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       # taz.de -- Wahlen in Thüringen: Damit es diesmal anders ausgeht
       
       > Seit die AfD bei den Thüringer Landtagswahlen stärkste Kraft wurde,
       > drängen sich historische Vergleiche auf. Wiederholt sich hier die
       > Geschichte?
       
   IMG Bild: Nils Volkmann und Katharina Simmet vom Bündnis Weltoffenes Thüringen haben zusammen die sogenannten Brückenfeste organisiert
       
       Ihr Gesicht möchte Christine lieber nicht fotografieren lassen. Auch ihr
       Nachname soll hier nicht vorkommen. „Bis vor ein paar Jahren hätte ich das
       auf jeden Fall gemacht“, sagt sie. „Heute bin ich vorsichtiger.“
       
       Aber ein Foto des Buttons, den sie sich angesteckt hat, ist okay.
       Bauhaus-Studierende haben ihn entworfen. Die sechs Striche, zwei lang, vier
       kurz, symbolisieren ein zerstörtes Hakenkreuz. Seit 2008 engagiert sich
       Christine beim Weimarer Bürgerbündnis gegen Rechtsextremismus. „Bis in die
       2000er gab es in der Stadt noch einen breiten Konsens gegen Faschismus“,
       sagt Christine. „Der existiert heute so nicht mehr.“
       
       [1][Im Februar 2020 wählte der Thüringer Landtag den FDP-Mann Thomas
       Kemmerich mit den Stimmen der AfD zum Kurzzeit-Ministerpräsidenten]. Bei
       den jüngsten Landtagswahlen wurde die AfD mit 32,8 Prozent erstmals
       stärkste Kraft. Spitzenkandidat [2][Björn Höcke] haben die
       Thüringer*innen nicht trotz, sondern wegen seines rechtsextremen
       Programms gewählt, heißt es in Umfragen.
       
       Weimar steht für Goethe und Schiller, aber auch für die erste in Kraft
       getretene demokratische deutsche Verfassung. Im Theater der Stadt hat die
       Deutsche Nationalversammlung sie 1919 ausgearbeitet. Wenige Jahre später
       probten die Nazis hier den Aufstieg. 1924 wurden sie hier erstmals zu
       Mehrheitsbeschaffern.
       
       Der Thüringer Ordnungsbund ließ sich mit den Stimmen der Vereinigten
       Völkischen Liste, einer Tarnorganisation der noch verbotenen NSDAP, zur
       Regierung wählen. 1930, ebenfalls in Weimar, wurde die NSDAP als
       Juniorpartner zur Koalitionspartei. 1932 führte sie nach den Juli-Wahlen
       erstmals eine Regierung an. Hitler machte Thüringen zu seinem Mustergau.
       
       Wiederholt sich hier die Geschichte? Zieht der Rechtsextremismus in die
       schöngeistige Stadt ein?
       
       In Weimar sind Kaufhäuser nach Goethe und Schiller benannt, im Warteraum
       des Bahnhofs klebt eine Büchertapete. Die Anzeigen im Bus machen Werbung
       für ein Konzert mit Bachs Goldbergvariationen, bemerkenswert oft übt jemand
       irgendwo ein Instrument. Das Gras in den Parks leuchtet gepflegt.
       
       „Weimar ist in mancher Hinsicht eine Insel der Glückseligen“, sagt
       Christine. Das zeigten auch die Wahlergebnisse. Aber die Insel ist ziemlich
       klein. Das Direktmandat in der Weimarer Innenstadt ging an die Linke, im
       Umland gewann die AfD.
       
       ## „Wir werden auf jeden Fall weitermachen“
       
       Am Wahlabend ist Christine zu Hause geblieben, allen Einladungen zum Trotz.
       „Wenn es mir schlecht geht, muss ich allein sein“, sagt sie. Sie kommt aus
       Weimar, hat unter anderem als Theaterpädagogin gearbeitet, von dort aus
       1989 die ersten Demonstrationen mitorganisiert. Sie war beim Neuen Forum
       und für die Grünen aktiv.
       
       Immerhin hat Christine ermutigt, was in den Monaten vor der Wahl passiert
       ist. Viele Unternehmen, alle Unis und Theater des Landes, aber auch
       Einzelpersonen haben sich mit der Kampagne „Weltoffenes Thüringen“ zur
       Demokratie bekannt. „Wir werden auf jeden Fall weitermachen“, sagt
       Christine.
       
