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       # taz.de -- Berichterstattung über Nahostkonflikt: „Es geht hier nicht um Deutschland“
       
       > In der deutschen Berichterstattung über Israel und Palästina wird oft
       > eigene Geschichte verhandelt, kritisiert Nahostwissenschaftler Tom K.
       > Würdemann.
       
   IMG Bild: Das Al-Shifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt nach dem Ende des israelischen Einsatzes am 1. April
       
       taz: Herr Würdemann, lesen Sie gerne deutsche Medien, um sich über den
       Nahostkonflikt zu informieren? 
       
       Tom Khaled Würdemann: Ich lese viele Nachrichten aus Deutschland zu diesem
       Thema, aber ich tue es meistens nicht gerne.
       
       taz: Warum nicht? 
       
       Würdemann: Ich finde, dass die deutsche Berichterstattung zu Israel und
       Palästina oft vielmehr deutsche Innenpolitik und deutsche Identitäten
       verhandelt, als sich mit dem eigentlichen Konflikt zu beschäftigen.
       
       taz: Haben Sie ein Beispiel dafür? 
       
       Würdemann: Den Springer-Verlag sehe ich hier generell als negatives
       Beispiel: Nach dessen Logik ist Israel die erste Verteidigungslinie des
       Westens gegen Islamisierung und Migration. Und Bild und Welt vermutlich die
       zweite. Ein extremes Beispiel: Ende Oktober haben auch bekannte deutsche
       Journalisten wie Jan Fleischhauer ein Video geteilt, in dem gesagt wird,
       die Hamas sei schlimmer als die SS, weil die SS wenigstens noch so etwas
       wie ein schlechtes Gewissen beim Holocaust empfunden hätte.
       
       taz: Welche Fragen von „deutscher Identität“ stecken dahinter? 
       
       Würdemann: Für viele Deutsche ist der Israel-Palästina-Konflikt eine Art
       Verlängerung der Frage um deutsche Verantwortung für das jüdische Volk.
       Darauf gründet die historische deutsche Israelsolidarität – das ist völlig
       okay. Problematisch wird es, wenn statt einer friedlichen Lösung für
       Israelis und Palästinenser dann die Erlösung von der deutschen
       Vergangenheit im Zentrum steht, so wie im eben genannten Beispiel: Guck,
       die Palästinenser sind noch viel schlimmer als Opa. Denn es geht hier nicht
       um Deutschland, es geht um einen tragischen Konflikt mit zwei Seiten.
       
       taz: Die Linguistin Monika Schwarz-Friesel kommt zu dem Schluss, dass
       deutsche Medien eigentlich kaum ein Land so oft kritisieren wie Israel. 
       
       Würdemann: In der Vergangenheit wurde deutschen Medien zu Recht
       vorgeworfen, dass sie einseitige Schlagzeilen produzierten, nach denen die
       Aggression von der israelischen Armee ausgegangen sei, wenn es sich
       eigentlich um eine Reaktion gehandelt hat. Im derzeitigen Krieg sehe ich
       aber häufig das Gegenteil: Pressemitteilungen der israelischen Armee werden
       häufig ohne weitere Kontextualisierung reproduziert. Und es folgt keine
       eigene Hintergrundrecherche. Oft fehlt in deutschen Redaktionen gute
       Fachexpertise zum Thema, anders als bei englischsprachigen Medien.
       
       taz: Zum Beispiel während der Operation am Al-Schifa-Krankenhaus in Gaza im
       November: Die israelische Armee hatte diese damit begründet, dass unter dem
       Krankenhaus ein wichtiger Stützpunkt der Hamas liege. Bei der New York
       Times hieß es: „Der Druck steigt, während Israel ein Gaza-Krankenhaus nach
       der Hamas durchsucht.“ Am selben Tag bei der Zeit hingegen: „Israelische
       Armee findet Hamas-Einsatzzentrum im Schifa-Krankenhaus“.
       
       Würdemann: Das ist ein gutes Beispiel. Am Ende gab es Beweise, dass
       zumindest Teile des Krankenhaus-Komplexes für militärische Zwecke benutzt
       wurden. Eine große „Kommandozentrale“ wurde aber nicht nachgewiesen.
       Gleichzeitig muss man sagen: Die Berichterstattung deutscher Medien ist
       sicherlich immer noch besser als die in vielen anderen Staaten,
       beispielsweise in der arabischen Welt. Dort ist es mittlerweile zur
       Mehrheitsmeinung geworden, dass man die Hamas überhaupt nicht kritisieren
       soll.
       
       taz: Was machen deutsche Medien richtig? 
       
