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       # taz.de -- Protest und die Linke: Kritik in der Krise
       
       > Werden die Rechten radikal, werden die Linken automatisch gemäßigt. Das
       > ist ein Problem für Demokratien, die nur noch von Rechts getrieben
       > werden.
       
   IMG Bild: Um gegen die Regierung und ihre Corona-Maßnahmen zu protestieren, wird der Slogan von Black Lives Matter gekapert
       
       Der Systemkritiker hat die Eliten und ihre Herrscher-Netzwerke unter
       Generalverdacht, und er macht sich, von diesem Verdacht ausgehend, auf
       Entdeckungstour. Er recherchiert, stöbert in den unterdrückten Nachrichten,
       [1][kommt unbekannten Verbindungen auf die Spur, verdeckten Geheimnissen],
       über die man in den Konzernmedien der herrschenden Mächte niemals lesen
       würde. Er sieht, wie das alles zusammenhängt, wie die Etablierten ihre
       Macht absichern, die normalen Menschen ausbeuten, er entschließt sich, ihre
       Machenschaften aufzudecken.
       
       Der Systemkritiker ist erregt ob seiner Entdeckungen, [2][fühlt sich aber
       auch erhaben, weil er ein Wissen hat, das die anderen nicht haben]. Die
       Angepassten, die von der Macht gegängelt sind, die in einem raffinierten
       Kokon von Komplizenschaft gefangen sind, der die Unterdrückten noch zu
       Kumpanen ihrer eigenen Unterdrückung macht. Ein bisschen ist der
       Systemkritiker wie ein Detektiv, der Puzzlesteine zusammenfügt, eine Art
       Hercule Poirot, insofern ist das Systemkritisieren auch eine äußerst
       lustvolle Tätigkeit.
       
       Dass die Täter unentdeckt bleiben, ist übrigens gänzlich ausgeschlossen,
       was ein glückliches Ende der Unternehmung von vorneherein garantiert. Die
       Täter werden immer entlarvt, und es sind nicht zu wenige, mal heißen sie
       Merkel, mal Scholz, mal Gates und immer Soros. Die aktiveren Gesellen unter
       den Systemkritikern gründen Anti-Mainstream-Medien, in denen all die
       Stimmen und Fakten ausgebreitet werden.
       
       Krise und Kritik sind eng miteinander verbunden, das wissen schon die
       Etymologen, die gerne auf den gemeinsamen Wortstamm der beiden Begriffe
       hinweisen, auf das griechische Krisis, was so viel wie „unterscheiden“,
       „trennen“ aber auch „zuspitzen“ heißen kann. Erstens, Kritik ist sowieso
       immer gut und wichtig. Zweitens: In der Krise ist die Kritik besonders
       notwendig. Denn drittens: Eine Krise wird nur überwunden werden, wenn
       kritikwürdige Umstände dem Säurebad der Subversion ausgesetzt werden.
       Kritik ist aber nicht nur die Antwort auf die Krise, sondern kann selbst in
       die Krise geraten: Die Krise der Kritik.
       
       ## Kritik der Vernunft und fanatische Verbohrtheit
       
       Die oben hingepinselten Strukturen der Verschwörungserzählung haben einige
       Elemente des kritischen Denkens gekapert: das Hinterfragen des
       Hergebrachten, des scheinbar Evidenten. Den aufklärerischen Gestus des
       detektivischen Enthüllens. Den gesunden Verdacht gegenüber der Macht.
       Distanziert betrachtet ist es erstaunlich, wie gut es gelingt, Motive des
       Aufklärerischen, des Emanzipatorischen in den Dienst der Verblendung, der
       Erzählung von Lügengeschichten und Propagandamärchen, ja, einfach in den
       Dienst des Fanatismus zu stellen.
       
       Die nagende Kritik der Vernunft und fanatische Verbohrtheit und
       Glaubenseifer sind gar nicht immer leicht zu unterscheiden. Nun kann man es
       wie jener frühere US-Höchstrichter halten, der über Pornos den legendären
       Satz sagte, was ein Porno sei, sei schwer zu definieren, aber wenn er einen
       sehe, dann erkenne er ihn. Was den Unterschied zwischen aufklärerischer
       Kritik und verschwörungstheoretischem Dauerressentiment anlangt, wird der
       Unterschied ähnlich leicht erkennbar sein wie der zwischen einem
       Arthouse-Film mit Sexeinsprengsel und Hardcore-Pornografie.
       