       Vom Weimarer Hauptbahnhof fährt ein Bus durch Laubwälder zum ehemaligen KZ
       Buchenwald. In einem ehemaligen Verwaltungsgebäude der SS hat
       Jens-Christian Wagner sein Büro. Hinter seinem Schreibtisch füllen
       Aktenordner fast eine ganze Wand. Als „Weimarer Ursünde“ bezeichnet der
       Leiter der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora die Ereignisse von
       1924, 1930 und 1932.
       
       „Wir sind irgendwas zwischen deprimiert, fatalistisch und kämpferisch“,
       sagt Wagner über die Tage nach der Wahl. „Natürlich erinnert uns das an die
       20er und 30er Jahre.“ Wagner beobachtet, wie die AfD den
       Nationalsozialismus nicht mehr nur verharmlost, sondern sich auch positiv
       darauf bezieht. Als er das Wahlprogramm der Thüringer AfD studierte, stieß
       er etwa im Prolog auf einen Text von Franz Langheinrich, einem
       ideologischen Vordenker der Nationalsozialisten. „Das ist ein politisches
       Statement und ein Signal an die rechtsextreme Szene“, sagt Wagner.
       
       Ähnlich verhalte es sich, wenn Höcke von „raumfremden Mächten“ spreche, die
       aus Deutschland vertrieben werden müssten. Der Begriff wurde 1941 vom
       NS-Juristen Carl Schmitt geprägt – in dem Jahr, in dem der systematische
       Mord an den europäischen Jüdinnen*Juden begann. „Was die AfD im
       Gegensatz zur NSDAP nicht verbreitet, ist ein radikal exterminatorischer
       Antisemitismus“, sagt Wagner. „Dafür haben wir es mit einer extremen
       Muslimfeindlichkeit zu tun.“ Und wie der NSDAP sei es der AfD gelungen,
       junge Menschen für sich zu gewinnen.
       
       Dass die AfD bei den Jungen so gut abschnitt, hat den Distanz e.V. nicht
       überrascht. Die Sozialarbeiter*innen versuchen, rechtsaffine
       Jugendliche zu entradikalisieren. Die U18-Wahlen hätten die Entwicklung
       seit Jahren vorweggenommen. Bei der simulierten Landtagswahl in diesem Jahr
       erhielt die AfD 37,4 Prozent der teilnehmenden Kinder und Jugendlichen.
       
       Momentan sei es unter Jugendlichen cool, rechts zu sein, weil sie darin
       eine Widerständigkeit für sich entdeckt haben. [3][Insbesondere auf Tiktok
       hole die Partei sie ab]. In den Schulen erlebten sie immer wieder
       gespaltene Klassen. Wenn sich zum Beispiel ein paar Schüler*innen bei
       Fridays for Future engagieren, verschärfe das den Konflikt zwischen rechten
       und linken Jugendlichen, sagen sie bei Distanz e. V.
       
       An den Straßenschildern in der Innenstadt Weimars sind Antifa-Sticker
       abgekratzt, Stolpersteine werden immer wieder übersprüht. Der Dachverband
       MigraNetz berichtet von mehr und mehr Übergriffen gegen Vereinsmitglieder –
       Pöbeleien, aber auch Brandanschlägen auf Büros. Vor allem im ländlichen
       Raum hätten rassistische Übergriffe massiv zugenommen.
       
       ## Hohe Wahlbeteiligung hat nichts genutzt
       
       „Ich finde es eine Frechheit, dass Leute uns jetzt ständig fragen, ob wir
       weggehen wollen“, sagt Elisa Calzolari vom MigraNetz. „Das ist genau das,
       was die AfD will.“ Zudem hätten viele nicht das Privileg, sich anderswo
       eine neue Existenz aufzubauen.
       
       Ulrike Grosse-Röthig, Co-Vorsitzende der Linken in Thüringen, hat als
       Direktkandidatin in Weimar gewonnen. Dennoch – das Ergebnis der
       Landtagswahl insgesamt sei „absolut bitter“.
       
