# taz.de -- Bedeutung von Marktplätzen: Orte der Begegnung
> Antikes Wissen kann in einer zerfallenden Gesellschaft nicht schaden. So
> erkundet der Ethikrat auch im Fitnessstudio aktuelle Spielarten der
> Agora.
IMG Bild: Mit Fitness auf den Marktplatz
Kürzlich war ich in einem Fitnessstudio, um herauszufinden, ob meine
sportliche Zukunft dort liegen könnte. Meine sportliche Vergangenheit liegt
beim Yoga, das ich wegen Freudlosigkeit und Erleuchtungsanteilen aufgegeben
habe. Ich habe auch Tennis und Boxen und andere Sportarten probiert, für
die ich zu wenig motorisches Talent besitze. Mir scheint, dass man sich
Sportarten auswählt wie bestimmte Hunderassen, Parcourslaufen etwa, weil
man etwas Windhundartiges gewinnen möchte, aber ich musste erkennen, dass
ich kein Windhund bin.
Ich saß in einem zellenartigen Trainingsgerät, von dem ich nicht wusste,
wie es funktionierte, als ich den Ethikrat durch die Tür kommen sah. Der
Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir
gelegentlich Hinweise in Fragen praktischer Ethik geben. Der Rat trug
Gymnastikhosen und Turnschläppchen, die seine Würde nicht beeinträchtigen
konnten.
Eines der Mitglieder, die in der Regel schweigen, trug einen Korb, in dem
eine Wasserflasche und drei Birnen lagen. „Guten Tag, Frau Gräff“, sagte
der Ratsvorsitzende und nickte mir aufmunternd zu, „erproben Sie sich am
Ellipsentrainer?“ „Nicht ausgeschlossen“, murmelte ich und zerrte
ergebnislos an einer Stange. „Und Sie?“
„Wir erkunden aktuelle Spielarten der Agora“, sagte der Ratsvorsitzende,
während die beiden Mitglieder, die in der Regel schweigen, zwei
fahrradartige Geräte bestiegen. „Agora?“, sagte ich mürrisch, denn es
genügte mir, motorisch mangelhaft zu sein. „Der antike Marktplatz“, rief
eines der Ratsmitglieder von seinem Fahrrad herüber, „der Ort, an dem sich
die Polis versammelte.“ „Das kann man schon wissen“, sagte ein bulliger
Mann, der neben uns auf einer Art Streckbank lag. Ich tat so, als hätte ich
ihn nicht gehört. „In Zeiten, in denen die Gesellschaft immer partikularer
wird, sind Orte, an denen sie sich schichtenübergreifend trifft, um so
bedeutsamer“, sagte der Vorsitzende und klopfte probeweise auf eine der
Stangen an meiner Zelle. „Vielleicht ziehen Sie einmal hier.“
## Die verlorene Agora: Karstadt und Volkshochschulen
„Ist das nicht eine der Ideen, die theoretisch hoch und praktisch klein
gehalten werden?“, sagte ich und zog aus Prinzip nicht an der Stange. „Ich
meine, statt in den Turnverein schickt die Mittelschicht ihre Kinder in die
Zirkusschule, weil es hipper und nebenbei exklusiver ist.“ Ich stoppte,
weil mir selbst das Beispiel nur mittelgut schien, aber auch, weil der
bullige Mann sich zu uns beugte. Der Ethikrat ist als ethische Anlaufstelle
in vielem zweifelhaft, dennoch will ich ihn nicht mit bulligen altklugen
Männern teilen.
„Ich sehe die Bedeutung der Agora“, flüsterte ich, „aber wo finden Sie denn
heute noch etwas Vergleichbares? Es gibt ja nicht mal mehr die Kaufhäuser.
Wenn man notwendigerweise aufeinander stößt, etwa im Bus, macht man einen
Videocall oder hört einen Podcast über die zerfallende Gesellschaft und
klinkt sich damit unansprechbar aus ins Private.“
Ich stoppte erneut. Dies war nicht der Tag besonders guter Argumente, es
sei denn, man ließe [1][Karstadt als verlorene Agora] durchgehen.
„Vielleicht noch in der Volkshochschule“, fuhr ich fort, „wo man gemeinsam
etwas lernen möchte.“
„Ich finde ja die Verbindung zu den Volksuniversitäten bemerkenswert“,
sagte der bullige Mann und legte seine Hantel beiseite, „gerade in ihrer
Betonung der plebejischen Tradition.“ „In der Tat“, sagte der
Ratsvorsitzende interessiert und setzte sich neben ihn auf die Streckbank.
Die beiden anderen Ratsmitglieder stellten den Korb mit den Birnen zu
ihnen.
Ich zog an der Stange meines Trainingsgeräts, das sich über mich stülpte
wie ein Käfig. „Ich bin gefangen“, rief ich, aber niemand hörte mir zu.
14 Sep 2023
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## AUTOREN
DIR Friederike Gräff
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