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       # taz.de -- FIND-Theaterfestival: Auch im Intimsten sitzt die Gesellschaft
       
       > Beim FIND-Festival für zeitgenössische Dramatik sind Stimmen von Menschen
       > zu hören, die sonst im Schatten der großen Ereignisse stehen.
       
   IMG Bild: Unter viel Druck arbeiten Näherinnen am königlichen Hochzeitskleid: Szene aus „Lacrima“
       
       Der wallonische Schauspieler Cédric Eeckhout beginnt „Du bist …“, dann hält
       er inne. Er trägt ein langes rotes Ballkleid mit paillettenbesetzten
       Spaghettiträgern und leicht verschmierte, dicke Kajalstriche unter den
       Augen. Langsam lässt er seinen warmen Blick von rechts nach links über alle
       Zuschauerreihen gleiten. Er lässt sich Zeit, will mit jedem Einzelnen eine
       Verbindung aufbauen. Als er mit der Person direkt vor sich Augenkontakt
       aufnimmt, wird sein Lächeln intensiver – und er beendet seinen Satz: „…
       eine Heldin.“
       
       Um diese Heldin, die in der ersten Reihe vor Eeckhout sitzt, dreht sich in
       diesem Theaterstück alles. Es ist Jo Libertiaux, Eeckhouts 79-jährige
       Mutter. Und es ist ein bewegender Moment an diesem Samstagnachmittag in der
       Nebenspielstätte Ku’damm 56 der Berliner Schaubühne. Einige Zuschauer
       wischen sich diskret über die Augen.
       
       Gerade noch stand Libertiaux mit ihrem Sohn vor dem Publikum. Gemeinsam
       haben sie, begleitet von der Musikerin Pauline Sikirdji, mit wenigen
       Requisiten, Film- und Fotoprojektionen ihr Leben erzählt. Unsentimental,
       ehrlich und gerade auch deshalb zutiefst berührend.
       
       ## Politische Erkundung des Privaten
       
       „Héritage“ heißt das autobiografische Stück von Cédric Eeckhout. Zu sehen
       ist es auf dem diesjährigen [1][FIND-Festival] der Schaubühne, dem großen
       internationalen Theaterfestival für zeitgenössische Dramatik in Berlin.
       
       Dieses Jahr sind Inszenierungen aus Frankreich, Belgien, Irland, Spanien,
       den USA und Kirgisien eingeladen. Fast alle sind zum ersten Mal in
       Deutschland zu sehen. Kuratorischer Leitfaden sei in diesem Jahr die
       politische Erkundung des Privaten, steht in der Programmzeitung. Erkundet
       werden soll, welche Spuren gesellschaftliche Umbrüche in unseren intimsten
       Beziehungen hinterlassen.
       
       Ein fruchtbarer Ansatz, wie das Eröffnungswochenende zeigt. Zu Gehör
       gebracht werden ausschließlich Stimmen von Menschen, die im Schatten der
       großen Ereignisse stehen. Und deren Existenzen natürlich trotzdem davon
       geprägt sind.
       
       Das Stück „Héritage“ ist dafür exemplarisch. Das Leben der 1945 geborenen
       Jo Libertiaux wirkt auf den ersten Blick eher konventionell: Mit 19 Jahren
       heiratet sie einen Elektriker und bringt vier Söhne zur Welt. Das
       erarbeitete Geld gibt sie für ein Eigenheim, Reisen, schöne Kleider und
       modernste Haushaltsgeräte aus. Ob sie von der 68er-Revolte gehört habe,
       fragt Eeckhout seine Mutter an einer Stelle im Stück. Doch, schon, sagt
       sie. Aber sie habe andere Ziele gehabt. Ob sie nicht die Welt verändern
       wollte? Nein, ist ihre ehrliche Antwort.
       
       ## Ein bisschen mehr Frau sein
       
       Und doch lebt in ihr ein libertärer Geist. Die Alltagsrepressionen, die die
       Ehe für Frauen in den 60er Jahren bedeutet, das patriarchale Verhalten ihre
       Ehemanns – irgendwann reicht es Libertiaux. Mit 37 Jahren lässt sie sich
       scheiden. Gesellschaftliche Stigmatisierung und finanzielle Nöte erträgt
       sie mit eisernem Willen und baut sich und ihren vier Söhnen ein neues Leben
       auf.
       
       Für sie würde keine Statue gebaut, keine Straße und kein Platz würde nach
       ihr benannt, sagt Eeckhout am Ende des Stücks, und doch habe ihr Leben die
       Geschichte vorangetrieben. Seine auf jeden Fall. Denn obwohl er ein Mann
       sei und Männer liebe, sei es ihm dank des Vorbilds seiner mutigen Mutter
       möglich, ein bisschen mehr Frau zu sein. Politischer kann das Private kaum
       sein.
       
