# taz.de -- Menschenrechtlerin zu Protest in Serbien: „Sie haben ihre Angst verloren“
> In Serbien halten die Proteste an. Präsident Vučić ist dagegen machtlos.
> Aber er bekommt überraschende Unterstützung, erklärt Sonja Biserko.
IMG Bild: Proteste in Belgrad gegen die Regierung am Freitag
taz: Sonja Biserko, in Serbien gibt es wieder Massendemonstrationen.
Erwacht die serbische Opposition wieder?
Sonja Biserko: Ein Teil der Gesellschaft ist erschrocken über die
schrecklichen Verbrechen unter Kindern und Jugendlichen und die
Verantwortung der Medien und der Gesellschaft dafür. Die Demonstrationen
waren sehr friedlich, eine neue Generation ist da aufgetreten. Man
versuchte sie zwar zu marginalisieren und unter Druck zu setzen, aber die
Demonstrationen werden weitergehen. Die wichtigste Botschaft dieser
Bewegung lautet dabei: Die Leute haben ihre Angst verloren. [1][Präsident
Aleksandar Vučić ist nicht in der Lage, sie zu kontrollieren]. Trotz der
Beschimpfungen, sie seien Kriminelle und Hooligans. Den Menschen ist
bewusst, wie tief die Krise in der Gesellschaft verankert ist. Dabei hat
die Bewegung vermieden, Probleme wie den Krieg in der Ukraine oder im
Kosovo aufzugreifen.
Die Vermutung, Vučić wolle mit den Unruhen im Kosovo die Demonstrationen in
Belgrad stoppen, trifft also nicht so ganz den Kern?
Die [2][Armee an der Grenze zum Kosovo aufmarschieren zu lassen, wurde ja
seit Jahren] immer wieder gemacht. Das ist nichts Neues. Für alle
Beobachter ist aber klar, dass Vučić jetzt wieder versucht hat, den
Konflikt im Kosovo anzuheizen.
Der Westen, allen voran die USA, waren bisher der wichtigste Verbündete des
Kosovo. Warum zeigen jetzt vor allem die USA Sympathien für Vučić?
Es geht jetzt offenbar darum, den russischen Einfluss in der Region
zurückzudrängen. Das hat Priorität. Die amerikanischen Botschafter aus der
Region haben sich kürzlich in Tirana getroffen und haben das besprochen.
Die Logik hinter dieser Politik basiert darauf, dass man glaubt, nicht mehr
viel Zeit zu haben. Bis Ende des Jahres sollen die Konflikte in Europa und
vor allem auf dem Balkan gelöst werden, denn die Konflikte anderswo werden
mehr und mehr überdimensional. Es gibt ja weltweit große Herausforderungen.
Heißt: Serbien und Präsident Vučić sollen für den Westen gewonnen werden.
Was bleibt dann von der bisher propagierten Politik übrig, Menschenrechte
und Demokratie zu stärken?
Es gibt keine politischen Garantien für Menschenrechte mehr. Das heißt, der
Druck auf das Kosovo und auf Ministerpräsident Albin Kurti wird steigen. In
der serbischen Akademie der Wissenschaften wurde kürzlich die These
vertreten, man müsse eine serbische Entität im Kosovo kreieren. Nur so
ließen sich die Brüsseler Forderung für die Integration in die EU erfüllen.
Für Vučič bedeutet das, den Verbund serbischer Gemeinden mit aller Macht
durchzusetzen. Kurti will das nicht, er hält an dem ursprünglichen
europäischen Weg fest. Die serbischen Gemeinden haben weitgehende
Selbstverwaltungsrechte im bestehenden Staat und zusätzlich zu den Sitzen
der gewählten Vertreter 10 Sitze im Parlament des Landes (mit insgesamt 120
Sitzen; Anmerk. d. Red.).
Vučić versucht, die [3][Serben des Kosovo an der Integration zu hindern.]
Die Serben sollten die staatlichen Institutionen verlassen und Wahlen
boykottieren. Diese Politik war früher verpönt, aber jetzt erlauben die USA
das.
Glauben die USA, Vučić wechselt wegen dieser Politik das Lager?
Ja, die Vereinigten Staaten und Deutschland wollen diese Politik
durchsetzen, obwohl [4][Aleksandar Vučić politisch und finanziell bankrott
ist]. Serbien steht beim Wirtschaftswachstum in der Region an letzter
Stelle, trotz der billigen Energie aus Russland.
Aber die russische Seite ist auch aktiv, hat im Militär und den
Geheimdiensten neben Serbien auch in Montenegro, Makedonien und Bosnien und
Herzegowina Einfluss.
Die Russen können hier keinen Krieg entfachen. Sie können aber die Prozesse
der Normalisierung und der Integration in die EU behindern. Die USA sind
jetzt der wichtigste Player in Serbien. Sie wissen alles über die Politik
des Landes. Aber sie ignorieren die zivilen Kräfte, obwohl sie wissen
müssten, wie tief die Institutionen des Staates im Schmutz stecken.
Gibt der Westen gerade seine Werte auf?
Menschenrechte und demokratische Rechte spielen heute keine Rolle mehr, das
hat keine Priorität, wichtig ist jetzt die Sicherheitspolitik, das
strategische Interesse geht vor, die demokratischen Werte sind nicht mehr
wichtig.
14 Jun 2023
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## AUTOREN
DIR Erich Rathfelder
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