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       # taz.de -- Medien in Russland: Gewalt, Lügen und Zynismus
       
       > Eine Serie auf Onlineplattformen über Jugendkriminalität zu Zeiten der
       > Perestroika bricht alle Zuschauerrekorde. Nun soll sie verboten werden.
       
   IMG Bild: Die Sowjetunion stirbt: Szene aus der Erfolgsserie „Slovo patsana. Krov na asfalte“
       
       Moskau taz | Spitzbübisch schaut er durch die Tür, sein rotes
       Pionierhalstuch steckt brav gebunden hinter dem Kragen seiner dunkelblauen
       Schuluniform. Andrei (Leon Kemstatsch) ist Einserschüler, ein
       feingliedriger blonder 15-Jähriger, der auf einem Tisch Klavier spielen
       lernt, mit Kreide hat er die Tasten darauf gemalt. Für ein richtiges
       Instrument fehlt seiner alleinerziehenden Mutter das Geld.
       
       Es ist [1][die Zeit der Perestroika] – eine Zeit, in der Gewissheiten
       zusammenbrechen, in der die Vergangenheit nicht mehr zählt, die Gegenwart
       unsicher ist und die Zukunft völlig vage. „Ich habe es satt, ein
       Tschuschpan zu sein“, sagt Andrei schließlich vor einer Gruppe
       Gleichaltriger im Schnee. „Tschuschpan“ lässt sich nicht übersetzen, es ist
       ein Codewort für „Opfer“.
       
       Andrei erlebt keinen Tag, an dem er nicht abgezogen, erniedrigt, geschlagen
       wird. Er will ein cooler Junge sein. Ein „Pazan“. Will nicht verprügelt
       werden, sondern selbst prügeln. Er lernt es schnell, kaum hat ihn sein
       neuer Freund Marat (Rusil Minekajew) zur Jugendbande seines Bruders Wowa
       (Iwan Jankowski) mitgenommen, eines gerade zurückgekehrten
       Afghanistansoldaten. Für Andrei gibt es kein Zurück mehr, wie für keinen
       der Jugendlichen, die Schutz suchen, stattdessen jedoch Tod und Verderben
       finden.
       
       Der russische Regisseur Schora Kryschownikow hat die wahre Geschichte um
       die Jugendkriminalität in Kasan, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik
       Tatarstan, Ende der 1980er Jahre in düstere, ja grausame Bilder seiner
       achtteiligen Serie „Das Wort des Jungen. Blut auf dem Asphalt“ verpackt.
       Die Folgen laufen derzeit auf unterschiedlichen Onlineplattformen und
       brechen Zuschauerrekorde.
       
       ## Kein Zugang mehr
       
       Es sind Bilder von blutigen Schlägereien, von Überfällen, unbeugsamen
       Kämpfen, mit denen die Halbwüchsigen sich Gehör zu verschaffen versuchen,
       von den Erwachsenen aber für rein böse gehalten und aufgegeben werden. Die
       Väter und Mütter finden keinen Zugang mehr zu ihren Kindern. Mit Worten
       nicht, mit körperlicher Züchtigung noch weniger.
       
       „In unserem Land herrscht Chaos, und in euren Köpfen auch“, schreit der
       Vater von Marat und Wowa. Sie lassen ihn stehen und ziehen zum nächsten
       Kampf mit einer verfeindeten Bande. Sie „teilen“ den „Asphalt“ in ihrer
       Stadt, kämpfen unerbittlich um „ihr“ Territorium. Sie tun das nach ihren
       eigenen Regeln, nach den Gesetzen der Stärke. Es gibt nur die Wahl zwischen
       „Tschuschpan“ oder „Pazan“, dazwischen gibt es nichts.
       
       Die Serie greift das soziale Phänomen der Jugendbanden auf. Kryschownikow
       und sein Drehbuchautor Andrei Solotarjow fragen nach dem Warum. Sie wollen
       dem Verlust des Vertrauens nachgehen, den Mechanismen des Überlebens, wenn
       die Welt um einen herum zusammenbricht. Was macht das mit Menschen? Was mit
       Jugendlichen, die Halt suchen, von Eltern, Schule, dem Staat aber nicht
       gehört werden?
       
       „Das Wort des Jungen“ ist ein brutales Drama des Erwachsenwerdens geworden,
       eine grausame Geschichte der Entfremdung von Generationen. „Verbrechen, die
       ungesühnt bleiben, kehren potenziert zurück“, sagte der Regisseur bei der
       Premiere vor über einer Woche.
       
       ## Erstaunliche Parallelen
       
       Mit dem Drehen hatte er noch vor Moskaus Einmarsch in der Ukraine begonnen,
       seine Serie aber weist erstaunliche Parallelen zu den Verheerungen im
       heutigen Russland auf. Kunstvoll wie erbarmungslos illustriert
       Kryschownikow eine Gesellschaft, die nach der Regel „Der Stärkere hat
       recht“ lebt. Er zeigt, wie alles in [2][Gewalt], Lügen und Zynismus
       aufgeht.
       
       Auch Russlands Präsident Wladimir Putin und seine Silowiki, die
       Sicherheitsorgane, sind sogenannte „Pazany“. Das sind Jungs, deren Weltbild
       sich aus dem Ehrbegriff des Gefangenenwesens speist: schlagen,
       unterdrücken, erniedrigen.
       
       Wenn die Russ*innen „po-pazanski“ sagen, meinen sie damit die
       Sozialisierung im Hinterhof, wo geprügelt und unterworfen wird. So wird
       Gerechtigkeit verstanden. Putin erzählt immer mit Stolz über seine Jugend
       in den Hinterhöfen seines Leningrader Bezirks.
       
       Nun hat sich auch der Staat der Serie angenommen – auf die gewohnte Art.
       „Das Wort des Jungen“ soll verboten werden. Die Serie fördere einen
       gefährlichen Lebensstil von Jugendlichen, behauptet die für den Schutz der
       Familie zuständige Duma-Abgeordnete Nina Ostanina.
       
       Es geht einmal mehr ums Untersagen, nicht um die Auseinandersetzung mit
       kausalen Zusammenhängen. Währenddessen gibt sich der Präsident als der
       Ober-Pazan, der nach seinen eigenen Regeln lebt und den Rest um sich herum
       zu unterwerfen versucht, durch den Kult der Stärke.
       
       12 Dec 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Inna Hartwich
       
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