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       # taz.de -- Kongress zum Völkerrecht: Gerechtigkeit in Trümmern
       
       > Russland tritt das Völkerrecht mit Füßen. Glaubt überhaupt noch jemand
       > dran? In Nürnberg fand zu dieser Frage an historischem Ort ein Kongress
       > statt.
       
   IMG Bild: Wann wird sich Russland für seine Kriegsverbrechen verantworten? Zerstörtes Autofenster mit Rotem Kreuz, 10. April 2022, Butscha
       
       Ungewissheit und das Gefühl, dass eine neue, schwierige Zeit anbricht,
       liegen in der Luft. Das ist der Hintergrund des zweitägigen Kongresses
       „Lebendige Menschlichkeit“ der Bundeszentrale für politische Bildung, der
       am 18. und 19. Februar im Saal 600 des Justizpalastes Nürnberg stattfand.
       Expert:innen diskutierten über Kriegsverbrechen, universelle Rechte und
       die Zukunft der Gerichtsbarkeit mit Schwerpunkt auf dem Krieg in der
       Ukraine, während die alte Weltordnung wegzubrechen scheint.
       
       Der Saal 600 ist ein historischer Veranstaltungsort. Hier fanden nach dem
       Zweiten Weltkrieg die [1][Nürnberger Prozesse] statt, die ein Meilenstein
       für das Völkerrecht waren. Nach den Schrecken des Krieges und des
       Holocausts herrschte in der internationalen Gemeinschaft Einigkeit darüber,
       dass die Drahtzieher dieser schrecklichen Verbrechen unbedingt zur
       Rechenschaft gezogen werden müssen.
       
       Und nun, acht Jahrzehnte später, möchte Trump mit Putin, gegen den der
       Internationale Strafgerichtshof vor zwei Jahren wegen Kriegsverbrechen
       einen Haftbefehl erlassen hat, wieder einen „Deal“ machen, redet ihm nach
       dem Mund und verbreitet fiese Lügen über die Ukraine. Das Recht des
       Stärkeren scheint statt der Gerechtigkeit, die internationale Institutionen
       des Völkerrechts weltweit garantieren sollen, wieder zu herrschen.
       
       Sind die Ideale der Menschlichkeit passé? Während der drei Jahre
       Großinvasion und elf Jahre Krieg in der Ukraine haben die russischen
       Truppen unzählige Kriegsverbrechen begangen – und begehen sie nach wie vor.
       Wann werden die Betroffenen Gerechtigkeit erfahren?
       
       ## Erforschung von Genoziden
       
       Patrick Desbois, katholischer Priester und Präsident der Organisation
       „Yahad – In Unum“, die sich der Erforschung von Genoziden widmet, berichtet
       in seiner Keynote-Rede von seiner Feldforschung zum Holocaust, zum Genozid
       an den Jesiden durch den IS, zum Krieg in der Ukraine. Genozid, folgert er,
       sei nicht an die Nationalität der Täter gebunden, es sei eine „menschliche
       Krankheit“.
       
       Man müsse den Opfern unbedingt helfen, die Verbrecher zur Rechenschaft zu
       ziehen, aber die Bilanz sei oft nicht zufriedenstellend. So seien bei über
       30.000 beim Massaker von Babyn Jar in Kyjiw getöteten Jüd:innen 2.000
       Täter beteiligt gewesen, sagt Desbois, aber nur einige wenige
       Schlüsselfiguren für die Verbrechen tatsächlich verurteilt worden.
       
       Angelika Nußberger, Professorin für Staatsrecht, Völkerrecht und
       Rechtsvergleichung an der Universität zu Köln und ehemalige Richterin am
       Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, merkt an, nach
       dem Kalten Krieg habe es einen allgemeinen Konsens über Demokratie und
       Rechtsstaatlichkeit gegeben. Es habe selbst für autoritäre Staaten zum
       guten Ton gehört, sich an den Institutionen des Völkerrechts zu beteiligen.
       
       So urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte etwa, dass
       Russland im Zweiten Tschetschenienkrieg das Recht auf Leben verletzt habe.
       Russland erkannte das an und zahlte – „Russia always pays“, habe man in
       Straßburg gesagt. Diese Zeiten seien vorbei, so Nußberger. Die Geschichte
       habe uns nicht den Gefallen getan, vorbei zu sein, so wie der Philosoph
       Francis Fukuyama es ihr attestierte, sie beschleunige sich vielmehr:
       „Kants ewiger Friede ist in weite Ferne gerückt.“
       
       ## An die Institutionen glauben
       
       Brandaktuell wirken die Worte Hannah Arendts aus ihrer Lessingpreis-Rede,
       von denen der Titel des Kongresses inspiriert ist: „Man könnte wohl sagen,
       dass die lebendige Menschlichkeit eines Menschen in dem Maße abnimmt, in
       dem er auf das Denken verzichtet.“ Die Stützen der öffentlichen Ordnung
       liegen auch in diesen neuen finsteren Zeiten wieder in Trümmern.
       
