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       # taz.de -- Ostdeutsche und ihr Wahlverhalten: Schluss mit dem Verstehen
       
       > Die Parteien der Mitte meinen, mit empathischer Kümmerergeste „das Ossi“
       > für sich gewinnen zu können. Sie sollten sie lieber zum Mitwirken
       > auffordern.
       
   IMG Bild: Das arme Ossilein, das unbekannte Wesen: Wahlkampfveranstaltung der AfD in Suhl/Thüringen am 13.08.2024
       
       Hätten Bürger westlich der ehemaligen Staatsgrenze aus Ampelfrust auch in
       diesem Ausmaß Extremisten gewählt? Oder ziehen die Ostdeutschen die gesamte
       Republik nach rechts? Einmal mehr werden nun die professionellen Exegeten,
       die Ossi-Versteher bemüht. Sie sollen nach dem Wahlschock das Ossi, das
       unbekannte Wesen erklären. Dieses [1][arme Ossilein] ist dann in der Regel
       Opfer einer kolonialen Westattitüde seit 1990, sein Protestwahlverhalten
       damit erklär-, wenn nicht gar entschuldbar. Als sei die Bundesrepublik West
       1989 über uns hergefallen. Keine Spur von Selbstkritik bei den hiesigen
       Schnellfrustrierten im Dauerempörungsstatus.
       
       Wenn die Hälfte der Wählerinnen und Wähler Hass- und Hetzparteien wählt,
       dann schäme ich mich inzwischen für meine Artgenossen. Die hielt ich stolz
       mal für die besseren Deutschen: vital, lebensfroh, improvisationsfähig,
       gemeinschaftsfähig, robust. „Drüben“ hingegen eine in Ritualen erstarrte
       langweilige Verwandtschaft in potemkinschen Wohlstandskulissen.
       
       Das hat sich seit etwa eineinhalb Jahrzehnten gründlich geändert. Wähler
       für die Folgen ihres Wahlverhaltens verantwortlich zu machen, ist keine
       Wählerbeschimpfung. Eine Anamnese dieser Wahlergebnisse ist dringender denn
       je!
       
       Ost und West sind von Erzählungen geprägt, die beide mit „Es war einmal“
       beginnen und von Märchenländern berichten. Auch in Westdeutschland ist der
       amerikanisch inspirierte Traum längst zusammengebrochen, man müsse nur
       genügend Teller waschen, um Millionär zu werden. Die Legende vom Aufstieg
       durch eigene Leistung glaubt niemand mehr.
       
       ## Sinn und Unsinn wurden dem Zoni im Überschuss verordnet
       
       Schlimmer noch: Im so genannten Abendland erodierte weit vor der
       vergifteten deutschen Umarmung 1990 die ideelle Basis eines
       gesellschaftlichen Grundkonsenses. Max Weber hielt schon 1904 den
       „Traditionalismus“ für den größten Feind des Kapitalismus. Also die Bindung
       an Ideale und eine Genügsamkeit, die immaterielle Lebensziele priorisiert.
       
       Ein totalitärer Materialismus aber, der auf alle Lebensbereiche
       durchgreift, stiftet keinen Sinn. Sinn und Unsinn wurden dem Zoni im
       Überschuss verordnet. In die Einheit brachten wir einen nicht ganz
       freiwilligen, hedonistisch kompensierten Geist der Genügsamkeit mit. Der
       musste mit dem Beitritt ins Land der Verheißungen folgerichtig in maximales
       Anspruchsdenken umschlagen. Die Anbetung eines Westens im Konsumrausch
       musste dann ebenso folgerichtig enttäuscht werden.
       
       ## Kein Besitz und kein Idealismus
       
       Jeder, der bei Trost war – und sogar Oskar Lafontaine war es damals –,
       hätte wissen müssen, was mit einer schnellen Währungsunion und dem Beitritt
       auf uns zukam. Wir kannten doch auch das ökonomische Grundgesetz „Der
       Teufel scheißt immer auf den größten Haufen“!
       
