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       # taz.de -- Ausstellung in Osnabrück: Besser vorsichtig bewegen
       
       > Mit der Installation „Inmitten imperialer Gitter“ hält der israelische
       > Künstler Dor Guez im Felix-Nussbaum-Haus ein tolles Plädoyer für die
       > Offenheit.
       
   IMG Bild: Auf dem Boden gleißen kupfergoldene Verfremdungen topografischer Karten
       
       Osnabrück taz | Es gibt Räume, die verursachen Schmerzen. Der [1][„Raum der
       Gegenwart“ des Museumsquartiers Osnabrück] (MQ4) ist einer dieser Räume.
       Wer ihn betritt, fühlt sich gefangen, orientierungslos, beklommen. Ein
       gewaltiger Wandkeil bohrt sich in ihn hinein. Ein schlitzhaft enges
       Fensterband wehrt das Licht ab. Der Fußboden scheint zu kippen. Düsternis
       herrscht, der Beton atmet Kälte.
       
       Der „Raum der Gegenwart“ ist Teil des Felix-Nussbaum-Hauses des MQ4, eines
       gedenkstättenhaften Skulpturalbaus, geschaffen Ende der 1990er vom damals
       noch weitgehend unbekannten Architekten Daniel Libeskind. Das Museum
       erinnert an seinen Namensgeber, einen jüdischen Maler der Neuen
       Sachlichkeit, 1944 im KZ Auschwitz ermordet.
       
       Wie zerfetzt wirkt der Raum, wie zerquetscht. Ihn künstlerisch zu füllen,
       auf ihn zu reagieren, bedarf außergewöhnlicher konzeptioneller Kraft. Das
       macht die Ausstellungsreihe „Gegenwärtig – Zeitgenössische
       Künstler:innen begegnen Felix Nussbaum“, deren Schauplatz er ist, zu
       einer Herausforderung.
       
       [2][Dor Guez] hat sich dieser Herausforderung gestellt. Mit seiner
       begehbaren Installation „Inmitten imperialer Gitter“, eigens entworfen für
       diesen Raum des Besonderen, bestreitet der israelische Künstler die fünfte
       Ausgabe von „Gegenwärtig“. Es war, betont Museumsdirektor Nils Arne
       Kässens, eine „Carte blanche“.
       
       Diese Handlungsfreiheit nutzt Guez für ein symbolhaftes Ensemble, das,
       einer Versuchsanordnung gleich, Grenzziehungen hinterfragt,
       Grenzüberschreitungen fordert. Seine Formensprache und Werkstoffwahl wirkt
       sehr abstrakt, sehr kodiert, sehr distanziert. Aber das Enträtseln reizt,
       gelingt, lohnt und offenbart große Lebensnähe.
       
       Guez geht ein immenses Wagnis ein, denn nicht nur der erste Blick
       suggeriert: Hier werden physische Räume verhandelt. Senklote, klassische
       Messinstrumente, hängen an hauchdünnen Schnüren von der Decke. In schwarzen
       Vinylstreifen zieht sich der Grundriss eines Gebäudes über Boden, Wände und
       Fenster, das Kirche und zugleich Moschee ist – es steht in Lod, südöstlich
       von Tel Aviv.
       
       Auf dem Boden, rund wie Weltkugeln, gleißen kupfergoldene Verfremdungen
       topografischer Karten. Sie spiegeln Nussbaums Flucht- und Exilgeschichte.
       Jede menschliche Spur aber ist aus ihnen getilgt, Namen, Städte und
       Grenzen. Dazu, gleich am Eingang, Nussbaums Gemälde „Der Flüchtling“ von
       1939:Es zeigt, auf einem Globus, Europa, und dazu einen Hoffnungslosen,
       einen ausweglos Vertriebenen, dem jede Freiheit verwehrt ist.
       
