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       # taz.de -- Besuch bei Cornelia Funke in der Toskana: Eine perfekte Erzählung
       
       > Cornelia Funke hat mit ihren Jugendromanen eine ganze Generation geprägt.
       > Nun widmet sie sich dem Klimaschutz. Woher dieser Sinneswandel?
       
   IMG Bild: „Es wird weiter Reiche geben, die sich in ihren wohltemperierten Türmen verschanzen. So möchte ich nicht sein“
       
       Als wir uns das erste Mal begegnen, nimmt Cornelia Funke mich in den Arm,
       als seien wir gute Freundinnen. Ich stehe vor dem Tor ihres Hofes in der
       Toskana, wo sie mit ihrem E-Auto vorfährt und nur für die Begrüßung
       aussteigt. Sie entschuldigt sich, dass sie gleich wieder losmüsse, um zwei
       Stipendiat_innen abzuholen. Ein Bahnstreik habe alles durcheinander
       gebracht, ich solle mich einfach in ihrem Zuhause umschauen und es mir
       gemütlich machen.
       
       Auf dem Hof brummt und summt es aus allen Richtungen. Ich habe das Gefühl,
       eine Welt aus ihren Büchern zu betreten. Der Garten, der zwei alte
       Steinhäuser umgibt, sieht wild, fast schon verwunschen aus. Überall stehen
       Skulpturen und Figuren herum. Eidechsen laufen durch die hohen Gräser und
       die Wände der Steinhäuser empor. Eine der vielen Sitzgruppen, die sich über
       das Gelände verteilen, ist von einem meterlangen Stahlflügel überdacht, der
       Schatten spendet. Ein Kunstwerk eines Freundes, wie Funke später erzählen
       wird. Menschen begegnen ich keinen, ich sehe und höre nur die Natur.
       
       Mit den [1][Büchern von Cornelia Funke] bin ich aufgewachsen. „Die Wilden
       Hühner“ klaute ich meiner großen Schwester aus dem Regal und wünschte mir,
       selbst ein Teil dieser Mädchenbande zu sein, die mit Streichen die Jungs
       ärgerten. Die „Tintenwelt“-Reihe las ich nachts mit der Taschenlampe unter
       meiner Bettdecke, als ich längst schlafen sollte. Klingt kitschig, war aber
       so. Mich faszinierte damals gar nicht unbedingt die fantastische Welt,
       sondern wie schön gruselig die Geschichte um Meggie und ihren Vater
       Mortimer war, der die Zauberkraft besitzt, Wesen in Bücher hinein- und in
       die reale Welt hinauszulesen. Mich faszinierte, dass die Figuren fast
       immer für die gute Sache, für Gerechtigkeit gekämpft haben.
       
       Weltweit hat Cornelia Funke über 31 Millionen Bücher verkauft. Vergangenes
       Jahr veröffentlichte Funke mit „Die Farbe der Rache“, nach 16 Jahren Pause,
       den vierten Teil ihrer „Tintenwelt“. Wieder ein Bestseller. Funke war
       wochenlang medial präsent, gab Interviews und lud Journalist_innen auf
       ihren Hof ein. [2][Im Gespräch mit dem Spiegel] sagte sie, sie wolle eine
       Schreibpause einlegen und sich stattdessen ein Jahr lang dem Klimaschutz
       zuwenden.
       
       Weil ich wissen möchte, was sich hinter diesem „grünen Jahr“ verbirgt,
       verabrede ich mich im Winter mit ihr zum Zoom-Call. Von ihrem Schreibzimmer
       lächelt mich die Mitsechzigerin auf meinem Bildschirm an. Sie erzählt, wie
       sie vor Jahren in den USA Aktionen von Native Americans, die sich in
       Wäldern festgekettet hatten, mit Proviant versorgte, aber selbst nie den
       Mut hatte, sich festzuketten. Doch irgendwas wollte auch sie gegen die
       Klimakrise tun, dieser Wunsch ist geblieben. Sie sagt: „So Cornelia, jetzt
       machst du mal ein Jahr Pause, schreibst kein großes Buch, sondern lernst
       das Alphabet der natürlichen Welt. Zumindest die ersten Buchstaben.“
       
       Auf meine Frage, was das konkret bedeutet, antwortet Funke mit einer
       Aufzählung: Seit sieben Jahren lese sie nur noch Sachbücher, ist im Dialog
       mit Klimaschützer_innen und möchte ihren Garten mithilfe von Permakultur
       umgestalten. Dutzende Schlagworte und Namen fallen in unserem Gespräch.
       Nach einer Stunde sagt sie, was sie in ihrem Klimajahr genau tue, können
       sie nicht gut erklären, ich müsse es sehen und erleben. Ich nehme die
       Einladung an. Aber ich bin auch skeptisch – wie immer, wenn Prominente sich
       einer „guten Sache“ verschreiben. Steckt hinter dem Projekt letztlich vor
       allem Promo für die eigene Sache?
       