       Würdemann: Sie bemühen sich relativ oft darum, Stimmen zu finden und zu
       fragen – israelische sowie palästinensische –, die sich tatsächlich für
       positive Friedensideen einsetzen. Die taz ist ein gutes Beispiel: Dass die
       Zeitung polarisiert, wirkt authentisch – mehrere Meinungen kommen vor.
       Gleichzeitig wird in Deutschland die Breite der Perspektiven in diesen
       beiden Gesellschaften zu wenig abgebildet. Die israelische Linke zum
       Beispiel wird viel häufiger porträtiert, obwohl die politische Rechte den
       israelischen Diskurs viel mehr bestimmt. Für die palästinensische Seite
       gilt das Gleiche.
       
       taz: Manche berufen sich lieber auf [1][den arabischen Sender Al Jazeera],
       der auch ein englischsprachiges Angebot hat. Eine verlässliche Quelle aus
       Ihrer Sicht? 
       
       Würdemann: Al Jazeera leistet professionelle Vorort-Berichterstattung mit
       vielen Ressourcen. Sie haben einen riesigen technischen Vorteil gegenüber
       deutschen Medien und haben viele Kriegsverbrechen durch IDF-Soldaten
       dokumentiert. Aber der Sender betreibt auch eine sehr klare und aggressive
       Agenda, nach der die Hamas einfach nur eine Widerstandsorganisation gegen
       die „zionistische Besatzung“ sei. Der 7. Oktober wird als eine reine
       „Militäroperation“ abgetan – ähnlich wie Putin seinen Angriff auf die
       Ukraine darstellt.
       
       taz: Unterscheidet sich der arabische von dem englischsprachigen Auftritt? 
       
       Würdemann: Früher schon, AJ English war eher antiimperialistisch-links als
       islamisch-konservativ. Seit dem 7. Oktober sind die Unterschiede aber
       geringer geworden.
       
       taz: Al Jazeera wird vorgeworfen, der islamistischen Muslimbruderschaft,
       aus der die Hamas hervorgegangen ist, nahezustehen. Zu Recht? 
       
       Würdemann: Al Jazeera wird von Katar finanziert, ein Land, das der
       weltgrößte Sponsor der Muslimbruderschaft ist. Die inhaltliche Nähe
       zwischen Al Jazeera und der Ideologie der Muslimbruderschaft war in der
       Vergangenheit sehr offensichtlich und hat die arabische
       Medienöffentlichkeit über Jahrzehnte geprägt. Es ist aber nicht so, dass
       der Sender 24 Stunden am Tag Werbung für die Muslimbrüder macht, sondern
       ein vielfältigeres Angebot hat.
       
       taz: Wie sieht es in anderen arabischen Ländern aus? 
       
       Würdemann: Ein interessantes Beispiel ist Saudi-Arabien: Mittlerweile
       werden auch proisraelische Stimmen in die Talkshows eingeladen. Die
       saudischen Medien berichten über die Hamas inzwischen deutlich weniger
       einseitig als andere arabische Medien, sie orientieren sich auch stärker an
       der Idee der Zwei-Staaten-Lösung. Aber wer sich in einem autoritären Regime
       jetzt plötzlich nicht mehr antiisraelisch äußert, wird nicht
       notwendigerweise ausgeglichen humanistisch berichten – und so finden dort
       zunehmend rechte und sogar rassistische israelische Positionen auch Raum.
       
       taz: Im englischsprachigen Raum fällt der britische Guardian oft mit einer
       sehr kritischen Blattlinie auf, was Israel betrifft. Ist die Zeitung das
       propalästinensische Pendant zum proisraelischen Springer-Verlag? 
       
       Würdemann: Ich finde den Guardian sehr einseitig propalästinensisch, aber
       nicht diskurszerstörend einseitig. Er ergreift klar Partei, aber das geht
       nicht so weit wie die Israel-Solidarität der Springer-Presse in
       Deutschland.
       
       taz: Die [2][New York Times gewann dieses Jahr den Pulitzer-Preis] für ihre
       Berichterstattung zum Nahostkonflikt. Verdient? 
       