       Um eine ganz andere Mutterfigur geht es in der jüngsten Inszenierung des
       Schweizer Regisseurs [2][Milo Rau] am Freitagabend im großen Saal der
       Schaubühne. Rau, der für seine provokanten theatralen Zugriffe auf aktuelle
       politische Themen bekannt ist, verknüpft darin den antiken Medea-Mythos vom
       Kindsmord der betrogenen Mutter mit einem realen belgischen Kriminalfall:
       2007 hat in der Kleinstadt Nivelles eine Mutter ihre fünf Kinder im Alter
       von drei bis vierzehn Jahren mit geradezu mathematischer Systematik
       ermordet.
       
       Auch Rau rückt für seine Inszenierung marginalisierte Stimmen ins Zentrum,
       und zwar die der verletzlichsten und machtlosesten Mitglieder jeder
       Gesellschaft: Er lässt die Geschichte auf der Bühne bis auf eine
       Erwachsenenrolle von einem Kinderensemble erzählen. Und das auf eine Art,
       die so manchem im Zuschauerraum flau im Magen werden lässt.
       
       Der Beginn der Inszenierung ist eigentlich ihr Ende: Sieben Stühle stehen
       vor dem heruntergelassenen roten Vorhang. Fünf Kinder zwischen acht und
       dreizehn Jahren kommen zu einer gespielten Nachbesprechung auf der Bühne.
       Moderator und einziger Erwachsener auf der Bühne ist der Schauspieler Peter
       Seynaeve.
       
       Die Kinder erzählen, wie es ihnen während der Aufführung ergangen ist – und
       kommen darüber ins reale Nachspielen der Geschichte und am Ende der Morde.
       In einem für Rau typischen Reenactment stellen die Kinder die brutalen
       Tötungen aller fünf Kinder nach. Minutenlang, gefühlt stundenlang. Mit
       verzweifelten Schreien, Röcheln und literweise Theaterblut. Alles mit der
       Handkamera gefilmt und in Großaufnahme live auf die Bühnenrückwand
       projiziert.
       
       Selten wurde die Grausamkeit von Kindermorden mit so viel realistischer
       Vehemenz auf die Bühne gebracht. Mehrere Zuschauer fallen in Ohnmacht, ein
       Theaterarzt muss gerufen werden, viele verlassen den Theaterraum. Raus Plan
       ist aufgegangen.
       
       Doch seine Versuchsanordnung hat aus einem ganz anderen Grund einen
       seltsamen Beigeschmack. In den klassischen Tragödien seien die Kinder zum
       Schweigen verdammt, wird Milo Rau im Programmheft zitiert. In seinem Stück
       bekämen sie nun endlich eine Stimme. Ein ehrenwerter Ansatz.
       
       ## Schuften für das Hochzeitskleid
       
       Die Kinder auf der Bühne sind ungemein souverän, schlagfertig und schlau,
       aber auch irgendwie zu erwachsen für ihr Alter. Welches Kind sagt mit
       sieben Jahren schon Sätze wie: „Meiner Meinung nach wurde Aischylos nur von
       Beckett übertroffen“ oder: „Wer schreibt heute noch psychologische
       Dramen?“.
       
       Werden die Kinder hier nicht doch wieder nur zum Medium eines starken
       künstlerischen Willens?
       
       Am Sonntagabend, zum Abschluss des Eröffnungswochenendes, entwirft die
       französisch-vietnamesische Regisseurin Caroline Guiela Ngyuen dann noch ein
       ganz großes Tableau der marginalisierten Stimmen. Ihr 2024 entstandenes
       Stück „Lacrima“ erzählt von der Produktion eines Hochzeitskleides für das
       britische Königshaus. Oder besser gesagt: von den Menschen, die rund um den
       Globus acht Monate lang an diesem Traum in Weiß arbeiten.
       
       Hunderttausende von Perlen werden aufgenäht, kunstvolle Spitze mit Fäden
       gestickt, die dünner sind als Haare – und das alles unter strengster
       Geheimhaltung. Der Anspruch ist hoch, der Druck ist groß. Eine Figur in der
       Erzählung wird davon am Ende in den Suizid getrieben.
       
       Nguyen nutzt alle möglichen Kommunikationskanäle, um die Welt auf die Bühne
       des großen Saals der Schaubühne zu holen: Zoom-Konferenzen, Sprach- und
       Textnachrichten, Radiosendungen, Telefonate. In diesem rasanten epischen
       Erzählfluss verkommt die eine oder andere Figur zur Karikatur, auch die
       Grenze zum platten Luxusbashing ist immer wieder erschreckend nah – wird
       dann aber doch nie überschritten.
       
       Vielmehr gelingt Nguyen das Kunststück, die Ambivalenz zwischen der
       Faszination von [3][Perfektion und Schönheit] einerseits und andererseits
       dem unmenschlichen Preis, den sie fordern kann, glaubwürdig darzustellen –
       und damit die Würde ihrer hart arbeitenden Figuren bis zum Schluss zu
       bewahren.
       
       7 Apr 2025
       
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       ## AUTOREN
       
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