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       # taz.de -- Künstlerin Šejla Kamerić über Srebrenica: „Sich weigern, Opfer zu sein“
       
       > Auch 30 Jahre nach dem Genozid von Srebrenica sucht Šejla Kamerić nach
       > Wahrheit. Wie ihre Kunst das kollektive Trauma aufarbeitet.
       
   IMG Bild: Wem gehörte die Jacke? In ihrer Installation „Ab uno disce omnes“ untersucht Šejla Kamerić Massengräber aus dem Bosnienkrieg
       
       taz: Frau Kamerić, „No teeth? A mustache? Smell like shit? Bosnian girl!“,
       diese Sätze sprayte 1994/95 während des Bosnienkriegs ein unbekannter
       niederländischer Soldat auf die Wand der Armeekaserne in Potočari,
       Srebrenica. Bis zu 450 Blauhelmsoldaten waren in der ostbosnischen
       Kleinstadt stationiert, um die Zivilbevölkerung zu schützen. Trotzdem
       konnten in der Woche des 11. Juli serbische Einheiten vor den Pforten der
       damaligen UN-Stellung ihre Opfer selektieren, mehr als 8.000 Bosniaken
       ermordeten sie bei Srebrenica. Ein Foto vom Graffiti des Soldaten
       überblendeten Sie für eines Ihrer Kunstwerke mit Ihrem Selbstporträt. Was
       ist die Geschichte hinter Ihrer Arbeit „Bosnian Girl“? 
       
       Šejla Kamerić: Der Fotograf Tarik Samarah zeigte mir damals seine Bilder
       aus Srebrenica. Über mehrere Jahre hinweg hatte er die Überlebenden des
       Genozids, die Exhumierung von Massengräbern, die Identifikation der Opfer
       und deren Wiederbestattung dokumentiert. Eines seiner Fotos zeigte ein
       Graffiti, das ein UN-Soldat, der während des Krieges in Srebrenica
       stationiert war, hinterlassen hatte. Die Botschaft dieses Graffiti hat mich
       tief bewegt. Sie traf mich auf einer persönlichen Ebene. Ich verwandelte
       sie in ein Plakat, gemeinsam mit einem Porträt von mir, das Tarik
       aufgenommen hatte. Ich wollte es im öffentlichen Raum, auf der Straße
       zeigen – ganz bewusst ohne die Beteiligung anderer Menschen oder
       Institutionen. Ich wollte die Last dieser Botschaft nicht auf andere
       abwälzen, ich wollte sie selbst tragen. Das war noch, bevor es soziale
       Medien in der Form gab, wie wir sie heute kennen. Doch durch
       Zeitungsanzeigen, Postkarten und Plakate wurde „Bosnian Girl“ fast
       augenblicklich bekannt. Ich kontaktierte verschiedene Medienhäuser und bat
       sie, das Bild zu veröffentlichen – und alle kamen dieser Bitte nach. Es gab
       jedoch auch Verwirrung und Kritik. Als die [1][„Bosnian Girl“-Plakate] am
       11. Juli 2003 in den Straßen von Sarajevo auftauchten, waren manche
       Menschen schockiert. Die US-Botschaft in Bosnien ordnete an, dass alle
       Plakate in der Nähe der Botschaft entfernt werden sollten. Doch der
       bedeutendste Moment für mich war, als sich die Mütter von Srebrenica mit
       dem Bild identifizierten.
       
       taz: Die [2][Mütter von Srebrenica] sind eine Vereinigung mehrerer tausend
       Frauen, deren Angehörige im Genozid von Srebrenica ermordet wurden. Sie
       stritten jahrzehntelang für die Strafverfolgung der Täter und für ein
       würdiges Erinnern. Außerdem verklagte die Vereinigung den niederländischen
       Staat erstmals 2007 auf Schadensersatz. Ein Foto zeigt, wie einige von
       ihnen das Bild „Bosnian Girl“ vor dem Amt des niederländischen
       Ministerpräsidenten hochhalten. Wie nahmen Sie diesen Moment wahr? 
       
       Kamerić: Für mich bedeutete es, dass ich erfolgreich war: Mein Körper wurde
       zur universellen Darstellung eines Opfers, das sich weigerte, nur Opfer zu
       sein.
       
       taz: Welche Rolle spielt Aneignung in Ihrer Arbeit – vom Körper, von
       Identität, von Erinnerung? 
       
