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       # taz.de -- Vier Berichte von der Buchmesse: Wer den Ton in Frankfurt setzt
       
       > Lyrik aus dem Krieg, kluge Analysen von Eva Illouz, sich wandelnde
       > Verlagsstände und der Kulturkampf aus Italien: Das ist die Frankfurter
       > Buchmesse.
       
   IMG Bild: Wohin führt der Weg der Buchmesse? Immer erst mal zum nächsten Verlagsstand
       
       ## Die Lyrik an der Literaturfront
       
       Die Front im Ukrainekrieg ist knapp 2.000 Kilometer entfernt von Frankfurt
       am Main, doch in manchen Momenten scheint sie ganz nah. Am Donnerstagabend
       tritt die ukrainische Lyrikerin Olena Herasymjuk in der Evangelischen
       Akademie auf die Bühne. Sie sagt, sie lese nun ein Gedicht für ihre
       getöteten Freunde und Leser, ihnen zu Ehren wolle sie es im Stehen
       vortragen.
       
       Ihre Stimme hebt an, ihre Performance beginnt. „Ich stehe hier und lese
       meine neuen Verse auf der zerbombten Bühne des Drama-Theaters der Stadt
       Mariupol“, trägt sie vor, und: „Meine ukrainische Poesie ist nur ein
       verzweifeltes Lied, das lauter sein möchte […] als das Lamento des Todes /
       lauter als das Schweigen der Toten“. Zum Ende des Vortrags legt sie ihre
       Hand auf ihr Herz, bedankt sich für den Applaus.
       
       Im Rahmen des Open-Books-Lesefests wird an diesem Abend der kürzlich
       erschienene Band der Literaturzeitschrift die horen vorgestellt, worin
       aktuelle ukrainische Lyrik und Prosa versammelt sind („weil die Wunden
       Vögel werden. Landschaften der Ukraine“, Wallstein Verlag). Herasymjuks
       Gedicht stammt aus dieser Publikation, sie gehört auch einem medizinischen
       Freiwilligenbataillon an, hilft als Sanitäterin an der Front.
       
       Einen Spagat zwischen Kulturarbeit und Kriegsalltag müssen die meisten an
       dem Band Beteiligten leisten. So auch die ebenfalls angereiste Lyrikerin
       Halyna Kruk, ihr Mann ist gerade wieder im Einsatz an der Front, sie liest
       ein Liebesgedicht und widmet einen weiteren bewegenden Text einer Frau, die
       ihren Mann im Krieg verloren hat („Die Frau, die nur eine Hand begraben
       hatte“). Eigentlich sollte auch Schriftsteller Bohdan Kolomijtschuk kommen,
       aber er ist inzwischen Teil der ukrainischen Streitkräfte und bekam keinen
       Urlaub.
       
       Olena Herasymjuk, 33, war einst Euromaidan-Aktivistin, schreibt schon seit
       2014 über den Krieg, sie hat auch Geschichten jener Intellektuellen und
       Kulturakteure gesammelt, die einst Opfer des Stalinismus wurden
       („Rozstriljanij Kalender“, „Hinrichtungskalender“). 2022 habe sie ihre
       Sprache verloren, sagt sie, ganze vier Gedichte in dem Jahr geschrieben,
       ehe sie wieder mit dem Schreiben begann.
       
       „Ich habe das als Sieg über mich selbst empfunden, als Sieg über die
       Unmöglichkeit, sich zu äußern“, sagt sie. „Denn das Ziel des Feindes ist es
       ja, mich zum Schweigen zu bringen.“ Sie erinnert auch an die beschädigten
       und zerstörten Bibliotheken (mehr als 600) und an die zerstörten
       Kulturhäuser in ihrer Heimat. Die Literaturfront bröckelt nicht. Jens
       Uthoff
       
       ## Verkürztes „Schnelldenk“
       
       Der 7. Oktober markiert eine Zäsur. Was unmittelbar nach dem Verbrechen
       geschah, beschreibt die Soziologin Eva Illouz als „Kollaps des Denkens“ in
       der globalen Linken und unter Intellektuellen.
       