       Funkes Zuhause liegt in der Toskana, abgeschieden vom
       Tourist_innengetümmel. Vom Marktplatz der historischen Altstadt Volterra
       sind es zwar nur gut zwei Kilometer, doch einen Bus gibt es nicht. Wer kein
       Auto besitzt, muss laufen. Von ihrem Hof aus bietet sich ein
       Panorama-Ausblick auf die saftig-grünen Hügel und Täler, die Häuser der
       Nachbar_innen sind nur zu erahnen.
       
       Als Funke später wiederkommt, hat sie zwei junge Gäste aus Deutschland
       dabei. Sie sind Biologiestudent_innen der UN-Dekade „Biologische Vielfalt“,
       einem Projekt der Vereinten Nationen, um mehr Aufmerksamkeit für die
       Klimakrise und die Bedrohung der Vielfalt zu generieren. Funke ist dessen
       Botschafterin.
       
       Bevor Cornelia Funke die Möglichkeit hat, den beiden ihre Unterkunft zu
       zeigen, stolpern sie über eine unscheinbare gelbe Blume. Der Student ruft:
       „Oh, ein Gewöhnlicher Klettenkerbel.“ Daraufhin entspinnt sich ein
       Gespräch, das von Wildkräutern in Italien über Wölfe und Jäger zu Schlangen
       im Amazonas springt, mit der körperlich anstrengenden Olivenernte in
       Italien weitergeht und damit endet, auf welche Art Ameisen Lachgas
       produzieren können. Jedes Stichwort führt zu einem neuen Thema. Das
       Gespräch gleicht einem Schlagabtausch unter Natur-Nerds. Bei jeder
       Information, die die Biolog_innen mit ihr teilen, klatscht Funke in die
       Hände und ruft: „Wir werden so viel Spaß miteinander haben“.
       
       Während die zwei neuen Gäste sich zur Erkundung des Geländes auf den Weg zu
       den Olivenbäumen gemacht haben, sitzen Funke und ich mit Kaffee und Keksen
       an einem großen Holztisch vor ihrem Haus. Woher kommt diese Faszination für
       die Pflanzen? Funke erzählt, wie sie als Kind Grassuppe gekocht habe. Wie
       sie unter einem Mandelbaum saß und die Blüten auf sie herunter fielen. Oder
       wie sie sich im hohen Gras ein Haus getrampelt habe.
       
       Aufgewachsen ist Funke in einer nordrhein-westfälischen Kleinstadt, später
       ist sie nach Hamburg gezogen, wo sie mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern
       gewohnt hat. „Dort haben wir auch Gemüse angepflanzt und Hühner gehalten.
       Das mussten wir uns alles erst beibringen, wir hatten gar keine Ahnung“,
       sagt sie. Doch ihre tiefe Verbundenheit zur Natur sei erst in ihrer Zeit in
       den USA gekommen. 18 Jahre lang hat sie dort auf einer Avocadofarm mit
       Blick auf den Pazifik in Kalifornien gelebt.
       
       Die Erzählung der Pflanzenliebhaberin von Kindheitstagen an bis heute
       klingt perfekt. Man könnte auch sagen: konstruiert. Doch Funke ist
       Medienprofi, seit Jahrzehnten spricht sie mit der Presse. Und sie weiß, wie
       man Geschichten erzählt, die haben sie schließlich berühmt gemacht. Doch
       auch unabhängig davon scheint ihre Liebe für Natur nicht behauptet zu sein.
       In ihren Bücher wimmelt es nur so von Naturbeschreibungen. Das ist mir als
       Kind allerdings nie aufgefallen.
       