       Kamerić: Seit fast 30 Jahren nutze ich Kunst als ein Mittel der
       Kommunikation, der Selbstverortung und Selbstreflexion – und natürlich
       auch, um die Welt um mich herum zu spiegeln. Kunst ist ein kontinuierliches
       Protokoll, das Raum schafft, um unterschiedliche Perspektiven zu verstehen,
       neue Identitäten zu formen – oder sich von jenen zu befreien, die uns von
       außen auferlegt wurden.
       
       taz: Die Verantwortlichen des Genozids von Srebrenica hatten viel gelogen
       und vertuscht. Nach den Morden exhumierten serbische Einheiten die Leichen
       erneut, verteilten sterbliche Überreste über mehrere Massengräber hinweg,
       um die Verbrechen zu verschleiern. Bis heute werden die sterblichen
       Überreste von mehr als 1.000 Opfern vermisst. In Ihrer Arbeit „Forensic
       Archive: From One Learn All“ in Kooperation mit dem ICMP (International
       Commission on Missing Persons) und dem Srebrenica Memorial Center machen
       Sie Methoden der forensischen Wissenschaft erfahrbar. 
       
       Kamerić: Ich möchte nicht über polarisierte historische Wahrheiten
       sprechen, sondern über wissenschaftliche Wahrheit. Geschichte sollte als
       wissenschaftliche Disziplin betrachtet werden. Sie erlaubt es uns, auf
       unbestreitbare Fakten zu bauen und [3][ein wahres Verständnis dessen zu
       gewinnen, was geschehen ist.] Eine meiner Aufgaben bestand darin, eine
       große Menge unterschiedlicher Daten – Beweise, Zeugenaussagen, Bilder,
       Karten und juristische Dokumente – zusammenzutragen und in eine
       künstlerische Form zu übersetzen. Über drei Jahre hinweg arbeitete ich eng
       mit 20 Forschern zusammen, um alle forensischen Beweise des Krieges
       wissenschaftlich zu untersuchen.
       
       taz: Ist es nicht zu viel von Kunst verlangt, dass sie [4][historische
       Wahrheiten vermitteln muss]? 
       
       Kamerić: Kunst sollte diese Verantwortung nicht tragen müssen. Justiz und
       Politik sollten sich mit den Fakten befassen, damit die Kunst frei sein
       kann, Fragen zu stellen und neue Antworten zu suchen. In einer Zeit, in der
       moralische und ethische Werte erodieren, müssen wir erkennen, dass die
       Justiz und Politik ihre Rollen erfüllen müssen. In Kunstwerken sollte Raum
       für unterschiedliche Antworten sein, für Antworten, die sich im Laufe der
       Zeit ändern können. Daneben stehen die Fakten, und hier kommt die
       Wissenschaft ins Spiel. Kunst darf niemals die Bedeutung der Wissenschaft
       untergraben – und umgekehrt.
       
       taz: Wie nähert man sich als Künstler*in dem Thema Genozid, das so tief
       gehende individuelle und kollektive Wunden in sich trägt?
       
       Kamerić: Der Genozid von Srebrenica wird auf die ehrlichste, schönste,
       kraftvollste und zugleich schmerzhafteste Weise durch Kunst festgehalten.
       Am Anfang meiner Karriere, als ich „Bosnian Girl“ schuf, war meine Arbeit
       eng mit meinen Emotionen verbunden und beruhte in erster Linie auf
       persönlichen Erfahrungen. Sie drehte sich um Themen wie Krieg, Verlust,
       Vertreibung und sexualisierte Gewalt. Mit der Zeit durchlief ich – durch
       Therapie und meine eigene künstlerische Praxis – einen Heilungsprozess. Er
       ermöglichte mir, meine Emotionen nach außen zu tragen. Das versetzte mich
       in eine privilegierte Position, aus der heraus ich beginnen konnte, auch
       die Geschichten anderer auf eine neue Weise zu reflektieren.
       
       taz: Wie kann sich Geschichte in der Kunst spiegeln? 
       
       Kamerić: Historisch stand Kunst immer für die komplexen Emotionen, mit
       denen wir im Umgang mit Trauma konfrontiert sind. Jedes Kunstwerk, das aus
       Schmerz und Trauma entsteht, genauso wie unsere Auseinandersetzung damit,
       hilft uns, damit umzugehen, sei es individuell oder kollektiv. Gleichzeitig
       ist es wichtig anzuerkennen, [5][dass Heilung nie die Verantwortung von
       Kunst ist.] Kunst ist ein wunderbares Werkzeug für alle. Doch sobald Kunst
       politisiert wird, verliert sie ihre Kraft, weil sie ihre Freiheit verliert.
       Heute wird oft vergessen, dass Kunst vor allem Freiheit bedeutet: die
       Freiheit, uns auszudrücken, und die Freiheit, frei zu leben – befreit von
       Machtstrukturen. Eine der wertvollsten menschlichen Fähigkeiten ist es,
       Kunst zu schaffen und sie genießen zu können.
       
       11 Jul 2025
       
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