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       # taz.de -- Nachruf auf Jimmy Carter: Menschenrechte vor Machtpolitik
       
       > Jimmy Carter war zu ehrlich, um mehr als eine Amtszeit als US-Präsident
       > zu überstehen. Sein guter Ruf heute basiert vor allem auf seiner Zeit
       > danach.
       
   IMG Bild: Als Optimismus noch erlaubt war: Jimmy Carter mit Ägyptens Sadat und Israel Begin nach dem Nahost-Friedensabkommen, 26. März 1979
       
       Jimmy Carter, der am 1. Oktober 100 Jahre alt wurde, ist tot. Der 39.
       Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, der von 1977 bis 1981
       amtierte, war seit Februar 2023 in seinem Haus in Plains, Georgia auf
       eigenen Wunsch medizinisch betreut worden. Er wolle noch so lange
       durchhalten, bis er seine Stimme für Kamala Harris als Präsidentin abgeben
       könne, zitierte ihn sein Enkel Chip im August.
       
       Öffentlich gesehen wurde Carter zuletzt in Atlanta bei der Trauerfeier für
       seine Frau Rosalynn, die im November 2023 starb. Da saß er halb zugedeckt
       in einem Rollstuhl, mit starrer Mimik und wie im Dämmerschlaf. An seinem
       100. Geburtstag beobachtete er den Überflug einer Formation von Jets der US
       Navy über seinem Haus. Am Sonntag ist er gestorben.
       
       Carter war der Pechvogel unter den US-Präsidenten und wurde nach nur einer
       Amtszeit abgewählt, weil er im Amt zu ehrlich gewesen war – seine Bürger
       zogen 1980 den besseren Schauspieler vor, Ronald Reagan. Jimmy Carter war
       ein Moralist, der erstmals Menschenrechte über Machtpolitik setzte, vor
       allem in Osteuropa und der Sowjetunion. Sein Aufstieg aus dem
       Gouverneurssitz des damals noch ländlichen Georgia ins Weiße Haus
       überraschte viele. Für den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt war der
       gläubige Baptist Carter ein stetes Ärgernis – dem nüchternen Hamburger
       erschien der US-Präsident zu idealistisch.
       
       Aber das ist über vier Jahrzehnte her. Für Carter gab es ein Leben nach dem
       Weißen Haus. Da führten Organisationen, die der global engagierte
       Expräsident schuf, in Afrika den Kampf gegen Infektionskrankheiten und
       verhinderten in anderen Ländern des globalen Südens offenen Wahlbetrug. Das
       [1][Carter Center] mit Sitz in Atlanta ist seit 1982 Arbeitsplatz für
       Konfliktforscher und Anlaufstelle für Konfliktbeteiligte, hat sich dem
       Kampf gegen Krankheit, Hunger und Gewalt verschrieben und wird weltweit
       etwa als Wahlbeobachter geachtet. Kein Präsident der USA hat bisher nach
       dem Ausscheiden aus dem Amt so viele Jahre weitergelebt – und so produktiv.
       
       ## Von der Erdnussfarm zur US-Marine
       
       James Earl Carter jr, wie er eigentlich hieß, wurde am 1. Oktober 1924
       geboren und wuchs in Georgia auf einer Erdnussfarm in engem Kontakt zu den
       meist schwarzen Nachbarskindern auf. Im Zweiten Weltkrieg diente er als
       Navy-Leutnant auf U-Booten im Atlantik und Pazifik. Seine politische
       Karriere begann 1962 im Senat von Georgia. Acht Jahre später wurde er im
       zweiten Anlauf Gouverneur und überraschte seine damals noch tief im weißen
       Rassismus verwurzelten Demokraten-Parteifreunde mit der Ansage: „Die Zeit
       der Rassentrennung in Georgia ist vorüber“.
       
       Nach der Präsidentschaft zog Carter zurück in den Bungalow unter Pinien,
       den er 1961 in seinem 800-Seelen-Nest Plains gebaut hatte. Dort stand er
       bis zuletzt unter dem strikten Schutz des Secret Service. Bis zum Beginn
       der Corona-Pandemie 2020 hielt Carter in seiner Kirchengemeinde alle zwei
       Wochen die Sonntagsschule ab. Aus der ganzen Welt pilgerten Bewunderer
       herbei, um dies nicht zu verpassen und sich am Ende mit ihm fotografieren
       zu lassen. Ihm die Hand zu geben oder ihn etwas zu fragen, war den
       Bewunderern aus Sicherheitsgründen untersagt.
       