       Am Mittwoch nach der Wahl ist Grosse-Röthig schon wieder im Landtag. Auf
       den Fluren des Parlaments in Erfurt kleben noch bunte Kampagnenplakate.
       „Nicht-Wählen kann Folgen haben“, steht darauf. Genutzt hat die hohe
       Wahlbeteiligung den demokratischen Parteien nicht. Und die
       Regierungsbildung könnte dauern. Auf 44 Sitze im Landtag kommen CDU, SPD
       und BSW, 45 bräuchten sie für eine Mehrheit. „Ich glaube wir wurden
       inzwischen alle von Journalist*innen gefragt, ob wir nicht zum BSW
       gehen wollen“, sagt Grosse-Röthig.
       
       Indes erklärte die Greizer CDU-Abgeordnete Martina Schweinsburg, dass ihre
       Partei auch mit der AfD in Sondierungsgespräche gehen solle. BSW-Spitze
       Katja Wolf kündigte an, „vernünftigen“ Anträgen der AfD zustimmen zu
       wollen.
       
       ## Historischer Imperativ: Keine Zusammenarbeit
       
       „Ich erwarte von den anderen Parteien, dass sie mit dem Wahlergebnis
       verantwortlich umgehen, um es nicht zu einem zweiten 5. Februar kommen zu
       lassen“, sagt Grosse-Röthig.
       
       „Der Blick auf 1924 sollte uns wachrufen“, findet Gedenkstättenleiter
       Wagner. „Rechtsextremes Gedankengut wird normalisiert, wenn die AfD
       Einfluss auf die Regierung bekommt.“ Wenn es einen historischen Imperativ
       gebe, dann: keine Zusammenarbeit mit Rechtsextremen.
       
       „Man muss sich aber auch vor Augen halten, dass zwei Drittel der Wählenden
       sich zum demokratischen System bekannt haben“, sagt Wagner. Anders als in
       der Weimarer Republik, in der Linke den Systemsturz wollten, Polizei und
       Armee die junge Republik gefährdeten und die Kirche deutschnational und
       kaisertreu gegen die Regierung agitierte. „Hinzu kommt, dass es heute eine
       stark ausgeprägte Zivilgesellschaft gibt, die die Demokratie verteidigt“,
       sagt Wagner.
       
       Dazu zählt auch die Klassik-Stiftung. Einst als eher konservativ bekannt,
       hat sie in den letzten Jahren eine neue Rolle für sich entdeckt. „Wir
       leisten unseren Beitrag für ein kritisches Geschichtsbewusstsein, das in
       ein kritisches Gegenwartsbewusstsein mündet“, sagt Ulrike Lorenz,
       Präsidentin seit 2019.
       
       ## Prinzip Gulaschkanone
       
       Lorenz hat das Bündnis „Weltoffenes Thüringen“ mitgegründet. Seit dem 9.
       Mai beschäftigt sich eine von der Stiftung initiierte Ausstellung mit der
       Rolle des Bauhauses im NS. Kurz vor der Wahl sprach Lorenz auf einer
       Kundgebung zur Kunstfreiheit.
       
       Von ihrem Arbeitszimmer im Schloss aus möchte die Frau mit der knallroten
       Brille ihre Institution „radikal öffnen“. „Prinzip Gulaschkanone“ nennt sie
       das. Die Wiese vor dem Schloss darf man jetzt betreten, erstmals fand ein
       Punkkonzert statt. Lorenz ist überzeugt davon, dass Kunst eine vermittelnde
       Rolle einnehmen kann. „Wir müssen auf die Marktplätze und miteinander
       reden“, sagt sie, „auch mit AfDlern“. Nicht alle im Bündnis Weltoffenes
       Thüringen gehen da mit. Das sei in Ordnung, sagt Lorenz: „Wenn wir unsere
       Vielstimmigkeit nicht akzeptieren, geht's schief.“
       
       Es ist eine Position, die insbesondere auf dem Land viele Leute teilen
       dürften. Auch dort haben sich einige der Initiative angeschlossen,
       allerdings unter dem Motto „Thüringen zusammen“. Der Name „Weltoffenes
       Thüringen“ hole die Leute hier nicht ab, sagt Markku Groß, der die
       Initiative nach Tannroda im Weimarer Land geholt hat.
       
