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       # taz.de -- Israelische Künstlerin Ruth Patir: Die Last des weiblichen Körpers
       
       > Die feministische Saga „(M)otherland“ der Künstlerin Ruth Patir wurde
       > wegen des Gazakriegs nicht öffentlich gezeigt. Nun wird sie doch
       > ausgestellt.
       
   IMG Bild: Die Künstlerin Ruth Patir, umgeben von Figuren aus ihrer Ausstellung „(M)otherland“
       
       Als [1][die 60. Kunstbiennale von Venedig] letzten November zu Ende ging,
       hatte eine vollständig installierte Ausstellung nie eröffnen können. Der
       israelische Pavillon, der rund um die Uhr von der Polizei bewacht werden
       musste, blieb tragischerweise während der gesamten sieben Monate der
       Biennale für das Publikum unzugänglich.
       
       Tragisch ist es aus mehreren Gründen, wobei wohl der schwerwiegendste ist,
       dass zwischen der israelischen Regierung und Vertretern der Hamas und des
       Islamischen Dschihad kein Abkommen über einen Waffenstillstand und die
       Freilassung der Geiseln zustande kommen konnte. Hätte es ein solches
       Abkommen gegeben, hätte die Künstlerin Ruth Patir die Ausstellung eröffnet,
       wie sie und die Kuratorinnen Mira Lapidot und Tamar Margalit erklärt
       hatten.
       
       Tragisch ist auch, dass mit Patirs „(M)otherland“ ein besonders
       feministisches Werk nicht öffentlich zu sehen war. In einer Zeit, in der
       die Rechte und Freiheiten von Frauen überall auf der Welt beschnitten
       werden – sei es in totalitären oder demokratischen Regimen –, war der
       verschlossene Pavillon das verdrehte Spiegelbild einer traurigen Realität:
       Die Stimme der Frauen und die entscheidenden Erzählungen über ihren Körper
       gehen in politischen Konflikten oft als Erstes verloren.
       
       Aber nun wird Ruth Patirs „(M)otherland“ doch noch zu sehen sein, wenn auch
       für ein womöglich kleineres Publikum als in Venedig: Kürzlich kündigte das
       Jewish Museum in New York an, die Videoinstallation aufzukaufen. Und bevor
       sie in New York ausgestellt wird, kann Ruth Patir sie diesen März im Tel
       Aviv Museum of Art erstmals öffentlich zeigen. Vorab konnte ich die gesamte
       Installation sehen, zumindest online, darunter die fünf Videos in voller
       Länge.
       
       ## Eine Medizinische Odyssee
       
       In „(M)otherland“ lässt Ruth Patir an ihrer persönlichen medizinischen
       Odyssee teilhaben. Bei ihr war die BRCA2-Genmutation diagnostiziert worden,
       die ein hohes Risiko für Brust- und Eierstockkrebs birgt. Patientinnen wie
       ihr wird daher häufig präventiv die Gebärmutter entfernt.
       
       Als Frau Jahrgang 1984, die im israelischen Gesundheitssystem
       eingeschrieben ist, hat sie Anspruch auf bestimmte, staatlich finanzierte
       Dienstleistungen. Dazu gehört, sich die Eizellen einfrieren zu lassen. Eine
       eigentlich kostspielige Behandlung, die ihr die Möglichkeit gibt, auch in
       Zukunft Kinder zu bekommen.
       
       Aber will sie überhaupt Kinder?, fragt sich die Künstlerin. Und obwohl sie
       dankbar ist, dass der israelische Staat ihr Zugang zu einer solch
       fortschrittlichen Gesundheitsversorgung verschafft, steht Patir seinem
       Interesse an ihrem intimsten Recht, eine lebensverändernde Entscheidung zu
       treffen, zwiespältig gegenüber.
       
       ## Hohe Bedeutung der Mutterschaft im Judentum
       
       Das ist der springende Punkt von „(M)otherland“. Denn das Judentum ist
       traditionell matrilinear. Patir ist nicht entgangen, dass die Anreize des
       israelischen Staats für Frauen, Kinder zu gebären, mit seiner Demografie zu
       tun haben; die privaten Lebensentscheidungen einer Frau sind in Israel von
       öffentlichem Interesse.
       
