URI:
       # taz.de -- Ausstellung über Waren und Kirche: Glaubst du noch oder kaufst du schon?
       
       > In Lübeck konfrontiert Christian Jankowski mit der Kunstaktion „Heilige
       > Geschäfte“ Warenwelt und kirchlichen Wahrheitsanspruch.
       
   IMG Bild: Der gotische Hallenraum der St.-Petri-Kirche eignet sich zur Präsentation skandinavischer Möbel
       
       Die Silhouetten der sieben Lübecker Kirchtürme werden in Tourismus und
       Warenwerbung genutzt. Und die Kaufleute der einst reichsten Stadt der Hanse
       haben die Kirchen des Weltkulturerbes finanziert. Warum nicht Kirche,
       Kommerz und Kunst wieder näher zusammenbringen? So kam der [1][Berliner
       Konzeptkünstler Christian Jankowski] zu seinem Projekt [2][„Heilige
       Geschäfte“].
       
       Der 1968 geborene Multikünstler-Kurator liebt es, unterschiedliche soziale
       Bereiche in Kontakt zu bringen, ja zu konfrontieren. Er verband schon
       indigene Jagd und Supermärkte, Zahnarztpraxen und Kunst,
       Gewichthebervereine und Ehrendenkmäler, TV-Wahrsagerinnen und die Biennale
       di Venezia. Jetzt haben sich nach weit über einjährigen Bemühungen vier der
       Kirchen der Stadt seinem konzeptuellen Projekt geöffnet. Und so kommen die
       mehr oder weniger heiligen Hallen und der gewöhnliche Kommerz sogar noch
       näher zusammen als einst im Mittelalter.
       
       Vielleicht auch, weil die traditionsreiche und sehr aktive
       [3][Overbeck-Gesellschaft] schon länger für Kunstausstellungen mit der
       Kirche St. Petri kooperiert, gibt es als ersten Teil des Projekts im
       Kunstverein in Videos zu verfolgen, wie eine reformierte Pastorin und vier
       evangelische Pastoren im traditionellen schwarzen Talar mit der
       norddeutschen historischen weißen Halskrause im Lebensmittelladen, in
       Möbel-, Mode oder Elektronikgeschäften oder in einer lichtblitzenden
       Diskothek auf wohlformulierte Gottsuche gehen. Pastoren im Alltag und
       Alltag in der Kirche: Jankowski agiert als Agent der gedankenöffnenden
       Kombinationen – als ein Künstler an der sozialen Plastik.
       
       ## Verkaufsfilialen in den Kirchen
       
       Jankowskis künstlerischer Werkbegriff schließt die lange Vorbereitungsphase
       mit vielen kontroversen Gesprächen mit ein. Einige Pastoren und
       Kirchengemeinden lehnten das Ansinnen Jankowskis ab, hielten es für
       provokant, ja für blasphemisch. Nun ist eine evangelische Kirche zwar nur
       ein Versammlungsort und nicht per se heilig, wie manche meinen. Doch die in
       der altehrwürdigen Ratskirche St. Marien, der ältesten und größten
       Backsteinbasilika der Hanse geplante „Churchnight“-Disco mit allem, was
       musikalisch und technisch möglich ist, samt Referenz auf den berühmten
       historischen Totentanz, konnte nicht stattfinden. Andererseits war auch
       manchen Firmen die Verbindung mit der christlichen Kirche suspekt. Andere
       aber ließen sich durch die Neukontextualisierung begeistern.
       
       Da der Berufsstand der Prediger eine profunde rhetorische Schulung erhält,
       fällt es den Pastoren nicht schwer, zu Weintrauben oder zum
       ekstatisch-spiritualisierenden Tanz direkte Bibelbezüge zu finden. So ist
       vor vollen Gemüseregalen zu hören: „Alle können besser leben, wenn alle
       genug zu essen haben.“ Zu teuren Möbeln gibt es Gedanken darüber, dass auch
       das Schöne nicht ewig sei, welches besondere Möbel die alttestamentarische
       Bundeslade gewesen sei und wie und wo Gott wohne.
       
       Anhand von Kleidung, die eigene Tracht inbegriffen, kann über den „Äußeren
       und den inneren Schein“ nachgedacht werden und besonders einleuchtend zum
       quasireligiösen Fetisch Smartphone Martin Luther zitiert werden: „Woran du
       dein Herz hängst, das ist dein Gott.“ Es hat etwas Irritierendes, dass es
       in diesem Kunstprojekt Pastoren sind, die im „falschen“ Umfeld den realen
       Dingen ihre symbolische Bedeutungen erschließen, etwas was ansonsten eher
       eine Funktion der Künstler ist.
       
