URI:
       # taz.de -- Soziologe über Stadt-Land-Gegensatz: „Die ländlichen Räume sind nicht abgehängt“
       
       > Der Stadt-Land-Gegensatz sei kleiner als angenommen, sagt Soziologe
       > Klärner. Das Abgehängtsein sei eine Erzählung, die sich politisch gut
       > verkaufe.
       
   IMG Bild: Ein gute Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr erhellt die Gemüter
       
       taz: Herr Klärner, in Medien wird viel darüber gesprochen, dass die Leute
       auf dem Land in den ländlichen Gebieten abgehängt seien. Stimmt das
       überhaupt? 
       
       Andreas Klärner: Die ländlichen Räume sind nicht abgehängt. Es gibt diese
       Spaltung zwischen der Großstadt und dem ländlichen Raum in Deutschland so
       nicht. Der Stadt-Land-Gegensatz ist nicht so groß, wie zuweilen suggeriert
       wird.
       
       taz: Können Sie ein Beispiel nennen? 
       
       Klärner: 98 Prozent der Bevölkerung in Deutschland können den nächsten
       Supermarkt mit dem Auto in maximal 10 Minuten erreichen. Es gibt ein paar
       Flecken auf der Karte, wo die Entfernungen größer sind, aber das sind dann
       Naturschutzgebiete oder Truppenübungsplätze etwa in Mecklenburg-Vorpommern.
       Da ist auch niemand. Auch bei der Erreichbarkeit von anderen
       Infrastruktureinrichtungen wie Arztpraxen, Apotheken, Schulen und so weiter
       haben wir eine gute Versorgung.
       
       taz: Wie viele Leute leben denn überhaupt auf dem Land? 
       
       Klärner: Nach unserer Definition ist das über die Hälfte der Bevölkerung.
       Wir haben im Institut einen Ländlichkeits-Index, der der sich aus
       unterschiedlichen Indikatoren zusammensetzt: Siedlungsdichte, Anteil land-
       und forstwirtschaftlicher Fläche, Erreichbarkeit großer Zentren und so
       weiter.
       
       taz: Sind die Unterschiede zwischen Stadt und Land größer geworden? 
       
       Klärner: Kollegen von mir haben eine Untersuchung gemacht mit einer ganzen
       Reihe von wirtschaftlichen Indikatoren für den Zeitraum von 2000 bis 2015.
       Da sieht man zwar Unterschiede zwischen ländlichen und nicht ländlichen
       Räumen, aber das ist keineswegs so, dass die im Zeitverlauf wachsen, also
       ein Auseinanderdriften der Entwicklung zwischen ländlichen und nicht
       ländlichen Räumen können wir so nicht feststellen. Zu ähnlichen Ergebnissen
       kommt auch der Gleichwertigkeitsbericht der Bundesregierung, der im Juli
       veröffentlicht wurde.
       
       taz: Das sind die Fakten. Aber vielleicht haben die Leute auf dem Land
       trotzdem das Gefühl, abgehängt zu sein? 
       
       Klärner: Ich mache auch qualitative Interviews mit Menschen in ganz
       unterschiedlichen ländlichen Räumen. Da gibt es schon so ein Bewusstsein,
       dass manche Dinge im Gegensatz zu Großstädten im ländlichen Raum nicht
       vorhanden sind. Opernhäuser sind immer so ein Beispiel, der [1][schlechter
       ausgebaute öffentliche Personennahverkehr] natürlich auch. Aber die
       Menschen, die da wohnen, sind in der Regel relativ zufrieden mit den
       Lebensverhältnissen vor Ort. Selbst in Regionen, die nach solchen
       sozioökonomischen Indikatoren besonders schlecht dastehen. Sie arrangieren
       sich dann eben auch und wissen andere Dinge zu schätzen: die Ruhe, die
       Natur, mehr Platz und so was.
       
       taz: Wie sind die Unterschiede bei den Wahlergebnissen? 
       
       Klärner: Der Faktor Ländlichkeit hat in Westdeutschland auf die Ergebnisse
       der AfD einen geringen Einfluss. In Ostdeutschland gibt es deutlich
       [2][stärkere AfD-Wahlergebnisse] in den eher ländlichen Räumen – das sind
       die Klein- und Mittelstädte –, in den Dörfern nehmen die Ergebnisse aber
       wieder ab, das heißt, es gibt auch in Ostdeutschland keinen einfachen
       Zusammenhang „je ländlicher die Region, desto stärker die AfD“.
       
       taz: Bei der Debatte steht der Osten besonders im Fokus. Geht es den Leuten
       auf dem Land dort schlechter? 
       
       Klärner: Die Kinderbetreuungsquoten sind in Ostdeutschland und da auch in
       den ländlichen Räumen einfach besser als zum Beispiel in den westdeutschen
       ländlichen Räumen. Die Altersarmutsquote ist in den ländlichen Räumen im
       Osten wesentlich niedriger als im Westen.
       
       taz: Was ist dann das Problem? 
       
       Klärner: Es gibt schon eine große Unzufriedenheit mit der Politik. Das
       entzündet sich an den gängigen Themen wie [3][Migrationspolitik],
       Klimapolitik, auch das Gendern, das ist ein ganz großes Reizthema. Wir
       leben natürlich in einer Zeit, die sehr komplex ist und in der sehr viele
       krisenartige Entwicklungen zusammenkommen: Klimakrise, die Frage, wie das
       Wirtschaftsmodell der Bundesrepublik funktionieren kann, Kriege. Das sind
       ja Entwicklungen, die auch Angst machen und kurzfristig politisch nicht zu
       bearbeiten sind. Das führt zu Unzufriedenheit und eben auch zu der Suche
       nach einfachen Antworten, die eben manche Akteure dann auch geben, obwohl
       sie das Problem nicht lösen können. Diese Unzufriedenheit ist in den
       ländlichen Räumen tatsächlich etwas weiter verbreitet als in der Stadt,
       aber die Unterschiede sind nicht so groß. Sie sind überbrückbar.
       
       taz: Wenn der [4][Stadt-Land-Gegensatz nicht so groß] ist, warum reden dann
       so viele Leute darüber? 
       