       Darüber hinaus liegen die historischen Ursprünge für die hohe Bedeutung der
       Mutterschaft im Judentum in einer uralten Kriegspraxis: der sexuellen
       Gewalt gegen Frauen. Irgendwann in der Spätantike ging man in eine
       matrilineare Tradition über, als man befürchtete, das jüdische Volk stürbe
       aus, würde die Zugehörigkeit zu ihm vom Vater bestimmt.
       
       Doch angesichts des Kriegs in Nahost und der unerträglichen Opfer in der
       Zivilbevölkerung schien eine Auseinandersetzung mit so zeitlosen Themen,
       die Patir anspricht, bislang unerreichbar. Über 20.000 Unterschriften
       verzeichnete ein Boykottaufruf gegen den israelischen Pavillon, und [2][zu
       Beginn der Biennale in Venedig forderten Protestierende seine Schließung] –
       dabei hatte er ohnehin nie eröffnet.
       
       ## Proteste gegen die rechtsextreme Regierung
       
       Interessanterweise war damals ein einziges von Patirs Videos durch die
       Glasfassade des Pavillons zu erspähen, das einen ganz anderen Protest
       zeigt. In der zweieinhalbminütigen Animation „Keening“ bilden menschengroße
       archäologische Terrakottafiguren mit weiblichen Körpern einen jammernden
       Demonstrationszug entlang einer großstädtischen Verkehrsstraße. Der
       Schauplatz ist eine Kreuzung in Tel Aviv, seit Anfang 2023 hatten dort
       viele Tausend Israelis gegen ihre derzeitige rechtsextreme Regierung
       protestiert, auch Ruth Patir.
       
       Ursprünglich waren die wöchentlichen Demonstrationen gegen die geplante
       Justizreform gerichtet, seit dem 7. Oktober 2023 aber protestieren dort die
       Menschen, da noch immer keine diplomatische Einigung über die Freilassung
       der Geiseln und ein Ende des Kriegs in Gaza erzielt wurde.
       
       Warum also ließ sich Ruth Patir überhaupt darauf ein, in Venedig ein Land
       zu repräsentieren, dessen Regierung sie ablehnend gegenübersteht? Weil sie
       es vorzog, in seinem Namen kritische Kunst öffentlich zu zeigen, anstatt
       gar nichts auszusprechen, wie sie vor wenigen Wochen [3][bei einem Berliner
       Symposium über Kunst und Aktivismus] begründete.
       
       ## Abbilder zerbrochener Frauen
       
       Einigen der riesigen Tonfiguren in Patirs animierten Videos fehlen die
       Köpfe oder Gliedmaßen, Risse ziehen sich an ihren runden Körpern entlang
       wie bei den echten archäologischen Artefakten, denen sie nachempfunden
       sind. Diese Abbilder zerbrochener Frauen verkörpern einen universellen
       Schmerz, eine Wut von Müttern, Ehefrauen, Schwestern und Töchtern auf der
       ganzen Welt.
       
       Obwohl es sich um 3D-Animationen handelt, ist ihr Anblick erschütternd –
       die Bilder von durch Gewalt entstellten Menschenkörpern, die seit dem 7.
       Oktober 2023 unsere Bildschirme fluten, haben sich in das kollektive
       Bewusstsein eingebrannt.
       
       Die echten, handtellergroßen Figuren stammen aus den nationalen
       archäologischen Sammlungen in Israel, sie wurden bei Ausgrabungen nahe
       Jerusalem entdeckt und ähneln denen, die überall in der Levante gefunden
       werden – in einer Region, in der alles [4][politisch ist, selbst die
       Archäologie].
       
       Die Forschung ist sich nicht einig über die Funktion dieser rätselhaften
       Figuren, die alle fünf Videos von „(M)otherland“ bevölkern, sagt Ruth Patir
       auf Anfrage. Schon in ihren früheren Arbeiten tauchen sie auf, Patir
       fasziniert die Annahme, diese rudimentären, 3.000 Jahre alten Artefakte
       könnten von einzelnen Frauen nach ihrem eigenen Abbild angefertigt worden
       sein wie Miniaturselbstporträts.
       