       Vor seiner Kirchengemeinde gab Carter 2015 bekannt, dass er an Krebs
       erkrankt sei. Ein halbes Jahr später konnte er bestätigen, dass er dank
       Chemo- und Strahlentherapie geheilt sei. Am 7. Juli 2021 feierte er mit
       seiner drei Jahre jüngeren Frau Rosalynn den 75. Hochzeitstag. Ihr Tod zwei
       Jahre später beraubte ihn einer Lebensgefährtin, über die er sagte, sie sei
       „meine gleichwertige Partnerin in allem, was ich erreicht habe“ gewesen. Im
       Weißen Haus war sie die erste First Lady mit eigenem Mitarbeiter:innenstab.
       35 Jahre lang halfen beide jedes Jahr der gemeinnützigen Organisation
       Habitat for Humanity, Häuser für sozial Benachteiligte zu bauen und
       renovieren.
       
       Am 11. Oktober 2002 wurde Jimmy Carter der Friedensnobelpreis verliehen.
       Die Symbolkraft der Entscheidung des Stockholmer Komitees war deutlich: In
       der Nacht zuvor hatten beide Häuser des US-Kongresses Präsident George W.
       Bush ermächtigt, Irak und Diktator Saddam Hussein militärisch anzugreifen.
       Carter wertete seine Auszeichnung in einer ersten Reaktion als Anerkennung
       für die Arbeit des Carter Center und als „Ermutigung für alle, über Frieden
       und Menschenrechte nachzudenken“. Der Irakkrieg von 2003 sei unbedacht
       gewesen und basiere auf Lügen, rügte er dann 2004.
       
       ## Im Schatten von Richard Nixon
       
       Carter war 1976 als US-Demokrat ins Weiße Haus gewählt worden, in den
       Nachwehen des Watergate-Skandals und der von Präsident Richard Nixon, ein
       US-Republikaner, ausgelösten tiefen politischen Vertrauenskrise. Nixons
       Nachfolger Gerald Ford hatte seinen Vorgänger 1974 begnadigt und damit
       einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Vor allem die jüngeren
       US-Bürger:innen hofften, dass mit Carter ein Politiker, der frei sei von
       den eingeübten Washingtoner Kungeleien, dem höchsten Amt im Staat wieder
       Ansehen verschaffen könnte.
       
       Den Präsidentschaftswahlkampf 1976 begann Carter nach eigener Aussage als
       „ein Niemand“, seinen Erfolg in den Vorwahlen führte er auch auf die breite
       Unterstützung durch Popgrößen wie Bob Dylan, Willie Nelson oder Johnny Cash
       zurück. „Alle kannten die Allman Brothers. Die jungen Leute dachten, wenn
       die Allman Brothers ihn mögen, können wir für ihn stimmen“, sagte er
       später.
       
       Carter wurde bei den Wahlen vom November 1976 mit einer knappen Mehrheit –
       50,1 gegen 48 Prozent für Ford – 39. Präsident der USA. Und er führte als
       Präsident einen neuen Stil in Washington ein: Nach seiner Amtseinführung
       ging Carter zu Fuß vom Kapitol zum Weißen Haus, die Präsidentenjacht wurde
       verkauft, und die Speisekarten bei Empfängen in seinem Amtssitz wurden
       fortan auf Englisch und nicht mehr Französisch verfasst. Seine kleine
       Tochter Amy sprang bei offiziellen Anlässen herum. Das brachte ihm
       Pluspunkte bei den Wähler:innen, doch politisch hatte er immer wieder Pech.
       
       Carter kam mit den Hypotheken, die seine Vorgänger hinterlassen hatten,
       nicht zurande. Die Wirtschaft der USA litt unter hohen Ölpreisen und den
       Folgen des Vietnamkriegs. Die Inflation und die Hypothekenzinsen erreichten
       zweistellige Höhe. Ein zweiter Ölschock ließ die Amerikaner 1979 an den
       Tankstellen Schlange stehen.
       
