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       # taz.de -- Aktivistin zu Antifeminismus in Russland: „Victim blaming ist verbreitet“
       
       > Die Situation für Frauen in Russland verschlechtert sich. Eine Kraft
       > dahinter ist laut der Aktivistin Sasha Talaver die russisch-orthodoxe
       > Kirche.
       
   IMG Bild: Moskau, 6. November, Feier zur Oktoberrevolution
       
       taz: Frau Talaver, die [1][russische Regierung] schränkt reproduktive
       Rechte von Frauen ein. Welche Regionen sind bisher betroffen?
       
       Sasha Talaver: In der russischen Teilrepublik Mordowien und in der Oblast
       Twer wurden unter dem Deckmantel, Schwangere zu schützen, Gesetze erlassen,
       die Schwangerschaftsabbrüche verbieten. Auf der okkupierten Krim haben
       Privatkliniken „freiwillig“ darauf verzichtet, Abtreibungen durchzuführen.
       Privatkliniken in der Oblast Kursk verzichten auf medikamentöse
       Abtreibungen, das gilt auch für Kliniken in den Oblasten Tscheljabinsk und
       Tatarstan.
       
       Wie sah das Recht auf Abtreibung in Russland bisher aus? 
       
       Die Abtreibungsgesetze in Russland waren als Erbe der Sowjetunion sehr
       liberal. Die Gesundheit der Frau galt stets als wichtiger als die
       Gesundheit des ungeborenen Kindes. In den letzten 20 Jahren wurde von
       verschiedenen Seiten versucht, das Recht auf Abtreibung einzuschränken. Es
       wurde versucht, Abtreibungswerbung zu verbieten, außerdem wurden sogenannte
       „Tage der Stille“ eingeführt. Das bedeutet, dass eine Frau nach dem
       Beratungsgespräch mit dem Arzt noch einige Tage über ihre Entscheidung
       nachdenken muss, bevor sie abtreiben lässt. Auch die Liste der
       gesundheitlichen Gründe, die eine Abtreibung möglich machten, wird immer
       kürzer. [2][Seit 2022] bekommen Kliniken mehr Mittel, je mehr Frauen sie
       davon überzeugen konnten, keine Abtreibung durchzuführen.
       
       Welche politischen Kräfte spielen bei der Verschärfung des
       Abtreibungsrechts eine Rolle? 
       
       Die treibende Kraft dahinter ist wider Erwarten nicht die russische
       Regierung. Selbst Wladimir Putin sagte noch 2017 aufgrund seiner
       sowjetischen Prägung, dass Abtreibungen auf keinen Fall [3][verboten werden
       dürfen]. Diejenigen, die ein Verbot von Abtreibungen fordern, sind die
       russisch-orthodoxe Kirche sowie andere gesellschaftliche Organisationen,
       wie die Stiftungen „Russische Einigkeit“ oder „Frauen für das Leben“. Erst
       in den letzten paar Jahren fallen diese Initiativen auf fruchtbaren Boden.
       Sie bekommen mehr Unterstützung, auch von regionalen Behörden, und reihen
       sich in das transnationale Netz religiöser, konservativer
       [4][Organisationen ein].
       
       Welche Entwicklung erwarten Sie? 
       
       Ich denke nicht, dass Abtreibungen vollends verboten werden. Man wird aber
       wahrscheinlich versuchen, Abtreibungen nur noch in staatlichen
       Krankenhäusern durchführen zu lassen. Schon jetzt kaufen Feministinnen in
       Russland Abtreibungspillen ein, um im Falle einer Verschärfung der
       [5][Gesetzgebung Abhilfe leisten zu können]. Der feministische
       Antikriegswiderstand veröffentlichte eine Petition für das Recht auf
       Abtreibung und verteilte Broschüren in staatlichen Geburtskliniken, um über
       Abtreibungen zu informieren.
       
       Wie ist die Entwicklung im Bereich häuslicher Gewalt? 
       