       Lange ging man davon aus, dass sie Fruchtbarkeitsgöttinnen darstellten,
       doch nun vermutet die Forschung, die Statuetten aus der Levante könnten
       auch dem Schutz von Haushalten gewidmet sein. Aus ihrer Verbreitung ergibt
       sich das Bild einer henotheistischen Gesellschaft, die einen Gott verehrt,
       aber nicht die Existenz anderer Götter leugnet.
       
       ## Vermittlerinnen weiblicher Handlungsfähigkeit
       
       Bei Ruth Patir und ihrem schonungslosen Humor werden diese uralten
       Frauenfiguren zu Vermittlerinnen weiblicher Handlungsfähigkeit. Und um
       ihnen diese zu verleihen, wird Patir selbst eine von ihnen: In den Videos
       sieht eine Figur mit wallenden Locken der Künstlerin verblüffend ähnlich.
       Sie geht in Kliniken ein und aus, führt unangenehme Gespräche mit
       männlichen Ärzten, lässt sich Hormone spritzen und Eizellen entnehmen.
       
       In der quälend langen Szene einer medizinischen Brustuntersuchung kommt
       Unbehagen auf, wenn die Finger eines männlichen Arztes in der Tiefe des
       Brustgewebes nach Unregelmäßigkeiten tasten und dabei in einen rhythmischen
       Trommelschlag übergehen – schließlich sind die hohlen Tonbrüste ein
       perfektes Perkussionsinstrument. Patir wirft einen ebenso pointierten wie
       skurrilen Blick auf die Demütigungen, denen Frauen in der Medizin oft
       ausgesetzt sind.
       
       Auf die Frage, warum sie ihre eigene medizinische Odyssee zum Thema gemacht
       hat, antwortet Patir: „Als junge Kunststudentin in Jerusalem waren die
       führenden Diskurse relationale Ästhetik, partizipative Kunst und
       Postidentität – und alle biografischen Elemente in meiner Arbeit wurden
       sofort negiert. Als ich dann nach New York ging, wurde mir das genaue
       Gegenteil beigebracht: dass die Erzählung in der ersten Person die einzige
       ist, die eine Wahrheit enthält. Diese Gegensätze interessierten mich, vor
       allem als ich nach Israel zurückkehrte, denn sie warfen auch ein Licht auf
       die israelische Identität, die sich ständig vom Individualistischen zum
       zutiefst Gemeinschaftlichen wandelt.“
       
       ## Nachrichten von Kriegen in der Welt
       
       Eine weitere Dualität zieht sich durch Patirs Kunst, wenn sie aktuelle
       Technologien einsetzt – 3D-Programmierung, Trackingverfahren zur Erfassung
       von Gesichtsausdruck und Körperbewegungen –, um diejenigen Technologien zu
       befragen, die unser Leben bestimmen. Taucht in einem der Videos von
       „(M)otherland“ ein Bildschirm auf, etwa als Fernseher in einer Ecke des
       Wartezimmers oder als Smartphone in der Hand einer antiken Figurine, zeigt
       er Fernsehsendungen in Echtzeit. Oftmals sind dann die tatsächlichen
       Nachrichten von Kriegen in der Welt eingeblendet.
       
       Auch die Gespräche in den Kliniken oder zu Hause mit der Familie haben
       wirklich stattgefunden, Patir hat die Tonaufnahmen in ihre Videos
       geschnitten.
       
       „(M)otherland“ reflektiert das Frausein und die Belastungen des weiblichen
       Körpers, auch durch diese geschickt eingewobenen Details, auf eine Weise,
       mit der sich viele Betrachter:innen identifizieren können. Und obwohl
       Ruth Patir beängstigende Themen frontal anspricht, tut sie dies ohne Pathos
       – schließlich spielt sich das Drama des Lebens in den Kleinigkeiten des
       Alltags ab. Die Geschichte von „(M)otherland“ ist zutiefst persönlich und
       verweist doch auf das Universelle. Gut, dass sie in diesem Jahr jetzt doch
       öffentlich gezeigt werden kann.
       
       Aus dem Englischen von Sophie Jung
       
       6 Jan 2025
       
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