URI:
       # taz.de -- Atomkraft-Ausstieg 2022: Grüne in der Atomkraft-Krise
       
       > Jahrzehnte haben die Grünen für ein Ende der Atomkraft gekämpft. Nun
       > stecken sie zwischen Kurzzeitverlängerung und dem Ausstieg vom Ausstieg
       > fest.
       
   IMG Bild: Die Idylle täuscht: Das AKW Isar 2 könnte trotz des Widerstands bei den Grünen noch länger laufen
       
       Die Stimmung bei den Münchner Grünen ist am Dienstagabend angespannt. Es
       ist eine Woche her, dass sich die Spitze des Stadtverbands auch öffentlich
       dafür ausgesprochen hat, den Weiterbetrieb des Atomkraftwerks Isar II zu
       prüfen. An der Grünen-Basis ist der Aufruhr seitdem groß – jetzt soll eine
       Krisensitzung per Zoom helfen, die Mitglieder wieder einzusammeln.
       
       Gar nicht so einfach. Der Chat in der Videokonferenz füllt sich schon, als
       der Fraktionsvorsitzende aus dem Rathaus noch sein Eingangsstatement hält.
       Es hätten sich nun mal neue Informationen zur Versorgungslage ergeben, sagt
       Dominik Krause. Im Rathaus hätten die anderen Fraktionen Druck gemacht. Und
       anders als die SPD, mit der man in der Stadt regiert, hätten sich die
       Grünen zumindest noch nicht auf eine Laufzeitverlängerung festgelegt,
       sondern eben erst mal auf die Prüfung.
       
       „Ich sehe unsere Partei auch schon mitmachen“, schreibt ein User, den das
       nicht überzeugt. „Ich habe kein Verständnis für das Vorgehen“, meint der
       nächste. „Jetzt sind die Grünen umgekippt. Ich bin zutiefst enttäuscht“,
       tippt ein dritter.
       
       ## Grüne rote Linie
       
       Ein Vorgeschmack auf das, was die Partei in den nächsten Wochen im ganzen
       Land erwartet? Jahrzehntelang haben die Grünen für das Ende der Atomkraft
       in Deutschland gekämpft. Sehnlichst haben sie auf das Aus der letzten drei
       noch am Netz befindlichen AKW gewartet. Auf dem Parteitag versprach der
       hessische Bundesvorsitzende Omid Nouripour noch vor einem halben Jahr
       „Äppelwoi“ (zu Deutsch: Apfelwein) für alle, wenn es zum Jahresende endlich
       so weit ist. Selbst als die russische Invasion in die Ukraine schon seit
       Monaten lief und sich ein Gasmangel lange abzeichnete, wiesen die Grünen
       noch alle Forderungen nach mehr Atomkraft zurück: Scheindebatte, bringt
       doch nichts. Bei allen schmerzlichen Entscheidungen, die die Partei in den
       vergangenen Monaten mitgetragen hat, schien es hier noch eine rote Linie zu
       geben.
       
       Seit zehn Tagen ist die Türe jetzt einen Spalt weit geöffnet. Seitdem lässt
       das Wirtschaftsministerium von Vizekanzler Robert Habeck nämlich erneut
       prüfen, ob die Stromversorgung im Winter wirklich gewährleistet ist. Im
       Vergleich zu einem ersten Stresstest im Frühjahr sind die Szenarien für die
       Berechnungen diesmal noch düsterer: noch größerer Gasmangel, noch höhere
       Preise, noch mehr Ausfälle französischer Atomkraftwerke.
       
       Kurz vor der Entscheidung zum neuen Test hatten sich die Münchner Grünen an
       die Bundesspitze gewandt, zu dem Zeitpunkt noch ohne öffentliche
       Statements. Sie hatten gerade von den Münchner Stadtwerken,
       [1][Miteigentümerin von Isar II], eine neue Lageeinschätzung erhalten. Die
       Fachleute dort hatten ihre vorherige Prognose, dass ein längerer Betrieb in
       der aktuellen Situation auf keinen Fall helfe, revidiert; auch sie
       verwiesen unter anderem auf die vielen AKW-Ausfälle in Frankreich, die sich
       auch auf die Stromnetze in Deutschland auswirkten.
       