       Als ich vor ein paar Jahren las, dass Funke nach Italien zieht, war ich
       nicht überrascht. Hatte sie doch schon früh ihre Geschichten hier
       angesiedelt. „Der Herr der Diebe“ spielt in Venedig, die „Tintenwelt“ in
       Ligurien. Als ich sie darauf anspreche, lacht sie. Denn für sie sei das
       alles andere als klar gewesen. „Ich wollte niemals in der Toskana leben.
       Ich dachte, die Natur sehe hier zu menschengemacht aus und dass ich überall
       nur Deutschen begegnen würde“, sagt sie. Doch eine befreundete
       Schauspielerin riet ihr, die Gegend um Volterra anzuschauen, ihre
       Assistentin fand einen Hof und so zog sie vor drei Jahren von Malibu
       hierher.
       
       Wenn sie von Kalifornien redet – sie sagt im breiten US-amerikanischen
       Akzent „California“ –, spricht Funke wie über einen geliebten Ex-Partner.
       Sie erzählt vom Blick auf den Pazifischen Ozean mit seinen Walen und
       Delfinen, den sie von ihrem Zuhause in Malibu auf den Bergen hatte. Während
       sie spricht, streichelt sie einen ihrer Hunde, einen australischen
       Schäferhund-Pyrenäen-Mischling, der während des Gesprächs unter dem Tisch
       liegt und seinen Kopf auf ihren Schoß gelegt hat. Auf sein Bellen hin
       antwortet sie: „Yeah, you’re Californian, absolutely.“ Sie habe nicht viel
       aus den USA mitgenommen, aber die beiden Hunde mussten mit. Und sich selbst
       habe sie natürlich auch mitgebracht, sagt sie und lacht. In Kalifornien
       habe sich ihre Art zu Denken verändert. „Das Land hat mich ein bisschen
       umprogrammiert. Ich habe realisiert, wie sehr ich die Wildnis, aber auch
       die Menschen brauche. Ein Teil von mir wird immer kalifornisch sein.“ Bis
       heute werde sie in Volterra „L’Americana“ genannt. Als sie das erzählt,
       kling sie stolz.
       
       ## Wenn die Frau aus dem Feuer spricht
       
       Wenn man Funke fragt, wieso sie trotz dieser Liebe die USA verlassen hat,
       bekommt man zuerst eine politische Antwort. Ihre Avocadofarm sei bei einem
       Feuer fast zerstört worden und konnte nur dank eines Nachbarn gerettet
       werden. „Die ganze Natur vor Ort wurde immer trockener, ich hatte das
       Gefühl, [3][im Schaufenster des Klimawandels zu leben].“ Hinzu kam Trump,
       der im Denken der Amerikaner viel Schlechtes angerichtet habe.
       
       Als klimabewusste Frau [4][eine Avocadofarm zu betreiben], klingt
       widersprüchlich. Ebenso, dass sie jetzt auf einem hektargroßen Gelände mit
       klimatisierten Steinhäusern und Pool lebt. Doch auf jede kritische
       Nachfrage hat Funke eine Antwort. Die Avocadofarm habe der Nachbar mit
       seinem Vater vor Jahrzehnten angepflanzt. „Natürlich weiß ich, dass es
       irrwitzig ist, in so einer trockenen Landschaft Bäume zu bewirtschaften,
       die so viel Wasser verbrauchen. Doch was hätte ich tun sollen, die ganzen
       Bäume aus der Erde reißen und sie töten?“ Und die Löwenhitze in der Toskana
       sei ohne Klimaanlage eben nicht auszuhalten.
       
       Zu den Gründen, warum sie die USA verlassen hat, gibt es noch eine andere
       Geschichte. Funke erzählt, wie sie bei einer Geburtstagsfeier eines
       indigenen Freundes saß, im Garten brannte ein Feuer. Und während sie da so
       saß, sei auf einmal eine Frau in dem Feuer aufgetaucht und habe ihr zu
       verstehen gegeben, dass sie das Land verlassen müsse. Und da wusste sie,
       dass es Zeit war zu gehen.
       
       Wenn man Cornelia Funke zuhört, hat man das Gefühl, als würde sie ständig
       in zwei Welten leben. Denn ihr Bewusstsein für die Klimakrise und die
       politische Weltlage verbieten es, sie als „weltfremd“ zu bezeichnen. Doch
       dann sind da diese fantastischen Geschichten, die beim Zuhören nur schwer
       einzuordnen sind. Sie klingen mehr nach Fiktion als nach Realität. Aber sie
       erklären vielleicht, wie all diese Welten für ihre Bücher aus ihrem Kopf
       entspringen können.
       