       Die [2][ausbleibende Verheißung des Glücks durch Besitz] wurde durch keinen
       Idealismus mehr aufgefangen. Spätestens die schleichende Radikalisierung
       des Beitreter-Teilvolks hat das Master-Narrativ, es sei dem Ossi 1989 vor
       allem um Freiheit und Demokratie gegangen, längst widerlegt. Zur ersten
       freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 straften die Wähler das Bündnis 90,
       den Zusammenschluss der Bürgerrechtler, die gegen die SED wirklich etwas
       riskiert hatten, mit 2,9 Prozent ab.
       
       Nur eine Minderheit ist sich außerdem der latenten Deprivationsgefühle
       bewusst, die postum zu einer Ost-Identität führten. „Der Kompass ist weg“,
       höre ich aus Künstlerkreisen.
       
       Das empfundene Vakuum ruft nach neuen Heilsbotschaften, die unbewusst den
       alten möglichst nahekommen. Frappierend, welche einst parodierten
       Grundmuster wieder zutage treten, bis in die Generation der Erstwähler
       hinein.
       
       Zuerst: Es gehörte schon damals zum guten Ton, gegen den Staat zu sein,
       aber zugleich alles von ihm zu erwarten. In einer immer mehr von
       Partikularinteressen, von divergierenden narzisstischen Ansprüchen
       dominierten Gesellschaft wird es aber keiner Regierung mehr gelingen, eine
       Mehrheit zufriedenzustellen.
       
       ## Demokratie verlangt Selbstermächtigung
       
       Eine anthropologische Konstante: Es kann auf keinen Fall so bleiben, aber
       es darf sich um Himmels willen nichts ändern! Vor allem nicht bei mir. AfD
       und BSW bedienen genau diese Schizophrenie. Wie sehr jegliche Veränderung
       diese Gesellschaft überfordert, hat schon die Coronapandemie gezeigt.
       
       Drittens: Sehnsucht nach autoritärer Führung. Welcher der 89er
       Demonstranten wusste schon, dass Demokratie anstrengend ist, Mitwirkung
       verlangt und Selbstermächtigung? Der von Mitverantwortung entlastende
       Spruch „die Genossen werden sich schon etwas dabei gedacht haben“ spukt
       weiter. Kommunalpolitiker berichten aus erster Hand vom populären
       Führerprinzip.
       
       Der traditionelle Spruch „Lerne klagen, ohne zu leiden“ verweist auf die
       offenkundigste Schizophrenie. Laut Sachsen-Monitor und der Sächsischen
       Zeitung sind etwa drei Viertel der Bürger zufrieden mit ihren
       Lebensumständen. Und dennoch können die Apokalyptiker und Panikmacher von
       AfD und BSW, in Teilen auch von der CDU, auf die Motzer und
       Weltuntergangssüchtigen bauen.
       
       „Wir wissen zwar nicht, was wir wollen, aber das mit ganzer Kraft!“,
       parodierten wir einst die Losungen zum 1. Mai. Abstinenz, Negativismus
       Naivität bis heute: Wenn ich AfD wähle, verschwindet der Klimawandel. Wähle
       ich BSW, lädt Väterchen Wladimir den Kollegen Wolodimir bald zum Prasdnik
       mit Wodka in den Kreml ein.Und die anderen Parteien meinen, mit der
       empathischen Kümmerergeste [3][das Ossi], das unbekannte leidende Wesen,
       für sich gewinnen zu können. Anstatt es endlich zu selbstbewusster
       emanzipatorischer Mitwirkung und Gemeinsinn, zum Größerdenken aufzufordern.
       
       Wie lautete doch der Buchtitel von Dirk Neubauer, der von den Rechten, also
       vom ignoranten Volk fertiggemacht wurde und als Landrat von Mittelsachsen
       nach zwei Jahren entnervt zurücktrat? „Das Problem sind wir!“
       
       19 Sep 2024
       
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   DIR Michael Bartsch
       
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