       Aber wer tiefer gräbt, spürt schnell: Es geht Guez nicht allein um
       Territoriales, um Geografisches und Geometrisches, um die Willkür
       staatlicher Grenzen, militärisch gezogen, ideologisch. Guez geht es
       zugleich um seelische Grenzen, ethische. Es geht ihm um soziale, um
       kulturelle Pluralität, die sich nicht einengen lässt. Es geht ihm um die
       Identität des Einzelmenschen wie der Weltgemeinschaft. Sensibel verwebt er
       dabei die Biografie Nussbaums mit seiner eigenen: Vorfahren von ihm haben
       das multireligiöse Gebäude in Lod mit erbaut.
       
       Wer sich der [3][Ausstellungs-Installation „Inmitten imperialer Gitter“]
       aussetzt, kann, sehr konkret, selbst Grenzen durchbrechen – ein Schritt
       übers schwarze Vinyl hinüber, oder mitten auf es, und die Freiheit beginnt.
       Guez, der einer multinationalen Familie entstammt, mit
       tunesisch-palästinensischen und jüdisch-christlichen Wurzeln, zeigt
       dadurch: Das Wichtigste ist Offenheit. Ein sehr philosophischer Blick.
       
       Guez hätte politische Statements setzen können. Gegen die
       Grenzverschiebungen, die Russland derzeit in der Ukraine versucht. Gegen
       die Grenzsperren der spanischen Exklaven an der Küste Nordafrikas, zwischen
       Mexiko und den USA, zwischen Israel und dem Westjordanland. Gegen die
       Abschottung Europas gegen die Flüchtlinge auf der Balkanroute, im
       Mittelmeer. Das hätte nahe gelegen. Aber Guez zielt nicht auf Plakativität.
       
       Was seine schwarzen Vinylstreifen genau umreißen, bleibt ungewiss. Sind es
       Säulen, Tore, Zwischenwände? Wir wissen auch nicht, warum seine Lote so im
       Raum verteilt sind, mitten im Weg, dass wir uns im „Raum der Gegenwart“
       besser mit großer Vorsicht bewegen. Wir wissen nicht, warum die
       topografischen Verfremdungen Landschaften zeigen, die, wären sie real, jede
       Durchquerung zur Qual machen würden. Aber indem wir uns das fragen, wird
       die Verrätselung produktiv.
       
       „Inmitten imperialer Gitter“ wirkt wie ein Sakralraum. Diese Wirkung
       verstärkt sich, wenn es draußen dunkel ist. Dann intensiviert sich das
       Schattenspiel der Lote. Dann schimmert das Kupfergold der schwer
       zugänglichen, von uns Menschen befreiten Landschaften umso magischer.
       
       Eine Schau, wie sie passgenauer, notwendiger kaum sein könnte in unseren
       Tagen gegenseitigen Argwohns, allseitiger Abschottung. Aber Vorsicht: Der
       Text des Begleit-Flyers ist harte Kost. Da erfahren wir, dass die
       Vinylstreifen eine „komplexe semiotische Situation“ erzeugen. Zur NS-Zeit
       sei Europa, lesen wir, „zur singulären Negation des universalistischen
       Zivilisationsgedankens“ geworden, „den seine Kultur einst propagierte“. Und
       die Lote sagen uns angeblich was über das Gesetz der Schwerkraft, das „jede
       historische, kulturelle und geopolitische Determinierung transzendiert“.
       Aha. Dass Guez in seiner Kunst einen „forschenden Ansatz“ verfolgt, lesen
       wir da auch, was immer das heißt.
       
       Und dann folgen seine Ausstellungen, von Bogota bis Prag, von Dublin bis
       Paris, von Buenos Aires bis Mailand. Merken wir uns einfach: Osnabrück ist
       jetzt auch dabei.
       
       19 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.museumsquartier-osnabrueck.de/
   DIR [2] https://www.dorguez.com/
   DIR [3] https://www.ndr.de/kultur/kunst/niedersachsen/Ausstellung-von-Dor-Guez-im-Nussbaum-Haus-in-Osnabrueck-,dorguez100.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Harff-Peter Schönherr
       
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