       2017 wurde häusliche Gewalt, die zu keinen bleibenden Verletzungen führt,
       entkriminalisiert. Die feministische Bewegung hat vor dem Beginn des
       Überfalls auf die Ukraine eine große Kampagne für eine Wiedereinführung
       eines Gesetzes geführt. Auch hier war die russisch-orthodoxe Kirche die
       treibende Kraft dagegen. Unabhängige Frauenhäuser berichten von einem
       Anstieg Hilfesuchender. Bei vielen dieser Fälle handelt es sich um „alte
       Fälle“, die nun ein Bewusstsein für häusliche Gewalt entwickelt zu haben
       scheinen. Das bedeutet, dass Hilfsangebote über häusliche und
       partnerschaftliche Gewalt immer mehr Menschen erreichen. Gleichzeitig
       werden viele Männer, die als Gewalttäter im Gefängnis saßen und für den
       Krieg in der Ukraine rekrutiert wurden, nach ihrem Einsatz begnadigt und
       sogar als Helden geehrt. Jetzt schon gibt es Dutzende Berichte von
       Kriegsrückkehrern, die ihre Partnerin oder Kinder getötet oder jemanden
       vergewaltigt haben. Das erzeugt eine neue Bedrohungslage für Frauen. Es
       gibt keine staatliche Infrastruktur und Programme zum Schutz der Frauen und
       auch keinen gesellschaftlichen Konsens, der häusliche Gewalt ablehnt.
       Victimblaming ist noch immer verbreitet, egal wie brutal ein Femizid war.
       
       Wie ist die Situation für Frauen in der russischen Armee? 
       
       Wir haben keine genauen Zahlen, aber in den letzten Monaten gibt es
       vermehrt Werbung, die Frauen dazu aufruft, als Medizinerinnen oder
       Soldatinnen in den Krieg zu ziehen. Die russische Armee gilt als
       Institution hegemonialer Männlichkeit. So werden Frauen zu sexuellen
       Kontakten mit Vorgesetzten oder Kollegen gedrängt. Im Volksmund gelten
       Frauen an der Front als „Prostituierte“, denn eine Frau könne nie „rein“
       von der Front zurückkehren. Schon nach dem Zweiten Weltkrieg haben
       Partisaninnen und Rotarmistinnen ihren Einsatz oft verheimlicht, um diesen
       Vorurteilen zu entgehen.
       
       Kann man davon ausgehen, dass es mehr Männer als Frauen sind, die den Krieg
       unterstützen? 
       
       In letzter Zeit gab es vermehrt [6][Initiativen von Frauen], die forderten,
       ihre Männer von der Front heimkehren zu lassen. Viele dieser Bewegungen
       lehnen jedoch weder den Krieg noch Putins Regime ab. Laut einer Studie von
       Russian Field Ende Oktober 2023 sind 57 Prozent der Frauen in Russland für
       Friedensverhandlungen, während es bei den Männern nur 37 Prozent sind. 83
       Prozent der Frauen würden Putin unterstützen, wenn er einen Friedensvertrag
       unterschreiben würde.
       
       Welche Konsequenzen drohen Feministinnen für ihren Aktivismus? 
       
       Feministinnen in Russland werden seit Jahren von Bewegungen wie „Männlicher
       Staat“ attackiert. Gleichzeitig nehmen auch die Diskussionen von
       staatlicher Seite um die Einstufung von Feminismus ähnlich wie der
       LGBT-Bewegung als Extremismus oder westliche Ideologie zu. Der
       feministische Antikriegswiderstand wurde vom russischen Staat zum
       [7][ausländischen Agenten erklärt]. Gegen einige Aktivistinnen wurden
       Verfahren eröffnet, die meisten konnten aus Russland fliehen. Diejenigen,
       die in Russland verbleiben, operieren anonym. Doch die reale Teilnahme von
       Frauen an Lohnarbeit und Politik hat in dieser Gesellschaft seit etwa 100
       Jahren ihre Spuren hinterlassen. Das Patriarchat existiert zweifellos
       weiter fort, aber die Idee der Gleichstellung der Geschlechter hat tiefe
       Wurzeln in der russischen Gesellschaft.
       
       6 Dec 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Gesetzgebung-in-Russland/!5945185
   DIR [2] https://www.garant.ru/products/ipo/prime/doc/403402448/
   DIR [3] https://ria.ru/20171214/1510946038.html
   DIR [4] /Kommentar-AntifeministInnen-Kongress/!5581928
   DIR [5] https://t.me/shorokhi_krovi
   DIR [6] https://www.fr.de/politik/frauen-soldaten-verluste-putin-russland-ukraine-krieg-kritiker-moskau-demonstrationen-zr-92682179.html
   DIR [7] https://meduza.io/en/news/2022/12/23/human-rights-activist-an-internet-freedom-organization-and-the-feminist-anti-war-resistance-movement-added-to-russia-s-list-of-foreign-agents
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anastasia Tikhomirova
       
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