       Nach Volterra ist Funke allein gekommen. Ihr Mann ist vor knapp zwei
       Jahrzehnten, nur ein Jahr nach dem sie in den USA angekommen waren, an
       Krebs gestorben. Ihre Kinder sind erwachsen und nicht mit nach Italien
       gekommen. „Das erste halbe Jahr war ganz, ganz schwer. Man bemerkt all die
       Sachen, die man nicht sagen kann. Die Kultur ist teilweise sehr fremd“,
       sagt sie. Doch auch alte Bekannte, die sie hier wieder traf, machen ihr zu
       schaffen: Der Klimawandel und der Rechtspopulismus.
       
       Kurz nachdem Funke in die Toskana zieht, passieren zwei Dinge: Die
       [5][Faschistin Giorgia Meloni wird Italiens Ministerpräsidentin]. Und
       gerade einmal sechs Wochen nach ihrem Umzug muss Funke wegen Feuer
       evakuieren. Schon wieder. Ein Nachbar hatte Benzin auf seine Blätter
       gegossen und angezündet, wie er es immer im Oktober tue. Doch die Oktober
       seien mittlerweile eben nicht mehr feucht und kalt, sondern warm und
       trocken.
       
       Norditalien gilt längst auch als klimatischer Hotspot, die Auswirkungen der
       Klimakrise sind hier stärker zu spüren als in anderen Orten Europas. „Ich
       dachte, ich pack das nicht noch einmal. Aber es hat mir noch mal sehr klar
       gemacht: Auch wenn es hier noch nicht so trocken ist wie in Kalifornien,
       man kann vor der Klimakrise nicht weglaufen.“
       
       Dass die Klimakrise mittlerweile auf der ganzen Welt zu spüren ist, ist
       eine Binse. Ebenso, wer dafür verantwortlich ist: Industrieländer, fossile
       Konzerne und reiche Individuen, die mit ihrem Jetset-Lebensstil auf Kosten
       vieler anderer leben. Einen Helikopter hat Funke nicht, doch ihr Lebensstil
       mit großem Anwesen und internationalen Lesereisen ist auch nicht gerade
       nachhaltig.
       
       Von der anfänglichen Ruhe auf dem Hof ist mittlerweile nicht mehr viel
       übrig. Zwei Illustrator_innen aus Deutschland und Italien sind von ihrem
       Ausflug aus der Stadt zurück. Sie waren einkaufen, um am Abend für alle
       Pizza zu backen. Wenig später kommt eine junge Frau auf den Hof, sie war
       selbst einmal Stipendiatin bei Funke und ist mittlerweile bei ihr
       angestellt, um bei der Umgestaltung des Gartens und bei der Betreuung der
       Gäste zu helfen. Wenn Funke zusammenfassen soll, was diesen Hof ausmacht,
       zitiert sie den Sänger Bob Dylan: Er soll ein „shelter from the storm“
       sein. Ein Ort zum Entkommen, aber einer, wo man den Sturm draußen noch
       hört. Denn bei all der Liebe zur Kunst dürfe man die Augen vor der Realität
       nicht verschließen.
       
       Um zu zeigen, was die Stipendiat_innen hier tun, steht Funke auf und
       verschwindet in der Werkstatt, einem dunklen Raum voller Tische, Mal- und
       Zeichenutensilien. Sie kommt mit einem großen Buch wieder. Eine
       Ornithologin hatte ihr online angeboten, die Vögel auf dem Hof zu
       bestimmen. Funke lud sie ein. Daraus entstanden ist das Vogelbuch. Jede_r,
       der hier zu Gast ist, ist eingeladen, einen der Vögel zu zeichnen, zu malen
       oder zu basteln. Sie selbst hat sich auch mit einem roten Star verewigt.
       Die Wissenschaftler_innen helfen bei der Bestimmung der Tiere und Pflanzen
       und der Konzeption des Gartens. Die Stipendiat_innen können tun, was sie
       möchten. „Wenn jemand einfach eine Woche in die Luft gucken möchte und dann
       mit diesen Eindrücken wieder nach Hause fährt, ist das total in Ordnung“,
       sagt Funke. „Aber eigentlich passiert das nie.“ Einmal pro Woche nehme sie
       sich für jede Person eine Stunde Zeit, um zuzuhören und Tipps zu geben.
       