       Der zweite Teil des Projekts interveniert direkt in den religiösen und
       wirtschaftlichen Alltag: Vier Lübecker Firmen eröffnen für 14 Tage
       Verkaufsfilialen in den Kirchen. In der klassizistischen reformierten
       Kirche trifft das rituelle Abendmahl auf das faktische
       Lebensmittelsonderangebot des Genossenschaftsladens „Landwege“. Der
       quasireligiöse ökologische Glaube an regionale und biologische
       Produktionsweise und die systemtranszendierende Organisation der
       Produzenten und Verbraucher beteiligenden Gemeinschaft wird vergleichbar
       mit dem besonders ausgeprägten ökonomischen Pragmatismus der reformierten
       Glaubenslehre.
       
       Auch, dass der ansonsten stets nahezu völlig leere weiße gotische
       Hallenraum der St.-Petri-Kirche in eine Sitzlandschaft aus hellen
       skandinavischen Designermöbeln verwandelt wurde, passt ähnlich gut zum
       Selbstverständnis der gemeindelosen Universitätskirche. Deren erklärtes
       Ziel ist es, neue diskursive Arten religiöser Aktions- und
       Verbildlichungsformen zu finden.
       
       In der vom Krieg verschonten Pilger- und Seefahrerkirche St. Jacobi bietet
       die Telekommunikations- und HiFi-Branche aktuelle Varianten zur
       traditionell von Engeln geleisteten Kommunikation. Und ja: 25.000 Euro für
       ein zweifelsfrei qualitätsvolles Lautsprecherpaar haben dann auch etwas
       himmlisch Abgehobenes.
       
       Bei der Eröffnung vor dem schwarz-weißen Barockaltar und den
       mittelalterlichen Wandmalereien in der über 800 Jahre alten Kirche, nach
       A-capella-Gesang und unter dem machtvollen Klang einer der bedeutenden
       historischen Orgeln Norddeutschlands, nach Predigt und weiteren
       ritualisierten Traditionen, hieß der Pfarrer auch die Kunstaktion
       willkommen – ein leichtes Gefühl der Überlegenheit der eigenen
       künstlerischen Inszenierungen war dabei durchaus zu spüren. Doch die Pracht
       lübscher Kirchen bezahlte einst der Handel und er repräsentierte dabei
       durchaus auch sich selbst. Zwar jagte Jesus die Händler aus dem Tempel, die
       Kirche aber machte und macht immer Geschäfte, heute gibt es zwar keinen
       Ablasshandel, allerdings mindestens einen kleinen Shop – nicht nur mit
       Devotionalien.
       
       Die Metaphysik ist längst nicht mehr in den Kirchen eingesperrt und der
       Kapitalismus hat weitgehend sakrale Züge angenommen. In Jankowskis Projekt
       ist allen gemeinsam, dass sie an ihre Sache glauben und andere überzeugen
       wollen, ob als Verkäufer oder Pastorin. Das in einem Raum zusammengebrachte
       Handeln, sei es persönlicher, ökonomischer oder symbolischer Art, wird für
       die Beteiligten zur Performance. Sie alle geraten in fluktuierende
       Kontexte, sind zugleich Gemeindemitglieder, Kunden und Teil der Kunst. Auch
       die Dinge können ihre Bedeutung verändern: Wäre ein in der Kirche gekauftes
       Objekt vielleicht mehr als ein Markenfetisch, irgendwie besser, wenn schon
       keine Reliquie, möglicherweise ein nun künstlerisch geadeltes Multiple samt
       blauwolkigem Einkaufsbeutel, der „Himmlische Geschäfte“ attestiert?
       
       4 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Kuenstler-ueber-Aktionismus-in-der-Pandemie/!5725325
   DIR [2] https://www.luebeck-tourismus.de/kultur/veranstaltungen/heilige-geschaefte
   DIR [3] /Im-modernen-Gartenhaus/!5795137/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Hajo Schiff
       
       ## TAGS
       
   DIR Kirche
   DIR Religion
   DIR Wirtschaft
   DIR Kapitalismus
   DIR Tod
   DIR zeitgenössische Kunst
   DIR Kunst
   DIR Stade de France
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Ausstellung „Totentanz“ in Lübeck: Wenn der Schnitter kommt
       
       Ein Dauerbrenner, unser irdisches Ende: Eine deutsch-finnische Ausstellung
       in Lübeck zeigt Variationen zum zerstörten „Totentanz“-Bild von 1464.
       
   DIR Künstler über Aktionismus in der Pandemie: „Wir sind ja alle gestört“
       
       Künstler Christian Jankowski macht auf Menschen mit systemrelevanten
       Berufen aufmerksam. Er stiftet eine Arbeit für die Kunstlotterie der UNO.
       
   DIR Katastrophen-Kunst in Hamburg: Bilder wie Marvel-Filme
       
       Wie sich ein neues Bildthema durchsetzte: die Ausstellung „Entfesselte
       Natur. Das Bild der Katastrophe seit 1600“ in der Hamburger Kunsthalle.
       
   DIR Selbstreflexive Kunst in Stade: Sisyphos als Künstler
       
       In der aktuellen Ausstellung „Ich“ im Kunsthaus Stade überzeugen vor allem
       die filmischen „Norddeutschen Selbstbildnisse aus 100 Jahren“.