizieren, was los ist. Wichtig
       ist auch, sich die Hilfe von Profis zu holen, etwa bei der
       Alzheimergesellschaft. Die haben tolle Ideen und geben Rat, die können auch
       Tipps zu Pflege und Unterstützung geben. Es gibt durchaus viele Hilfen,
       aber das Problem ist, dass niemand kommt und es einem sagt, man muss sich
       selbst kümmern. Und das ist wiederum praktisch nicht möglich, wenn man eine
       Demenz hat. Es braucht also Menschen, die einem dabei helfen.
       
       29 Jul 2025
       
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