       Auf dem Höhepunkt der Energiekrise zog Carter sich für eine Woche nach Camp
       David zurück und hielt danach eine berühmt gewordene TV-Rede, in der er den
       Bürgern seines Landes eine „Malaise“, eine moralische und spirituelle Krise
       und einen „Mangel an Zuversicht“ attestierte. Er gestand, dass er allein
       das nicht ändern könne. Er forderte sie auf, sich nicht im Konsum zu
       verlieren, selbst ihren Teil zu leisten, etwa Autos zu teilen und die
       Heizungen niedriger zu stellen. Carters offene Worte wurden nicht von allen
       gern vernommen, denn er hatte letztlich den American Way of Life infrage
       gestellt.
       
       ## Gescheitert an der eigenen Außenpolitik
       
       Doch es waren außenpolitische Fragen, an denen seine Präsidentschaft am
       Ende scheiterte. Zunächst war er erfolgreich: Er handelte in kurzer Zeit
       die Rückgabe des Panamakanals von den USA an Panama aus, was ihm in
       Lateinamerika hoch angerechnet wurde. Er ging auf Distanz zu den zuvor von
       den USA unterstützten Militärdiktaturen in Südamerika und akzeptierte 1979
       die Machtübernahme der Sandinisten in Nicaragua. Den 1973 eingeleiteten
       Dialog zwischen Ägypten und Israel trieb er beharrlich voran, bis er
       schließlich im September 1978 in der Abgeschiedenheit von Camp David die
       störrischen Verhandlungspartner Anwar as-Sadat und Menachem Begin auf den
       historischen Deal der nahöstlichen Feinde einschwor.
       
       Die Geburtsfehler des Camp-David-Abkommens wurden bald offensichtlich: Es
       sollte den Nahostkonflikt unter Ausschluss der palästinensischen PLO
       beilegen, es sah nur eine halbherzige „Autonomie“-Lösung für das
       Westjordanland und den Gazastreifen vor, und es sagte nichts zum
       zukünftigen Status Jerusalems. Doch Camp David bedeutete andererseits
       Israels Rückzug von der besetzten ägyptischen Sinai-Halbinsel und ein Ende
       seiner völligen diplomatischen Isolierung in der Region. Begin und Sadat
       erhielten 1978 dafür den Friedensnobelpreis, ebenso wie 16 Jahre später
       Jassir Arafat und Itzhak Rabin für das Friedensabkommen von Oslo.
       
       Carter sah Jahre später ein, dass seine Bemühungen zu kurz gegriffen waren
       und schrieb 2006 ein Buch mit provozierendem Titel ([2][„Palästina –
       Frieden, nicht Apartheid“]), in dem er forderte, Israel müsse sich an das
       Völkerrecht halten und sich aus den seit 1967 besetzten Gebieten
       zurückziehen. Die Palästinenser müssten ihrerseits Israels Recht
       anerkennen, in anerkannten Grenzen zu existieren. Die Forderungen bleiben
       aktuell.
       
       Ereignisse in zwei anderen Staaten wurden Carter dann zum Verhängnis: Iran
       und Afghanistan. In Iran stürzte die schiitische Revolution des Ayatollah
       Khomeini Anfang 1979 das US-freundliche Regime des Schahs, am 4. November
       besetzten Studenten die US-Botschaft in Teheran und nahmen 52 US-Diplomaten
       als Geiseln. Sie forderten die Auslieferung des an Krebs erkrankten Schahs,
       der in einer Klinik in New York behandelt wurde. Die Botschaftskrise in
       Teheran zog sich hin und überschattete das Jahr vor der nächsten
       Präsidentenwahl. Carters Versuch, die Geiseln mit militärischen Mitteln zu
       befreien, endete mit einem Fiasko: Acht US-Soldaten kamen beim Absturz
       ihres Helikopters in der iranischen Wüste ums Leben.
       