       Vor zwanzig Jahren ist er aus dem Erzgebirge in den 1.000-Einwohner-Ort
       zwischen grünen Hügeln gezogen. „Im Zweifelsfall sind wir hier im Ort die,
       die eine andere Meinung haben“, sagt er. Aber übers gemeinsame Wirtschaften
       komme man zusammen. Das Paar hat mehrere Gemüsegärten und vier Schafe, die
       Groß hinterherlaufen, sobald er die Weide betritt.
       
       ## Zu DDR-Zeiten gab es in Tannroda eine Papierfabrik
       
       Der Treffpunkt mit seinen Freunden ist immer der gleiche: In einem ihrer
       Gärten, Lampions über dem Holztisch. Im Hintergrund plätschert das Wasser
       der nahen Ilm. Groß' Freunde sind sich einig, dass man die deutsche
       Geschichte, die KZs, nicht ignorieren dürfe. Aber sie verstehen auch, wie
       es zu den Wahlergebnissen gekommen ist. Zu DDR-Zeiten gab es hier eine
       große Papierfabrik, heute nicht mal mehr einen Supermarkt. Die Politik der
       Ampel sei viel zu ideologisch, sagt einer von Groß' Freunden. „Meine
       Freundin und ich brauchen zwei Autos, weil wir anders nicht zur Arbeit
       kommen.“ Klare Verhältnisse habe die Wahl jedenfalls nicht geschaffen.
       
       Wenn man sich im Ortsbeirat oder bei der Feuerwehr engagiere, sei es egal,
       in welcher Partei man sei – solange man gemeinsam das Beste für den Ort
       erreichen will, findet einer der vier. „Man muss die AfD erst mal an die
       Regierung lassen, dann sollen sie sich unter Beweis stellen“, sagt ein
       anderer. „Aber glaubst du wirklich, dass man sie dann wieder loswird?“,
       fragt Groß.
       
       „Das Krasse ist ja, dass du dich mit dem Wort Demokratie hier ja schon
       positionierst“, sagt Groß später.
       
       Zurück in Weimar. Zwischen Tourist*innen holt der Direktkandidat der
       Werte-Union seine Wahlplakate von den Laternenmasten. Der Kofferraum ist
       schon bis zur Decke gefüllt. Die Plakate von Thomas Kemmerich hängen noch.
       
       ## Durch Thüringens Dörfer gereist
       
       „Wenn es nach der Wahl eine Veränderung geben wird, gehe ich davon aus,
       dass sie schleichend kommt“, sagt Nils Volkmann, der ebenfalls bei
       Weltoffenes Thüringen aktiv ist. „So wie damals dem Bauhaus zunächst die
       Gelder gestrichen wurden.“
       
       In den letzten Monaten hat er in seinem Job als Produktdesigner pausiert
       und ist durch Thüringens Dörfer gereist, mit befreundeten Künstler*innen,
       Stift und Papier. Sie haben zuerst die Orte gezeichnet, und dann Menschen,
       die sich bei den sogenannten Brückenfesten mit an die Kaffeetafel gesetzt
       haben.
       
       Viele Biografien mit vielen Brüchen habe er gehört, sagt Volkmann. „Ich
       hätte vor einem Jahr nicht gedacht, dass ich mal zum Advokaten der
       ostdeutschen verletzten Seele werde, aber jetzt ist es wohl so.“ Wie sehr
       die Erfahrung von Entwertung viele Menschen präge, habe er unterschätzt.
       
       Der 41-Jährige hat an seinem eigenen Vater erlebt, was es bedeutet, sich
       nach der Wende von Job zu Job hangeln zu müssen. „Er hat das nie
       verkraftet“, sagt Volkmann. Im Wahlkampf habe nur die AfD positiven Bezug
       auf ostdeutsche Themen genommen, mit Slogans wie „Der Osten macht's“, dazu
       Björn Höcke, der auf einer Simson sitzt. Ehrlich zuzuhören, die Wende
       kollektiv zu verarbeiten, den Rechtsextremen das Thema nicht zu überlassen,
       das wünscht sich Volkmann.
       
       Noch hängen die Buntstiftzeichnungen im Atelier, sortiert nach Orten und
       Daten. Volkmann hofft, sie bald ausstellen zu können. Mit den Brückenfesten
       will er weitermachen. „Thüringen-Labor für Vertrauensbildung“ soll das neue
       Projekt heißen.
       
       6 Sep 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Franziska Schindler
       
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   DIR wochentaz
   DIR Schwerpunkt Landtagswahl Thüringen
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