# taz.de -- Naturerleben jenseits der Erwerbslogik: Flamingos mit neuen Augen sehen
> Tierspotting verlangt Leistung und macht die Natur zum Objekt.
> Schmetterlinge oder Vögel lassen die Reisende aber auch spontanes Glück
> erfahren.
IMG Bild: Rosaflamingos in Italien
Die Flamingos sind nur mit dem Fernglas richtig zu erkennen. Sie stehen am
hinteren Ende der Lagune und gehen ihrer Morgenroutine nach, die, so weit
ich es beurteilen kann, im Wesentlichen aus Fressen besteht. Mit inniger
Freude sehe ich ihnen an diesem warmen Morgen zu. Ich feiere es, wenn einer
mit den Flügeln schlägt, oder dass da ein Junges ist, oder dass diese Tiere
wirklich rosa sind. Dass es sie überhaupt gibt in Europa.
Die Gegenwart hat dafür gesorgt, dass wir beim Reisen kaum ein Tier je zum
ersten Mal sehen. Seit der Kindheit gehen wir in Zoos, sehen Tiere auf ein
paar Quadratmeter gepfercht als Unterhaltungsgut, wenden uns nach zwei
Sekunden ab. Und doch gibt es einen zweiten Moment, ein Tier erstmals zu
sehen: diesen.
Es ist Spätfrühling in Süditalien, und es heißt hier, das sei die schönste
Zeit. Warm, aber noch nicht heiß, mit berauschenden Wiesen voller
Wildblumen in allen Farben. In den Städten sind alle aufgebrezelt zum
abendlichen Spaziergang oder Ausgehen, Straßenmusiker spielen, irgendwer
tanzt spontan dazu.
Wer kann den beginnenden Sommer so zelebrieren wie Italien? In der lokal
ein bisschen berühmten Salina dei Monaci, wo die Flamingos leben, sagen
sie, jetzt sei es schwer, die Vögel zu sehen. Sie flüchteten vor den
Menschenmassen. Also pirschen wir noch mal zwischen Salzgräsern und Strand,
kurz nach Sonnenaufgang.
## Eine Erinnerung an das, was wir verloren haben
Und da stehen sie wirklich, glorreich und rosa. Was macht das Bekannte
jetzt zu etwas Besonderem? Vielleicht, dass es ein Moment ist, für den man
sich anstrengen musste. Er lässt sich nicht zuverlässig erwerben, ein
freies Lebewesen entzieht sich als eine der wenigen Sachen auf dieser Welt
der Erwerbslogik.
Es ist das Prinzip Mount Everest, da [1][steigt man ja auch nicht für den
Schnee rauf]. Tierspotting macht Natur erneut zur Trophäe, zum Objekt, zur
Leistung. Aber auch zu spontanem Glück – eine Erinnerung an das, was wir
verloren haben.
Beim Wandern durch Süditalien begegnet uns eine umwerfende
[2][Biodiversität]: Auf den Wildblumenwiesen flattern Schmetterlinge aller
Größen und Farben, dazwischen schwirren winzige Vögel. Es sind Dinge, von
denen ich als Kind nie geglaubt hätte, dass ich darüber mal staunen würde.
Schmetterlinge oder Singvögel.
Wie radikal viele in Deutschland verschwunden sind, bemerkt man im Alltag
kaum. Man merkt es erst auf Reisen. [3][Über Apulien] heißt es, es sei eine
wirtschaftsschwache Region. Man sagt das mit Bedauern, wie etwas, was es zu
ändern gelte. Dabei sind die wilden Naturräume genau diesem Umstand zu
verdanken: weil die Grundstücke verlassen sind. Oder noch gar nicht
verkauft. Ist es zu glauben, dass sie kaum etwas kosten?
11 Jun 2023
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## AUTOREN
DIR Alina Schwermer
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