       Während unseres Gesprächs kommen Funke die Tränen, als sie von einer Gruppe
       junger Mädchen erzählt, auf die sie bei einem Schreibwettbewerb aufmerksam
       geworden ist. Sie wischt sich die Tränen nicht verstohlen aus den Augen,
       sondern spricht darüber, was sie rührt. Junge Menschen, die aus einer so
       krisengebeutelten Zeit kämen, gingen ihr eben nahe.
       
       Geschichten zu erzählen, sei für sie nicht nur ein Abenteuer, sondern auch
       eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe, gerade in dunklen Zeiten. „Ich sage
       jungen Literaten immer: Ihr werdet Menschen Worte liefern, die keine
       eigenen haben. Worte, zwischen denen sie Trost finden und zu Hause sind.“
       
       In ihrem Schreibzimmer stapeln sich neben Notizen und Figurenzeichnungen
       auch Briefe von ihren Leser_innen. Manche schrieben ihr, dass ihre Bücher
       ihnen durch schwere Krankheiten hindurch oder über Schicksalsschläge hinweg
       geholfen hätten. Ist es also Nächstenliebe, die sie dazu bringt, ihr Haus
       für Fremde zu öffnen? Nicht nur. „Zu Beginn hatte mein Projekt absolut auch
       eigennützige Gründe. Ich wollte einfach Gesellschaft und leben wie in einem
       Dorf, um gemeinsam herauszufinden, wie wir anders leben können.“
       
       Cornelia Funkes grünes Jahr funktioniert anders, als ich es mir vorgestellt
       habe. Es scheint mehr um Community als um Aktivismus zu gehen. Die Meldung
       „Erfolgreiche Kinderbuchautorin klebt sich mit der Letzten Generation auf
       der Straße fest“ hätte sicherlich für mehr Aufmerksamkeit gesorgt. Doch
       dieses Bild, wie Funke mit Sekundenkleber an den Händen auf Kreuzungen
       sitzt, hat nichts mit der Realität zu tun. Es existiert nur in meinem Kopf.
       Als ich hier bin, verstehe ich, dass es Funke um etwas anderes geht. Sie
       möchte die Utopien aus ihrer Literatur auch in der Realität schaffen.
       
       Und so fühlt sich der Hof auch wie eine Art Parallelwelt an, die mit ihren
       vielen Winkeln zum Verstecken einlädt. Ich blicke ein wenig neidisch auf
       Funke und ihre Gäste, die an einem so idyllischen Ort leben können und sich
       einfach mit dem beschäftigen, was sie interessiert. Bewerben kann man sich
       auf ein Stipendium nicht, Funke wählt die Personen aus aller Welt aus.
       Damit bleibt es ein kleiner Zirkel, der in den Genuss kommt, hier für eine
       kurze Zeit zu leben.
       
       Aber kann sich aus so einer geschützten Exklusivität überhaupt politische
       Wirkung entwickeln? Da ist er wieder, der Widerspruch, der in vielen
       Geschichten vorkommt, die Funke mir an diesem Tag erzählt. Bei der Sache
       mit der Avocadofarm oder als sie erzählt, dass sie regelmäßig für Lesungen
       durch Europa fliegt, obwohl sie ansonsten versucht, ihren ökologischen
       Fußabdruck zu verringern. Während ich versuche, das alles zu begreifen,
       kommt mir plötzlich in den Sinn, dass Cornelia Funke sich damit gar nicht
       groß von uns Normalsterblichen unterscheidet. Wir haben alle Lust auf ein
       gutes Leben und picken uns das Machbare heraus. Funke macht das halt nur im
       größeren Stil.
       
       Wir sprechen über viele Themen: Angefangen von der etruskischen Stadtmauer
       in Volterra, die am Mittag teilweise zusammengebrochen ist, über Italiens
       Regierung bis zu den Kriegen dieser Welt. Funke scheint nicht gerne
       Smalltalk zu führen, sondern geht lieber direkt in die Diskussion. Immer
       wieder kommen wir auf die Klimakrise und ihre Folgen zu sprechen.
       