       Illouz saß während der Buchmesse auf einem von Ulrike Winkelmann und Jan
       Feddersen moderierten taz-Panel und gab zwei Beispiele: Der Ökosozialist
       Andreas Malm habe darüber geschrieben, wie er am Morgen des 7. Oktober mit
       Jubelschreien, voller Erstaunen und purer Freude auf die „Al-Aksa-Flut“
       reagierte. Die Philosophin Judith Butler wiederum habe die
       Vergewaltigungen von Frauen durch Hamas-„Kämpfer“ infrage gestellt, als
       diese längst unzweifelhaft dokumentiert waren.
       
       Derzeit steht Illouz auf vielen Bühnen, um ihr neues Buch „Explosive
       Moderne“ vorzustellen. Es handelt davon, dass Emotionen wie Angst,
       Enttäuschung, Wut von den neuen rechtspopulistischen Bewegungen
       instrumentalisiert werden und so stark wie nie [1][den politischen Diskurs
       beeinflussen.] In Illouz’ Redebeiträgen in den vergangenen Monaten zeichnet
       sich wohl aber bereits ihr kommendes Buch über den Kollaps des Denkens ab.
       
       Bereits im Sommer hatte Illouz bei einem Symposium die verqueren
       antiimperialistischen Denkfiguren in Bezug auf Israel richtig auf ein
       [2][Propagandaprojekt Josef Stalins zurückgeführt.] Dessen Versatzstücke –
       Israel als Speerspitze des westlichen Imperialismus, Israel als angeblich
       rassistisches Regime etc. – schwirren noch heute durch die
       Social-Media-Kanäle und tragen dazu bei, kritische Analyse durch
       vermeintliche Gewissheiten zu ersetzen und die Erleuchteten in einen
       Zustand moralischer Erhabenheit zu versetzen.
       
       Am Montag hat Illouz diese Analyse in ihrer Rede zum Aby-Warburg-Preis in
       Hamburg noch präzisiert. Sie charakterisiert das neue Denken, das keines
       ist, als „Fast Thought“. In Anlehnung an Orwell könnte man das im Deutschen
       vielleicht mit „Schnelldenk“ übersetzen. Es sei eine Denkweise, die schnell
       produziert und konsumiert werden könne, weil sie griffige Thesen
       präsentiere, auf Schwarz-Weiß-Denken beruhe und an moralische Intuitionen
       appelliere.
       
       Schnelldenk zeichne sich durch narrative Verkürzungen, falsche Analogien,
       Abstraktionen, Dekontextualisierung, den Appell an heilige moralische
       Werte, das Verleugnen und Ignorieren von Fakten sowie das Umkehren von
       Sachverhalten aus. So werde im Modus dieses Nichtdenkens etwa das
       historisch antikoloniale Projekt des Zionismus in ein koloniales
       Unternehmen umgedeutet. Das aktuelle Buch von Illouz steht so schon im
       Schatten ihres kommenden. Ulrich Gutmair
       
       ## Die Zeichen des Wandels
       
       Die Stände der Verlage ändern sich. Der idealtypische Messestand war
       bislang, wenn es sich nicht um einen der Standardstände für kleinere
       Verlage handelte, eher loungig. Der Stand war ein Treffpunkt. Die Bücher
       standen in den Regalen an den Wänden, schufen im Idealfall eine heimelige
       Atmosphäre, und es gab Nischen, wo man sich treffen und reden konnte.
       Berechnet war das auf Hintergundgespräche innerhalb der Branche oder auf
       Treffen von Journalistinnen und Autoren.
       
       Diese Stände werden weniger. Ein neuer Idealtypus setzt sich durch. Die
       Bücher werden mehr in den Mittelpunkt gerückt. Der Verlag Kiepenheuer &
       Witsch, der letzthin einen besonders kuscheligen Stand hatte, präsentiert
       seine Bücher in diesem Jahr auf einer Art Verkaufstresen, der
       vorbeiströmende Besucherinnen gleich verlocken soll. Das Licht in dem Stand
       ist sehr hell, damit das alles instagrammable ist und in den sozialen
       Medien auch gut rüberkommt. Auf der Rückseite des Stands steht der
       Verlagsname so platziert, dass man mit ihm im Hintergrund gut ein Selfie
       aufnehmen kann.
       