       ## Bundestag muss AKW-Ausstieg zustimmen
       
       Die neuen Informationen aus Bayern trafen in Berlin auf eine öffentliche
       Debatte, die sich rasch zuspitzte. Union und FDP forderten immer
       vernehmbarer längere Laufzeiten. Widerspruch labelten sie als „ideologische
       Verbohrtheit“. Das SPD-geführte Kanzleramt sprang den Grünen nicht zur
       Seite. Und so stieg bei ihnen die Sorge, als Schuldige hingestellt zu
       werden, falls im Herbst die Energie tatsächlich nicht ausreicht.
       
       Begleitend zum Stresstest versucht die Partei jetzt, im Blame Game wieder
       in die Offensive zu kommen. Kaum ein Gespräch mit den verantwortlichen
       Grünen vergeht ohne den Hinweis, dass nur die besonders prekäre Lage in
       Bayern, wo die CSU den Ausbau von Erneuerbaren und Stromnetzen verschleppt
       habe, die neue Prüfung nötig gemacht habe. Außerdem sei der Test natürlich
       ergebnisoffen und wenn überhaupt, gehe es am Ende höchstens um einen
       Streckbetrieb.
       
       Soll heißen: Die AKW-Laufzeiten würden nur um wenige Monate unter Nutzung
       vorhandener Brennstäbe verlängert. Neuer Atommüll würde dabei nicht
       entstehen. Diesem Szenario stehen Forderungen aus Union und FDP entgegen,
       auch neue Brennstäbe zu beschaffen und die Kraftwerke insgesamt noch länger
       zu betreiben.
       
       Doch die Kurzzeitverlängerung wäre kein Kinderspiel. Es müsste geklärt
       werden, ob Sicherheitsstandards herabgesetzt werden und ob der Staat die
       Haftung für den Fall eines Atomunfalls übernimmt. Das gesetzlich
       festgeschriebene Datum zum Atomausstieg – der 31. Dezember 2022 – müsste
       verschoben werden. Der Bundestag müsste zustimmen und damit auch die
       Grünen-Fraktion.
       
       ## Einstieg, Ausstieg
       
       Die hat in den letzten Monaten zwar so einiges mitgemacht. Diesmal deuten
       sich aber noch mal größere Bauchschmerzen an: Weil das Thema für die Grünen
       so identitätsstiftend ist. Weil die Sorge kursiert, dass eine
       Kurzzeitverlängerung der Einstieg in einen erneuten Ausstieg aus dem
       Ausstieg sein könnte. Und weil Zweifel daran bestehen, dass tatsächlich
       eine Versorgungslücke droht, die so groß ist, dass sie nicht durch
       verkraftbare Einsparungen beim Verbrauch geschlossen werden könnte.
       
       Von einem Sonderparteitag ist in der Partei vereinzelt schon die Rede,
       sollte es auf hart auf hart kommen. Spätestens aber der reguläre Parteitag
       Mitte Oktober würde eine heiße Veranstaltung. Auch mit Landesverbänden
       könnte es Ärger geben. In Niedersachsen, wo mit dem AKW Emsland ebenfalls
       ein Kraftwerk steht, stehen im Herbst Landtagswahlen an. Spitzenkandidatin
       Julia Hamburg nannte eine Kurzzeitverlängerung [2][am Mittwoch im
       Deutschlandfunk] ein „fatales Einfallstor“.
       
       Es könnte auch noch alles anders ausgehen. Der Stresstest könnte zum
       Ergebnis kommen, dass die Atomkraftwerke tatsächlich nicht weiterhelfen.
       Die Grünen könnten die Laufzeitverlängerung wieder kategorisch ablehnen und
       den Ideologie-Vorwurf locker zurückweisen: Man habe jetzt doppelt geprüft.
       Die Fakten hätten nun mal entschieden.
       
       27 Jul 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.preussenelektra.de/de/unsere-kraftwerke/kraftwerkisar.html
   DIR [2] https://www.deutschlandfunk.de/atomkraft-nein-danke-int-julia-hamburg-b-90-die-gruenen-niedersachsen-dlf-2519b03f-100.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tobias Schulze
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Atomkraft
   DIR Robert Habeck
   DIR Energie
   DIR GNS
   DIR Bündnis 90/Die Grünen
   DIR FDP
   DIR Atommüllendlager
   DIR Energie
   DIR Michael Kretschmer
   DIR Schwerpunkt Atomkraft
   DIR Schwerpunkt Fridays For Future
   DIR Robert Habeck
   DIR Anti-AKW-Proteste
   DIR Schwerpunkt Atomkraft
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Schwerpunkt Atomkraft
   DIR Anti-Atom-Bewegung
   DIR Finanzen
   DIR Schwerpunkt Atomkraft
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Scholz' AKW-Entscheidung: Basta war gestern
       
       Der Kompromiss im Streit zwischen Grünen und FDP über die drei AKWs war
       nötig. Es ist kein Machtwort von Scholz, sondern eher ein Griff zur
       Notbremse.
       