       Klärner: Die ganze Debatte hat auch angefangen damit, dass man nach
       Erklärungen dafür gesucht hat, warum Donald Trump US-Präsident werden
       konnte und warum das Brexit-Referendum in Großbritannien so erfolgreich
       war. Dort wurden große Stadt-Land-Unterschiede festgestellt. Aber
       Deutschland ist sozialräumlich ganz anders organisiert als zum Beispiel die
       USA oder auch Großbritannien. Wir haben ein ausgeklügeltes System etwa von
       Finanztransfers zwischen den Ebenen und Regionen, angefangen beim
       Länderfinanzausgleich. Aber diese Debatte über den angeblichen
       Stadt-Land-Gegensatz lässt sich medial und politisch gut erzählen.
       
       taz: Warum ist sie so attraktiv für politische Kräfte wie die AfD?
       
       Klärner: Sie ist einfach. Man kann sich auf eine Seite stellen und sagen:
       Ich trete für die schwachen, unterdrückten Abgehängten ein, da setzt man
       sich moralisch ins Recht, macht sich quasi unangreifbar. Und man gibt
       einfache Antworten auf sehr, sehr komplexe Probleme.
       
       taz: Wir hatten im vergangenen Winter [5][Bauernproteste]. Dort wurde auch
       das Narrativ gespeist, die Leute auf dem Land wüssten, was zum Beispiel in
       der Agrar- und Umweltpolitik richtig ist, und die aus der Stadt nicht. Wie
       repräsentativ sind eigentlich diese Bauern für die Bevölkerung auf dem
       Land?
       
       Klärner: Der Anteil der Beschäftigten in der Landwirtschaft ist auch in den
       ländlichen Räumen mit 2 bis 3 Prozent gering, die große Mehrheit der
       Menschen dort sind nicht in der Landwirtschaft tätig. Aber die Bauern sind
       in den ländlichen Räumen sehr sichtbar dadurch, dass sie sehr viel Fläche
       und auch Trecker haben. Und sie sind sehr gut organisiert. Das haben Sie ja
       bei den Bauerndemos in Berlin gesehen: Wenn 8.500 Leute vor dem
       Brandenburger Tor stehen, fällt das nicht so stark auf, wie wenn die mit
       Traktoren da sind.
       
       4 Nov 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Ein-Jahr-Deutschlandticket/!6008085
   DIR [2] /Kommunalwahlen-in-Ostdeutschland/!6016549
   DIR [3] /Debatte-um-Asyl-und-Migration/!6033837
   DIR [4] /Gleichwertigkeitsbericht-der-Regierung/!6018095
   DIR [5] /Anhaltende-Proteste-der-Landwirte/!5994514
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jost Maurin
       
       ## TAGS
       
   DIR Stadt-Land-Gefälle
   DIR Landwirtschaft
   DIR Bauernprotest
   DIR Social-Auswahl
   DIR Landwirtschaft
   DIR Verkehrswende
   DIR wochentaz
   DIR Gesundheit
   DIR Deutsche Post
   DIR Schwerpunkt Ostdeutschland
   DIR Schwerpunkt Ostdeutschland
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Wie der NDR über Bauern berichtet: Ach, du heile Ackerwelt
       
       Der NDR berichtet neuerdings oft einseitig positiv über Landwirtschaft.
       Manche führen diesen Trend auf den Druck durch die Bauernproteste zurück.
       
   DIR Besserer ÖPNV auf dem Land: Mit Rufbussen angebunden statt abgehängt
       
       Auf dem Land geht nichts ohne Auto? Doch! Jede dritte
       Nahverkehrsgesellschaft in Deutschland bietet flexible Kleinbusse an, die
       nach Bedarf fahren.
       
   DIR Vertraute Räume im ländlichen Raum: Ein Gefühl von Heimat
       
       Wie kommen die globalen Krisen auf dem Land an? Ein Forschungsprojekt an
       der Berliner Humboldt-Uni hat das untersucht.
       
   DIR Outsourcing in privatisierter Klinik: Zusagen nicht eingehalten?
       
       Der Sozialausschuss des schleswig-holsteinischen Landtages stellte viele
       Fragen. Er bekam wenige Antworten von der Schön-Klinik.
       
   DIR Deutsche Post verstößt gegen Vorgaben: Zu wenig Postfilialen auf dem Land
       
       Wo ist die nächste Postfiliale? Einer staatlichen Regel zufolge darf sie
       nicht allzu weit weg sein. Doch an 141 Orten verstößt die Post dagegen.
       
   DIR Gleichwertigkeitsbericht der Regierung: Nehmt die Ost-West-Brille ab!
       
       Der Gleichwertigkeitsbericht zeigt: Die regionalen Unterschiede in
       Deutschland nehmen ab. Doch die Wahrnehmung ist verzerrt und voller
       Vorurteile.
       
   DIR Prognose zur demografischen Entwicklung: Der Osten schrumpft und altert
       
       Bis zum Jahr 2040 wird die Bevölkerung in Ostdeutschland zurückgehen, sagt
       eine neue Studie. Zwei Städte bilden eine Ausnahme von diesem Trend.