       Würdemann: Ich finde ihre Arbeit zu diesem Thema relativ gut. Die Tatsache,
       dass die New York Times von beiden Seiten oft scharf angegriffen wird,
       spricht für sie. Und ihre Meinungssektion hatte schon immer die Tradition,
       anders als viele deutsche Zeitungen, ein sehr breites Spektrum abzubilden.
       
       taz: Welche israelischen Medien lesen Sie gerne? 
       
       Würdemann: Ich spreche kein Hebräisch, aber die Haaretz auf Englisch ist
       und bleibt das Beste aus meiner Sicht. Auch die Times of Israel hat mich
       seit dem 7. Oktober positiv überrascht: Sie hat eine Fähigkeit zur
       Selbstkritik bewahrt. Und das +972 Magazine fand ich vor dem Hamas-Angriff
       zu utopisch und einseitig antizionistisch. Aber es liefert wertvolle,
       kritische Recherchen über die israelische Kriegsführung und das ist
       notwendig. Es hat wegen seiner Radikalität keine Schmerzgrenzen.
       
       taz: Oft übernehmen Medien die Zahlen der Todesfälle in Gaza direkt von der
       der Hamas unterstehenden Gesundheitsbehörde, letzter Stand: mehr als 40.000
       getötete Palästinenser*innen seit Beginn des aktuellen Kriegs. Die
       Zahlen dürften laut Experten größtenteils stimmen, sie weisen allerdings
       statistische Ungereimtheiten auf, was die Zahl der getöteten Kinder und
       Frauen betrifft, und unterscheiden nicht zwischen Zivilist*innen und
       Kämpfern. Wie sollen Medien mit solchen Zahlen umgehen? 
       
       Würdemann: Die Zahlen werden von beiden Seiten instrumentalisiert. Ein
       bekannter Wissenschaftler hat zum Beispiel neulich behauptet, dass Israel
       „40.000 Zivilisten“ getötet hätte, bevor er sich auf Nachfrage korrigierte.
       Es gibt auch Menschen, die diese Zahlen überkritisch verwenden. Auch in
       deutschen Medien wird zu Recht gesagt: Diese Zahlen können nicht unabhängig
       überprüft werden. Das kann aber in manchen Fällen zu einer Anzweiflung der
       humanitären Katastrophe in Gaza führen. Wir haben mittlerweile eine
       Situation, in der niemand mehr genau sagen kann, wie viele Menschen in Gaza
       gestorben sind, weil die Infrastruktur zusammengebrochen ist.
       
       taz: Gibt es besonders hartnäckige Falschmeldungen? 
       
       Würdemann: Das beste Beispiel ist weiterhin die Explosion, mutmaßlich einer
       abgestürzten Hamas-Rakete, nahe dem Al-Ahli-Krankenhaus am 17. Oktober.
       Medien schrieben diese zunächst Israel zu und verbreiteten zunächst auch
       unkritisch übertriebene Opferzahlen. Auf der anderen Seite ist die
       Vorstellung immer noch weitverbreitet, dass die israelische Armee besonders
       große Rücksicht auf palästinensische Zivilisten nehme – viele Videos und
       Interviews von israelischen Soldaten selbst zeigen allerdings das
       Gegenteil.
       
       taz: Viele informieren sich über den Nahostkonflikt fast nur noch über
       Instagram und Tiktok. Es herrscht ein Krieg der Bilder – gefüttert mit KI,
       Desinformation und Videos aus anderen Kriegen. Macht das Ihnen Sorgen? 
       
       Würdemann: Ja. Das Problem in diesem Kontext ist auch, dass von extremen
       Kräften auf beiden Seiten ein Narrativ gestrickt wird: Die andere Seite sei
       zu bösartig, um mit ihr zu koexistieren. Diese Narrative müssen faktisch
       dekonstruiert und humanistisch kritisiert werden. In den sozialen Medien
       geschieht aber das genaue Gegenteil. Oft denke ich: Ohne die extremen
       Emotionen, die der Konflikt in aller Welt auslöst, wäre er vermutlich schon
       gelöst.
       
       3 Sep 2024
       
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