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       # taz.de -- Sozial- und Bildungsberufe: Ein fatale Optik
       
       > Bildung und Pflege sind wirtschaftlich gesehen nicht produktiv, deshalb
       > gelten sie als teuer. Aber auch diese Bereiche profitieren vom Wachstum.
       
   IMG Bild: Kann schlecht von Robotern übernommen werden: Kinderbetreuung in einer Kita in München
       
       Was ist eigentlich ökonomisches Wachstum? Diese Frage wirkt banal, hat aber
       immense Auswirkungen. Selbst scheinbar ferne Bereiche wie Kinderkrippen,
       Schulen, Krankenhäuser oder Pflegeheime sind davon elementar betroffen.
       Wenn etwa Pflegekräfte streiken, dann ist die eigentliche Frage, wer vom
       Wachstum profitieren soll.
       
       [1][Ökonomisches Wachstum] ist zunächst einmal ganz simpel: Es existiert
       immer dann, wenn mehr Waren und Dienstleistungen entstehen als zuvor. Zwar
       ist dieses „Mehr“ nicht leicht zu messen, aber diese Ungenauigkeiten sollen
       hier keine Rolle spielen. Es reicht zu wissen, dass es ein „Mehr“ gibt.
       Diese Güter entstehen durch Arbeit, und trotzdem sind es nicht die
       Beschäftigten, die das Wachstum erzeugen. Denn die Menschen ändern sich ja
       nicht wirklich. Sie haben zwei Arme und zwei Beine, und deutlich
       intelligenter werden sie auch nicht. Wenn es also zu Wachstum kommt, kann
       es nicht an der Arbeit der Einzelnen liegen. Der Treiber ist die Technik,
       die ständig besser und effizienter wird. Die Maschinen machen uns reich.
       Die Ökonomen nennen das auch „Zuwachs an Produktivität“.
       
       Allerdings ist nicht jede Branche gleich geeignet, um Technik einzusetzen.
       In der Fertigung von Industriegütern arbeiten kaum noch Menschen. So wird
       in der Automobilbranche fast alles von Robotern geschweißt, und in den
       riesigen Hallen stehen nur noch einige Beschäftigte, um an Computern die
       Arbeit der maschinellen Kollegen zu überwachen. Dafür lassen sich andere
       Bereiche fast gar nicht technisieren: Dazu gehört etwa das Betreuen von
       Kleinkindern in Krippen.
       
       Kinderbetreuung ist eine Dienstleistung, was häufig zu dem Missverständnis
       führt, dass sich Dienstleistungen ganz generell nicht technisieren ließen.
       Doch das Gegenteil ist wahr. Gerade für die Dienstleistungen werden oft
       sehr viele Maschinen eingesetzt. „Dienstleistungen“ sind für die Ökonomen
       alle Güter, die man nicht lagern kann, weil Erstellung und Verbrauch
       zusammenfallen. Typische Beispiele sind ein Flug nach Mallorca oder eine
       Zugfahrt nach München. Die Bahn produziert keine Reisen auf Vorrat, anders
       als Audi, wo die Autos zum Teil auf Halde stehen, bevor sie verkauft
       werden. Trotzdem sind Bahnfahrten oder Flugreisen fast reine Technik, die
       nur relativ wenig Personal benötigen.
       
       Ein anderes Beispiel sind die Banken, die ebenfalls zu den Dienstleistern
       zählen und inzwischen fast komplett mechanisiert sind. Kassierer wurden
       durch Geldautomaten ersetzt, und auch ansonsten wurde sehr viel Personal
       eingespart, weil die Kunden ihr Banking jetzt online erledigen. Auch das
       Investmentgeschäft ist weitgehend automatisiert, indem die Computer
       berechnen, wann welches Derivat gekauft oder verkauft werden sollte.
       
       Betreuung, Pflege und Bildung sind also rare Ausnahmen, weil sie sich nicht
       technisieren lassen. Aber ausgerechnet diese Branchen sind elementar und
       nicht ersetzbar. Es wäre falsch, Kinder nicht zur Schule zu schicken. Zwar
       gibt es Bildungsprogramme, die sich auf dem Laptop ansehen lassen, aber
       spätestens die Corona-Lockdowns haben zweifelsfrei bewiesen, dass die
       meisten Kinder schwer leiden und nur geringe Fortschritte machen, wenn sie
       nicht mit ihren Klassenkameraden und Lehrern zusammen sein können.
       
       Lehrer müssen also sein. Das ist keine gute Nachricht, wenn man nur das
       Wachstum erhöhen will – denn in der Bildung gibt es keine Zunahme an
       Produktivität. Um jedes Missverständnis zu vermeiden: Das ist keine Kritik
       an den Lehrern, sondern eine reine Beschreibung der Realität. Im 19.
       Jahrhundert saßen in den Volksschulen zum Teil 50 Kinder in einer Klasse,
       heute unterrichtet ein Lehrer nur noch ungefähr 25 Schüler. Wenn man so
       will, ist die Produktivität der Lehrer sogar noch gesunken. Wo früher einer
       reichte, werden jetzt zwei gebraucht.
       
       ## Höhere Löhne durch mehr Produktivität
       
       In der Pflege ist es ähnlich: Das Krankenhauspersonal kann nicht ständig
       noch mehr Patienten betreuen, wenn es allen gut gehen soll. Rund ums
       Klinikbett steigt die Produktivität also ebenfalls nicht. Das hat enorme
       Konsequenzen, denn sofort stellen sich gravierende Verteilungsfragen, die
       die gesamte Gesellschaft betreffen. Um dieses Verteilungsproblem zu
       verstehen, hilft es, sich zunächst den – leicht idealisierten – Normalfall
       in einer Industriegesellschaft anzusehen: Durch den technischen Fortschritt
       werden ständig mehr Waren und Dienstleistungen hergestellt, sodass auch die
       Löhne steigen können, weil es ja mehr zu kaufen gibt.
       
       Dieser Gleichklang [2][von steigender Produktivität und steigenden Löhnen]
       gilt jedoch nicht automatisch für Bildung und Pflege, denn dort gibt es
       kaum Technik. Gleichzeitig wäre es aber unmöglich, Lehrern oder Pflegern
       nur so viel zu zahlen wie im 19. Jahrhundert, weil dann niemand mehr diese
       Berufe ausüben würde. Bleibt also nur, dass Lehrer und Pfleger genauso gut
       bezahlt werden wie der Rest der Gesellschaft – indem alle anderen
       Beschäftigten und Steuerzahler einen Teil ihrer steigenden Einkommen
       abgeben, um die fehlende Produktivität in diesen Sektoren auszugleichen.
       
       Eigentlich ist diese Umverteilung kein Problem, aber es kommt zu einer
       fatalen Optik: Es wirkt, als würden Pflege und Bildung immer „teurer“. Die
       gesellschaftliche Reaktion ist entsprechend abstrus: Wenn etwas „teuer“
       ist, dann muss man dort „sparen“. Die Löhne der Pfleger lassen sich jedoch
       nur bedingt drücken, weil sich sonst keine Pfleger mehr finden würden. Also
       bleibt als „Ausweg“ nur, möglichst wenig Pfleger einzustellen. [3][Die
       Konsequenzen lassen sich in jedem Krankenhaus und Altersheim besichtigen].
       
       An diesen desaströsen Zuständen wird sich erst etwas ändern, wenn die
       Gesellschaft versteht, dass es kein Problem ist, wenn die Pflege „teuer“
       wird, weil sie sich eigentlich aus dem Wachstum finanziert.
       
       14 Apr 2023
       
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