       Die Angst, dass Kinder nicht mehr unbefangen über eine Wiese rennen können
       oder dass die Biodiversität verloren geht, ist bei Funke groß. Auch, dass
       wir nicht nur das Wissen über die Pflanzen verlieren, sondern auch die
       Pflanzen selbst, und am Ende eine graue Welt übrig bleibt mit Tauben und
       Ratten, mit Gestrüpp und Disteln, aber ohne Vielfalt, Farbe und Freude.
       „Ich würde schon sagen, dass es ziemlich finster aussieht für die Welt.
       Aber wir müssen trotzdem etwas anders machen“, sagt sie. „Wir haben eine
       Verantwortung, dass künftige Generationen eine lebbare Zukunft haben
       werden, wenn es diese denn geben wird.“
       
       Es sind Sätze wie diese, die für mich klarmachen: Funke nimmt die Krisen
       dieser Welt und ihre Verantwortung ernst. Sehr ernst. Mit ihrer
       amerikanisch-offenen Art möchte man sie schnell als optimistische Person
       bezeichnen, doch aus dem, worüber sie spricht, lässt sich [6][wenig
       Hoffnungsvolles] ablesen. Es ist, was mich an diesem Tag am meisten
       überrascht. Bislang hatte ich das Düstere in Funkes Büchern eher als Lust
       am Gruseln oder an Abenteuern interpretiert. Doch es steckt auch viel
       Weltschmerz dahinter.
       
       Zur Mittagszeit zieht Funke sich in ihre Wohnung zurück, sie müsse sich
       ausruhen. Als wir später wieder zusammensitzen, bekomme ich eine
       Vorstellung davon, wie Ausruhen für diese Frau kurz vor ihrem Rentenalter
       aussieht. Sie erzählt, sie habe gar nicht geschlafen, sondern kichernd auf
       der Couch an dem neuen Band ihrer „Gespensterjäger“-Reihe geschrieben. Die
       auferlegte Schreibpause im Ruhejahr scheint sie also nicht einzuhalten. Im
       Gegenteil, sie jongliert Dutzende Projekte gleichzeitig. Als ich sie darauf
       anspreche, entgegnet sie lachend: „If you want to make God laugh, tell her
       about your plans.“ Sie beginnt mit einer Auflistung, woran sie gerade
       arbeitet: ein Sachbuch zu Motten, ein Kinderbuch zur Klimakrise, ein
       Serienkonzept für „Die Wilden Hühner“. Und dann ist da noch eine andere
       Geschichte. Funke bleibt im Vagen, wenn sie von ihr erzählt, doch ihr Blick
       sieht aus, als wäre sie frisch verliebt. Sie sagt: „Als ich kürzlich in
       Venedig war, hat eine große Geschichte mich angesprungen. Das ist so eine,
       von der man weiß, dass sie mächtig ist. Ich versuche mich immer zu
       ermahnen: Nein, Cornelia, du machst jetzt doch dein grünes Jahr. Aber die
       Geschichte hört einfach nicht auf zu flüstern.“ Als wir kurz vor der
       Veröffentlichung dieses Artikels noch einmal miteinander sprechen, verrät
       Funke mir, worum es sich bei der geheimnisvollen Geschichte handelt: Sie
       sitzt an der Fortsetzung der „Herr der Diebe“-Reihe.
       
       ## Ein Versuch, alles richtig zu machen
       
       Ein Buch zu schreiben, erfordert harte Disziplin. Bei Funke klingt es wie
       ein Leichtes. „Schreiben ist für mich immer schon Schokolade gewesen. Ich
       muss mich immer ermahnen: Iss nicht zu viel Schokolade, Cornelia. “
       
       Als sie mich später über das Gelände und durch ihre Wohnung führt, landen
       wir irgendwann in einem Raum, der vom Boden bis zur Decke mit Büchern
       gefüllt ist. Es ist ihre Bibliothek mit einem Tonstudio, dass ihr Sohn
       eingerichtet hat. Gleich am Eingang stehen ihre eigenen Bücher: Von den
       „Wilden Hühnern“ über „Reckless“ zum aktuellen „Tintenwelt“-Band, in
       Deutsch, Italienisch, aber auch Russisch und Chinesisch.
       Geheimniskrämerisch zeigt Cornelia auf die rechte Wand und fragt: „Fällt
       dir etwas auf?“ Tut es nicht. Beim Nähertreten sehe ich, dass eine
       Regalwand etwas zurückversetzt ist. Eine geheime Tür. Schiebt man sie
       vorsichtig zur Seite, legt sich ein versteckter zweiter Raum frei, der
       ebenfalls von Boden bis zur Decke mit Büchern gefüllt ist. Vor allem mit
       Fantasy. Ein Paradies für Kinder oder eben für Cornelia Funke.
       