       ## Systemkritik ist nach Rechtsaußen gewandert
       
       Aber: Radikale Systemkritik ist nach Rechtsaußen gewandert, sie bedient
       sich dabei auch Rhetoriken, die früher ausschließlich von der radikalen
       Linken benützt wurden (wenngleich auch meist der blödesten Rhetoriken der
       radikalen Linken). Zugleich ist nicht ganz klar, [3][wo berechtigte, aber
       schwerst versimpelte Kritik aufhört und die Verschwörungstheorie und das
       Lügenmärchen schon anfängt]. Ist die linke Kritik am „Neoliberalismus“ und
       den „Masters of the Universe“, die sich allen Reichtum krallen und bei
       Treffen sinistrer Figuren in Mont Pèlerin verschworen haben, eine etwas
       unterschlaue Kritik realer Vorgänge – oder schon eher eine Conspiracy
       Theory?
       
       Nun würde dumme rechtsradikale Anti-System-Kritik nicht notwendigerweise
       ein Problem darstellen, wenn die Linke einfach die schlauere Kritik hätte,
       die die herrschenden Verhältnisse unterminiert oder sukzessive zum Besseren
       verändert, oder [4][einfach eine breite, intelligente Protestbewegung
       triggert]. Irgend so etwas halt. Das Problem ist die Neigung zur
       relationalen Ordnung im politischen Diskursfeld. Klingt jetzt etwas deppert
       akademisch. Wie könnte man das einfacher beschreiben? Dass man die eigenen
       Positionen nicht immer nur quasi aus sich heraus entwickelt, sondern in
       Abgrenzung und im Konflikt zu Positionen, die andere haben. Was dann auch
       heißt: Wird der breite Strom der Rechten blöde und radikal, dann werden die
       Linken automatisch gemäßigt, halten die Vernünftigkeit hoch, bestehen
       darauf, dass einfache Wahrheiten meist einfache Dummheiten sind, dass man
       jedes Argument zehnmal durchdenken und alle Ambiguitäten beachten solle.
       
       ## Rechte haben schon „Wutherbst“ organisiert
       
       Dass die Welt komplex sei, man nicht einfach gegen „die Teuerung“
       demonstrieren könne, denn wer wäre denn der Adressat des Protestes? Putin,
       den das nicht scheren würde, die Bundesregierung, die dies und jenes tut,
       von dem manches klüger, manches schlechter sei …? Während man also über
       alle Kompliziertheiten von Krise, Kritik, von Systemveränderung,
       Transformation, Revolution und Reform räsoniert, haben die Rechtsradikalen
       [5][dann schon einen „Wutherbst“ organisiert].
       
       Ich hab da jetzt auch nicht sofort die super Lösung für dieses Problem,
       aber man soll auch nicht so tun, als wäre es nicht vorhanden. Im Gegenteil:
       Das ist ein ziemlich großes Problem, nicht nur für die Linke, sondern für
       die pluralistischen Demokratien als solche. Die nurmehr von Rechts vor sich
       her getrieben werden, während [6][Linke daran scheitern, eine akzentuierte
       Alternative zu präsentieren], oder, wenn sie radikal sind, sich
       untereinander in die Haare kriegen, [7][welche Frisuren man tragen darf]
       oder ähnlichen Unsinn.
       
       27 Aug 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Verschwoerungsmythen-und-Corona/!t5015225
   DIR [2] /Berater-ueber-Verschwoerungsglaube/!5809445
   DIR [3] /Verschwoerungserzaehlungen-in-der-taz/!5685692
   DIR [4] /Sozialproteste-und-Russlandpolitik/!5873031
   DIR [5] /Protestaufruf-der-Linkspartei/!5871907
   DIR [6] /Linkspartei-in-der-Krise/!5846787
   DIR [7] /Ausladung-wegen-Dreadlocks/!5841132
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Robert Misik
       
       ## TAGS
       
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       Antworten.