       Carter erschien somit als Präsident einer hilflosen Weltmacht. Als zu
       Weihnachten 1979 sowjetische Truppen in Afghanistan einmarschierten,
       entschloss sich Carter zu einem harten Kurs gegen Moskau: Er ließ die
       Olympischen Spiele boykottieren, die 1980 in der sowjetischen Hauptstadt
       stattfanden, und sicherte den islamistischen Widerstandskämpfern am
       Hindukusch trotz Zweifeln an ihren politischen Zielen Militärhilfe zu.
       
       ## Eine zweite, erfolgreichere Karriere
       
       Am Ende seiner Amtszeit hatte Carter viele Illusionen eingebüßt. Die Wahl
       verlor Carter dann gegen den kalifornischen Gouverneur Ronald Reagan,
       abermals ein Außenseiter, der nun aber versprach, die Stärke des
       gedemütigten Landes wiederherzustellen.
       
       Nach der Washingtoner Zeit habe er sich entschlossen, seinen Status als
       ehemaliger Präsident des mächtigsten Landes der Erde auszunutzen und einige
       weiße Flecken auszufüllen, sagte Carter einmal. Das Carter Center solle so
       etwas wie ein permanentes Camp David sein, schwebte ihm vor. Doch dann habe
       er erkannt, dass Konflikte meist tiefere Ursachen haben: Krankheit, Hunger
       – oder das Streben nach Freiheit.
       
       Carter entschloss sich, diese Ursachen zum Mittelpunkt seiner Arbeit zu
       machen. Er wolle da aktiv werden, wo die Vereinten Nationen oder die USA
       aus unterschiedlichsten Gründen nicht tätig seien, sagte Carter auf der
       Website des Carter Centers. Er habe begriffen, dass Menschenrechte mehr
       seien als rein politische Rechte, dass auch Nahrung, Gesundheit und
       gesellschaftliche Teilhabe dazugehören.
       
       In Afrika arbeitete er daran, Erkrankungen wie die Flussblindheit und die
       Guineawurm-Krankheit auszurotten. Als Diplomat in eigenem Auftrag oder als
       UN-Emissär überwachte er mit Mitarbeitern des Carter Centers umstrittene
       Wahlgänge in fast hundert Ländern, von Nicaragua bis Äthiopien. Er
       vermittelte 1994 erfolgreich im Konflikt um Nordkoreas Atomprogramm, das
       beinahe zum Krieg geführt hätte. 2002 traf er Fidel Castro in Kuba, 2008
       reiste er nach Syrien und führte in Damaskus Gespräche mit der Führung der
       palästinensischen Hamas.
       
       Und er schrieb mehr als 30 Bücher und viele Meinungsbeiträge. Scharf
       kritisierte er zuletzt den Einfluss von Großspenden auf die Wahlkämpfe in
       den USA. Die Überwachungspraktiken der NSA weckten Zweifel bei ihm, ob die
       USA noch eine funktionierende Demokratie seien. Obamas Drohnenkrieg wurde
       von ihm nicht gebilligt, und er kritisierte Folter in Guantánamo. Die USA
       könnten nicht länger glaubwürdig die Einhaltung von Menschenrechten
       anmahnen, [3][schrieb er 2012 in der New York Times], solange die
       Antiterrorpolitik Bushs und Obamas gegen zehn der 30 Artikel der
       Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verstoße.
       
       1992 wurde Carter zum letzten Mal eingeladen, eine Rede auf dem
       Parteikonvent seiner Demokratischen Partei zu halten. Zusammen mit seinen
       Nachfolgern trat er seitdem in Washington nur noch in Erscheinung, wenn es
       galt, einen der ihren zu beerdigen. Nun ist er selbst an der Reihe. Schon
       seit Sonntag wehen alle US-Flaggen in den Vereingten Staaten auf Halbmast,
       30 Tage lang. Am 9. Januar 2025 wird es ein Staatsbegräbnis geben.
       
       Der Autor war von 1986 bis 1989 taz-Korrespondent in den USA. Beim
       Parteikonvent der Demokraten 1988 in Atlanta kam er Carter so nahe, dass
       sich beide freundlich zugewunken haben.
       
       30 Dec 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.cartercenter.org/
   DIR [2] https://www.amazon.de/Palestine-Peace-Apartheid-Jimmy-Carter/dp/0743285034
   DIR [3] https://www.nytimes.com/2012/06/25/opinion/americas-shameful-human-rights-record.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Schaaf
       
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