       Wann immer wir an diesem Tag über Fantasy und die Möglichkeit reden, mit
       diesen Geschichten der Wirklichkeit für einen kurzen Moment zu entfliehen,
       kommt das Gespräch irgendwann auf Joanne K. Rowling zu sprechen. Gibt es
       doch auch einige Gemeinsamkeiten zwischen den beiden: Die Liebe für
       Fantasy, ihre fesselnden Bücher, die Kinder und Jugendliche zum Lesen
       bringen, das Erschaffen eigener Welten. Und natürlich auch der Erfolg. In
       Medien wird Funke manchmal als „die deutsche Rowling“ bezeichnet. Viele
       Menschen in meinem Alter sind mit ihren Büchern aufgewachsen, man nennt uns
       spaßhaft die „Generation Harry Potter“. Doch nach den wiederholten
       transfeindlichen Aussagen von Rowling haben immer mehr Leser_innen mit der
       Autorin gebrochen. Und Rowling ist da kein Einzelfall, in beängstigender
       Regelmäßigkeit versuchen Held_innen unserer Kindheit mit politisch
       kontroversen Haltungen Aufmerksamkeit zu generieren.
       
       Im vergangenen Jahr wurde Funke vom Spiegel auf nachträgliche Veränderungen
       in Kinderliteratur (wie der „Südseekönig“ in Pipi Langstrumpf)
       angesprochen. Damals war meine Angst groß, wieder von einer Autorin meiner
       Kindheitstage enttäuscht zu werden. Doch Funke distanziert sich von
       Rowling. Sie erzählt, dass ihre Bücher vor der Veröffentlichung von
       Sensitivity Readern gelesen werden, die Hälfte der Anmerkungen setzte sie
       um. „Ich bin so privilegiert in vielerlei Hinsicht, als weiße deutsche
       Frau. Als Geschichtenerzählerin muss ich auch durch die Augen anderer auf
       die Welt sehen. Das schulde ich meinen Lesern.“
       
       Doch so einfach sich das mit der Verantwortung sagt, so schwer ist es
       manchmal, danach zu leben. Funkes Bücher werden international verlegt –
       auch in Russland. Das habe auch hier am Hof zu Spannungen geführt, erzählt
       sie. Eine ukrainische Illustratorin habe sie am ersten Tag ihres
       Stipendiums angesprochen und gesagt: „Bitte, Cornelia! Du darfst deine
       Bücher nicht in Russland verlegen. Mit den Steuern, die die Verlage zahlen,
       werden Kugeln finanziert, die unsere Kinder töten.“ Stundenlang hätten sie
       sich darüber unterhalten.
       
       Funke verlegt weiter in Russland. Aber sie sagt, nun gingen alle Profite
       aus den Verkäufen an ukrainische Organisationen. Und die Verlage in der
       Ukraine können ihre Rechte umsonst bekommen.
       
       Es ist der Versuch, alles richtig zu machen.
       
       Auch auf die Frage, ob ihre Community zu exklusiv sei, hat Funke eine
       Antwort. Sie habe gerade einen zweiten Hof gekauft, nur 15 Minuten mit dem
       Auto entfernt in Mulinaccio. Dort können bis zu zehn Gäste gleichzeitig
       unterkommen. Hier soll es auch ein kleines Restaurant, Veranstaltungen und
       einen Tag der offenen Tür geben. Im Permakulturgarten sollen alle mitmachen
       können. Ihre persönliche Aufgabe sieht Funke vor allem in der Finanzierung.
       „Natürlich wird es auch weiter Reiche geben, die sich in ihren
       wohltemperierten Türmen verschanzen können. So jemand möchte ich nicht
       sein“, sagt Funke. Zwar könnten man auch ihre beiden Höfe in der Toskana in
       die Kategorie „wohltemperierte Türme“ einsortieren. Aber wenigstens möchte
       Cornelia Funke ihre Türme teilen.
       
       21 Jul 2024
       
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