       Kurz, der Stand nähert sich dem Aussehen einer Buchhandlung an. Inzwischen
       dürfen eben auch Bücher auf der Messe verkauft werden, und die
       Branchengespräche kann man auch in Ruhe via Internet erledigen. Dirk
       Knipphals
       
       ## Nebulöse Heroik aus Italien
       
       Dinosaurier, Globen, Bundesländer und New Adults. Die Buchmesse Frankfurt
       kontert den Abwärtstrend im Qualitätssegment der Branche mit neuen
       Ausstellern und Formaten. Live-Events, Digitales und jede Menge Trash
       sollen dort ausgleichen, wo der Schwund unübersehbar ist. Nur wohin führt
       das?
       
       Da wäre auch dieser seltsame Gastlandauftritt Italiens mit vielen Old
       Adults der Neuen Rechten; dieses Geraune der nach Frankfurt entsandten
       Ideologen der Regierung der Postfaschistin Meloni. Ein Hauch von D’Annunzio
       hier, eine Brise Machiavelli. Vom Tragischen, Schönen, Erhabenen war immer
       wieder die Rede. Und Heroik, Antikes, Ursprüngliches materialisierte sich
       im architektonischen Säulenschwulst des italienischen Pavillons. Die
       tragische Postmoderne im abgedunkelten Raum. „Verwurzelt in der Zukunft“,
       so der stark erdig riechende und zugleich nebulös wolkig anmutende Slogan
       dafür.
       
       Kulturstaatsministerin Claudia Roth sprach in Frankfurt zu Recht von einem
       Kulturkampf, den die (post)faschistische Rechte betreibe. Die Messe scheint
       auf diesen nicht so wirklich vorbereitet. Die eigene politisch-kulturelle
       Setzung mit humanistischer Strahlkraft erfolgt mit der Vergabe des
       Friedenspreises – aber erst am Ende der Messe in der Paulskirche. Wäre es
       nicht sinnvoll, Autorinnen vom Format der diesjährigen Preisträgerin, Anne
       Applebaum, oder des letztjährigen, Salman Rushdie, zum Auftakt den Ton
       setzen zu lassen? Und nicht, wie es der Zufall diesmal wollte, Old Adults
       aus Melonis Gestrüpp die große Bühne zu schenken?
       
       Den Auftritt Italiens ordnet auch Susanne Schüssler im Gespräch auf der
       Messe in Halle 3.1 kritisch ein. Sie ist Leiterin des Verlags Klaus
       Wagenbach, der seit 60 Jahren erfolgreich italienische Autor:innen wie
       Pier Paolo Pasolini, Natalia Ginzburg oder Francesca Melandri in die
       Bundesrepublik holt. Schüssler betont, wie sehr vor allem die Festivals,
       Museen, Theater, Film- und Medienbranche in Italien im Visier der Rechten
       stehen; Verlage eher weniger, da private Unternehmen. Und wie sehr die
       Rechten dabei versuchen, linke Denker wie Antonio Gramsci und Begriffe
       umzudeuten.
       
       Etwa so, wie das China auf der Messe tut. „Hongkong – Our Narrative“,
       leuchtet es über den großflächigen Stand in Halle 5.1. Ein Narrativ, das
       frech und riesig in Frankfurt behauptet: Wir machen jede Demokratiebewegung
       platt, so, wie wir es möchten. Kümmert ihr euch schön um euren
       Friedenspreis. Wir kaufen uns die Hallen. Und machen so weiter. Andreas
       Fanizadeh
       
       18 Oct 2024
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Uthoff
   DIR Dirk Knipphals
   DIR Andreas Fanizadeh
   DIR Ulrich Gutmair
       
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