       Die Diagnose, die immer wieder durch die Worte der Redner:innen des
       Kongresses durchschimmert, ist so trivial wie wichtig: An das Völkerrecht
       und die internationalen Institutionen muss geglaubt werden, ihre
       Entscheidungen müssen anerkannt werden, sonst verlieren sie ihre
       Wirksamkeit. Vollkommene Gerechtigkeit gab es freilich nie – aber doch
       zumindest den Wunsch, in Richtung dieses Ideals zu streben.
       
       In der anschließenden Diskussion bemerkt Nußberger, dass autoritäre
       Akteur:innen Menschenrechte nicht einfach negieren, sondern ideologisch
       umkehren. Das zeige sich an Putins Reden, aber auch bei J. D. Vance. Dass
       Menschenrechte von allen verschieden verstanden und zum Kampfbegriff
       werden, halte sie für eine schockierende Entwicklung.
       
       Der zweite Tag des Kongresses fand ebenfalls in einem historischen Gebäude
       statt, im Alten Rathaus von Nürnberg. Der ukrainische Menschenrechtler,
       Journalist und ehemalige Kriegsgefangene [2][Maksym Butkevych] berichtete
       während des ersten von vielen anregenden Panels an diesem Tag von seinen
       Erfahrungen: „Die Genfer Konvention fand bei uns keine Anwendung.“ Er wies
       darauf hin, dass ukrainische Kriegsgefangene immer wieder hingerichtet
       werden, die Verbrechen von den russischen Soldaten selbst mit Videos
       dokumentiert werden.
       
       Seine Zeit in Kriegsgefangenschaft sei wie „zwei Jahre und vier Monate der
       Menschenrechts-Feldforschung“ gewesen. In der Haft habe er auch die
       verheerende Wirkung der Propaganda verstanden, der Fernseher in seiner
       Zelle lief rund um die Uhr. Er wünschte sich, dass insbesondere die
       Propagandisten, ohne die dieser Krieg nicht möglich wäre, bestraft werden.
       
       Das wird nicht einfach in einer Zeit, in der selbst der US-Präsident
       russische Propaganda verbreitet.
       
       ## Die Grenzen der Gerechtigkeit
       
       Magda Koole, Richterin am Berufungsgericht in Den Haag, ist Realistin:
       „Gerechtigkeit kommt oft spät, und Gerechtigkeit hat auch ihre Grenzen.“
       Sie benannte die vier Möglichkeiten, die Ukrainer:innen haben, um
       Gerechtigkeit zu erfahren. Erstens das Justizsystem der Ukraine. Zweitens
       der Internationale Strafgerichtshof, der den Haftbefehl gegen Putin
       erlassen hat – was von großem symbolischen Wert sei. Drittens das System
       der universellen Gerichtsbarkeit, wenn unbeteiligte Länder wie Deutschland
       über die Verbrechen richten. Und viertens die Einrichtung eines Tribunals.
       
       Dass auch zusätzliche „zivilgesellschaftliche“ Strategien existieren, davon
       berichtete der Schriftsteller und Journalist Stanislaw Assjejew, der nach
       Beginn der russischen Aggression im Osten der Ukraine 2014 in Donezk blieb
       und das Geschehen dokumentierte. Er landete im berüchtigten Foltergefängnis
       Isoljazija, in einem ehemaligen Kunstzentrum.
       
       Seine Erfahrungen verarbeitete er zunächst literarisch. Jetzt zahlt der von
       ihm gegründete Justice Initiative Fund Belohnungen für Hinweise über
       russische Kriegsverbrecher aus, darunter über diejenigen, die ihn
       persönlich folterten. Vorbild sei für ihn die Strategie Israels, das nach
       dem Zweiten Weltkrieg weltweit Nationalsozialisten jagte – wenngleich es
       gegenwärtig keine Möglichkeiten gebe, die Verbrecher in die Ukraine zu
       bringen. Aber ihr Tod an der Front sei für ihn „auch eine Form der
       Gerechtigkeit“.
       
       ## Zerbombte Krankenhäuser
       
       Die in Wien lebende Publizistin Maynat Kurbanova berichtete von den
       Schrecken der Tschetschenienkriege, die sie selbst erleben musste. Schon
       damals zerbombte die russische Armee Krankenhäuser, unzählige
       Zivilist:innen starben, aber keiner habe den Tschetschen:innen
       zugehört.
       
       Den Epilog zur Veranstaltung hielt [3][Omri Boehm,] Professor für
       Philosophie an der New School for Social Research in New York. Es gelte,
       die Logik des totalen Krieges zu verhindern. Jeder Mensch verdiene Schutz –
       auch Palästinenser:innen. Doch die aktuellen Ereignisse in Israel und in
       der Ukraine ließen Zweifel aufkommen, „ob wir das Ideal des ewigen Friedens
       ernst nehmen“.
       
       25 Feb 2025
       
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       ## AUTOREN
       
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