URI:
       # taz.de -- Neue Bundesregierung um Friedrich Merz: Normal schlägt Zeitenwende
       
       > Merz' Regierungsprogramm zeigt, dass er und die Union ganz
       > Grundsätzliches nicht verstanden haben – die Klimakrise zum Beispiel.
       
   IMG Bild: Erster Kanzlerkandidat, der im ersten Wahlgang nicht die erforderliche Mehrheit erhielt: Friedrich Merz
       
       Es ist dieser fassungslose Blick von Friedrich Merz, der mir im Kopf
       bleibt. Als ich am Dienstag am Fernseher das Konklave im Bundestag
       verfolge, fängt die Kamera von Phoenix ein paar dieser Szenen ein: [1][Die
       großen Augen des späteren Bundeskanzlers, seine sichtbare Erschütterung].
       Betroffenheit, Unverständnis, in welche Gesichter die Kamera auch schaut:
       Carsten Linnemann, Jens Spahn, Alexander Dobrindt, Lars Klingbeil, Julia
       Klöckner.
       
       Aber auch die Opposition versteht die Welt nicht mehr an diesem 6. Mai
       morgens kurz vor zehn Uhr. Sie gucken alle ganz schön bedröppelt aus der
       Wäsche. Und: Keiner weiß erst mal, was zu tun ist. Dass ein Kanzler bei
       seiner Wahl im ersten Wahlgang scheitert, ist in den Systemeinstellungen
       der Bundesrepublik Deutschland nicht vorgesehen.
       
       Den Spott und die Häme darüber überlasse ich gern den blauen Trollen im
       Parlament und allen anderen im Netz. Für mich zeigt die Fassungslosigkeit
       der politisch Verantwortlichen im Land (von den Unverantwortlichen reden
       wir hier mal nicht), wie sehr sich niemand vorstellen kann, dass hier
       wirklich mal was schiefläuft.
       
       80 Jahre nach Kriegsende gehen wir immer und grundsätzlich davon aus, dass
       irgendwie alles funktioniert. Dass die Post kommt, dass das Wasser aus dem
       Hahn fließt, dass sogar in Berlin irgendwann der Müll abgeholt wird.
       
       ## Selbstunzufriedenheit und Selbstfokussierung
       
       Die Betroffenheit im Bundestag und „draußen im Land“ zeigt: Mit externen
       Schocks rechnet hier niemand. Sie werden ignoriert, auch wenn sie draußen
       im Land permanent passieren und nicht mehr rückgängig zu machen sind: Der
       heißeste Februar/März/April seit Aufzeichnungen; die weltweite
       Überschreitung der 1,5-Grad-Grenze; das Aussterben von Pflanzen und Tieren;
       die Zerstörung der globalen Wälder; die Versauerung und Aufheizung der
       Meere; der Plastikmüll noch am letzten Südseestrand.
       
       Aber auch die Schuldenkrise in den Entwicklungsländern, das Elend in den
       Kriegsgebieten und die Bedrohung vor allem der armen Menschen dieser Erde –
       all das wird von einer Selbstunzufriedenheit und Selbstfokussierung
       verdrängt, die aus Deutschland den Nabel der Welt macht.
       
       Die Regierung Merz ist das beste Beispiel für die Selbstverständlichkeit,
       mit der die CDU/CSU das Land regieren und wieder in den „Normalzustand“
       versetzen will. Normal heißt für sie: Die Union regiert, die Wirtschaft
       brummt, Deutschland gewinnt beim Fußball. So hat Friedrich Merz seine
       Regierung aufgestellt und ausgerichtet: Zeitenwende gibt es bei ihm nur
       fürs Militär, vielleicht noch ein bisschen Digitalisierung mit Robotern und
       Raumfahrt.
       