   DIR Atommülllager in der Schweiz: Ziemlich nah dran
       
       Die Schweiz will ihren Atommüll in unmittelbarer Nähe der deutschen Grenze
       lagern. Vor einigen Jahren war das Gebiet noch als ungeeignet eingestuft
       worden.
       
   DIR Atomdebatte und die Grünen: Richtige Prinzipien
       
       Die Debatte über längere AKW-Laufzeiten ist zur Charakterfrage verkümmert.
       Dabei gibt es für die Grünen gute Gründe, am Atomausstieg festzuhalten.
       
   DIR Union in der Atomkraftdebatte: Energiepolitische Irrfahrten
       
       Ausgerechnet die Unionspolitiker Söder und Kretschmer inszenieren sich als
       Hüter der Energiesicherheit. Beide stellten sich oft gegen die Windkraft.
       
   DIR Atomdebatte und die Grünen: Unnütze Panik
       
       Die Argumentation grüner SpitzenpolitikerInnen gegen Atomenergie ist oft
       viel zu schwarz-weiß. Das Gebot der Stunde gilt der Grauzone.
       
   DIR Debatte über Atomkraft: Neubauer offen für Streckbetrieb
       
       Die Fridays-for-Future-Aktivistin findet ein „Provisorium“ mit einem
       Streckbetrieb der letzten Atomkraftwerke akzeptabel. Dass er wirklich
       nütze, hält sie für fraglich.
       
   DIR Debatte um AKW-Laufzeitverängerung: Ein vorübergehendes Übel
       
       Die politischen Gegner blicken mit Häme auf die Grünen. Aber die
       Zugeständnisse in der AKW-Frage zeigen eine nötige Annäherung an unschöne
       Realitäten.
       
   DIR Anti-Atom-Radtour: Kein Zurück in die Zukunft
       
       Auf einer Tour entlang der letzten Atomkraftwerke feiern Umweltschützer
       den Ausstieg. Von Brokdorf bis Wyhl besuchen sie Schauplätze alter Kämpfe.
       
   DIR Klage vor dem Bundesverfassungsgericht: Kein Extra-Zins für AKW-Betreiber
       
       Der Betreiber eines AKW wollte Zinsen auf die bereits erstattete
       Brennelementesteuer einklagen. Die Karlsruher Richter:innen lehnten das
       nun ab.
       
   DIR +++ Krieg in der Ukraine +++: Exporte starten „heute oder morgen“
       
       Selenski hat in Odessa den baldigen Beginn der Getreideexporte angekündigt.
       Kiew und Moskau werfen sich gegenseitig den Angriff auf ein Gefängnis vor.
       
   DIR Laufzeitverlängerung der Isar 2: Münchner Grüne wanken
       
       Der Strommangel in Bayern beflügelt die Debatte über eine
       Laufzeitverlängerung. Aber nur solange keine neuen Brennelemente notwendig
       werden.
       
   DIR Längere Laufzeiten für Atomkraftwerke: Mehr Kompromisse wagen
       
       Trotz Energiekrise schließen die Grünen längere Laufzeiten für
       Atomkraftwerke aus. Doch ihre Prinzipientreue ist nicht souverän, sondern
       stur.
       
   DIR Messinstrumente für nachhaltige Finanzen: Beliebig und nicht vergleichbar
       
       Scores für ökologische oder soziale Aspekte sollen bei der Suche nach
       nachhaltigen Finanzprodukten helfen. Doch sie haben viele Mängel.
       
   DIR Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke: „Scheindebatte“ auf Wiedervorlage
       
       Die FDP verschärft den Ton in der Atomkraft-Diskussion. Neben inhaltlichen
       Überlegungen könnte dahinter auch die schlechten Umfragewerte stecken.