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       # taz.de -- Bilanz zum 10. Jubiläum meiner Flucht: Wie alles ganz anders gekommen ist
       
       > Meine Flucht aus Syrien liegt nunmehr zehn Jahre zurück. Ich bin für
       > vieles unendlich dankbar. Zugleich wird mir Deutschland immer fremder.
       
   IMG Bild: Willkommenskultur, das war mal: Freiwillige Helfer*innen erwarten Geflüchtete am 5. September 2015 in München
       
       Dieses Jahr würde ich das zehnjährige Jubiläum meiner Flucht aus Syrien
       „feiern“ – aber dieses Wort ist sehr unpassend, denn niemand feiert
       wirklich, dass er oder sie flüchten musste. Dass er oder sie die Heimat,
       die Familie, die Vergangenheit und die bekannten Orte und vertrauten
       Netzwerke zurücklassen musste. Viele intelligente, berühmte und
       wortgewandte Menschen haben Texte über Flucht verfasst, und doch weiß man
       erst wirklich, was für eine Zäsur eine Flucht ist, wenn sie dann hinter
       einem liegt.
       
       Vor zehn Jahren, genau zu dieser Jahreszeit, bin ich aus meiner Heimat
       geflohen. Ich empfand zuerst große Erleichterung, dass ich die
       vorangegangenen drei Jahre voller Angst und Trauer hinter mir lassen
       konnte, dass ich es tatsächlich über die syrische Grenze geschafft hatte.
       
       Viele meiner Freunde und Verwandten wurden verfolgt, verschleppt – oder
       ihnen gelang die Flucht nicht. Ich habe meine Heimat nicht direkt zu Beginn
       des Konflikts verlassen, sondern noch drei Jahre im Krieg verbracht. Ein
       Tag im Krieg ist sehr lang, weil so viel passiert und sich alles schnell
       verändern kann – das verstehen nur diejenigen, die [1][den Krieg] selbst
       erlebt haben.
       
       Als ich endlich raus war, hatte ich klare Ziele vor Augen: Arbeit und
       Unterkunft finden, die Sprache meines neuen Aufenthaltsortes lernen und
       mein Studium fortsetzen.
       
       Doch das Schicksal hatte andere Pläne: Die Unterkunft, zu der ich wollte,
       gab es gar nicht; und statt in Antalya einen Studienplatz zu suchen, musste
       ich nach Istanbul und mir einen Job suchen, um zu überleben. Das klingt
       vielleicht aus heutiger Sicht dramatisiert, aber wenn man kaum Erspartes
       und keine nützlichen Verbindungen hat, fühlt es sich in so einer Situation
       so an. Ich fand einen Schlafplatz in einem Zimmer, dass ich mir mit mehr
       als 20 anderen jungen Männern teilte, vor allem Syrern in ähnlichen
       Positionen wie ich.
       
       Das interessante bei uns Menschen ist, dass wir oft glauben, unser
       Schicksal wäre einzigartig. Ich fand einen Job in einer Textilfabrik und
       kam nur zum Schlafen in meine Massen-WG – und trotzdem glaubte ich noch ein
       paar Monate lang weiter an meinen Plan, das Studium fortsetzen zu können.
       
       Nun, da ich heute im Hamburger Grindelviertel sitze und diese Kolumne
       schreibe, wisst ihr, dass alles ganz anders gekommen ist. Ich bin einer der
       Geflüchteten, die im Herbst 2015 auf dem Höhepunkt der deutschen
       „[2][Willkommenskultur]“ ins Land kamen, und aus heutiger Sicht einer
       derjenigen, die zu den „Guten“ gezählt werden würden. Das hoffe ich
       jedenfalls!
       
       Das Leben, das ich heute lebe, ist ein Luxus, von dem viele Geflüchtete
       träumen. Vor allem Syrer*innen, die noch in der Türkei sind und dort
       zunehmendem [3][Rassismus] ausgesetzt sind. Oder Syrer*innen, die aktuell
       vor einem neuen Krieg im Libanon erneut flüchten müssen, manche sogar
       zurück nach Syrien.
       
       In Deutschland hatte ich viele Chancen und konnte endlich wieder Kontrolle
       über mein Leben erlangen. Ich habe neue Freunde, Liebe, Familie und Arbeit
       gefunden, wofür ich unendlich dankbar bin – wie viele andere Geflüchtete
       auch. Und doch finde ich auch Anlässe, mich über Deutschland zu beschweren.
       Ziemlich oft sogar, sagt meine Frau.
       
       Ich weiß nicht genau wie, aber obwohl Hamburg mir immer vertrauter wird,
       wirkt Deutschland zunehmend fremder. Die Art und Weise, wie [4][aktuell
       über Geflüchtete gesprochen und diskutiert wird] (mehr als „Bett, Seife,
       Brot“ dürfe man ihnen nicht geben), entmenschlicht uns und unsere
       Geschichten. Ja, ich sage hier ausnahmsweise mal „uns“, weil auch nach zehn
       Jahren fühle ich mich manchmal noch wie ein Flüchtling.
       
       5 Nov 2024
       
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