       ## Kein zweiter Wahlgang für die Bewältigung anderer Zeitenwenden
       
       Die anderen Zeitenwenden werden ignoriert und abgewickelt: Die globale
       Migrationsbewegung, die eskalierende Klimakrise, der Kontrollverlust
       über die Lebensgrundlagen, Lieferketten und unseren Wohlstand – alles keine
       Themen, die ernsthaft angepackt werden. Die Regierung Merz stutzt die
       zuständigen Ministerien, kürzt die Entwicklungshilfe und schafft die
       Beauftragten für woken Klimbim wie Klimapolitik, Meeresschutz oder
       Radverkehr als erste Amtshandlung gleich mal ab.
       
       [2][Umwelt, Klima und Nachhaltigkeit werden in allen anderen Ministerien
       eingedampft] und wieder „wie normal“ im Streichelzoo des Umweltministeriums
       geparkt. „Wer so was macht, hat nicht verstanden, worum es geht“, sagt die
       neue Bildungsministerin Karin Prien zum Wahldebakel von Merz – aber es
       passt auf sein ganzes Regierungsprogramm.
       
       Am Nachmittag des 6. Mai ist Friedrich Merz die Erleichterung anzusehen.
       Mit den Stimmen all der Spinner, die in seiner Welt nicht alle Tassen im
       Schrank haben, ist ein CDU-Politiker der zehnte Bundeskanzler der
       Bundesrepublik Deutschland. Das Land ist also zurück auf normal. Das
       Problem ist nur: Für die Bewältigung all der anderen Zeitenwenden gibt es
       keinen zweiten Wahlgang.
       
       8 May 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /-Liveticker-zur-Kanzlerwahl-/!6086504
   DIR [2] /Linguist-ueber-den-Koalitionsvertrag/!6085062
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bernhard Pötter
       
       ## TAGS
       
   DIR Wir retten die Welt
   DIR Friedrich Merz
   DIR Regierungsbildung
   DIR CDU/CSU
   DIR SPD
   DIR Schwarz-rote Koalition
   DIR Social-Auswahl
   DIR Karin Prien
   DIR Haushalt
   DIR Lars Klingbeil
   DIR Friedrich Merz
   DIR Regierungsbildung
   DIR Friedrich Merz
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Gleichstellung unter der CDU: Prien nun auch Frauenministerin
       
       Karin Prien ist für vieles zuständig. Nun hat sie ihre erste
       gleichstellungspolitische Rede vor dem Deutschen Frauenrat gehalten. Wie
       kam sie an?
       
   DIR Neue Steuerschätzung: Kein Traumstart für Klingbeil
       
       Bis 2029 muss der Bund wohl mit 33 Milliarden Euro weniger auskommen. Für
       den neuen SPD-Finanzminister ist das keine gute Nachricht.
       
   DIR Stärkster Landesverband: NRW-SPD rechnet mit Klingbeil ab
       
       Beim Landesparteitag der nordrhein-westfälischen Genoss:innen muss sich
       SPD-Bundeschef Lars Klingbeil harte Kritik anhören. Dennoch will er die
       Partei nicht nach links rücken.
       
   DIR Friedrich Merz' Kanzlerwahl: Bauchklatscher mit Ansage
       
       Nach der bitteren Niederlage am Morgen ist die Kanzlerwahl für Merz im
       zweiten Durchgang gerade noch mal gut gegangen – aber zu welchem Preis?
       
   DIR Linguist über den Koalitionsvertrag: „Das Wort Klimakrise kommt gar nicht mehr vor“
       
       Am Montag unterzeichnen Union und SPD den Koalitionsvertrag. Der
       Politikwechsel schlage sich auch sprachlich nieder, sagt Linguist Simon
       Meier-Vieracker.
       
   DIR Regierungsbildung: Das sind die Minister und Ministerinnen der Union
       
       Das Kabinett von CDU und CSU steht – mit einigen Überraschungen. Die CDU
       stellt sieben der siebzehn Minister und Ministerinnen, die CSU drei.