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       # taz.de -- Inflation und Armut in Berlin: Endlich wieder Donnerstag!
       
       > Kaum frisches Obst oder Gemüse, sondern essen, was gerade billig ist:
       > Berliner*innen mit wenig Geld geraten durch die hohe Inflation in
       > Not.
       
   IMG Bild: In einer Laib und Seele-Ausgabestelle in Berlin
       
       Berlin taz | Endlich wieder Donnerstag. Alexander Kühling hält seine gelbe
       Karteikarte und 1 Euro bereit, um sich als Tafelkunde für die heutige
       Ausgabe anzumelden. Der Ort des Geschehens, die Passionskirche am
       Marheinekeplatz, ist an diesem warmen Sommertag gut besucht. Die Schlange,
       in die sich Kühling einreihen muss, ist lang, bis er die kühlen Räume der
       Kirche betreten kann, wird noch eine halbe Stunde vergehen. Bis dahin
       unterhält man sich und tippelt ab und zu ein wenig näher in Richtung
       Eingangstür.
       
       „Bist du blau oder noch gelb?“, fragt jemand, der noch seinen Platz in der
       Warteschlange sucht. Um die Ausgabe besser zu koordinieren, gibt es
       Karteikarten in vier verschiedenen Farben für vier gleich große
       Personengruppen. Dieses System entscheidet über die Einlasszeit und rotiert
       wegen Gerechtigkeit monatlich. Gelb ist diesen Monat der vorletzte
       Einlasstermin. „Ich bin der letzte Gelbe“, antwortet ein älterer Mann mit
       Vollbart, „du musst hinter mich.“
       
       Einblick in die Situation bedürftiger Menschen hat Heiner Holland,
       ehemaliger Geschäftsführer der Kirchengemeinde Heilig-Kreuz-Passion. Er hat
       sich auf einer Kirchenbank niedergelassen, während ein paar Meter weiter
       die ersten Tafelkunden ihre Spende entgegen nehmen. Die Kreuzberger
       Gemeinde unterstützt Obdachlose, Leistungsempfänger*Innen und
       Geflüchtete. Wöchentlich finden Essensausgaben in der Kirche am
       Marheinekeplatz statt. Nach seinem Eindruck sei die Anzahl Bedürftiger, die
       Unterstützung in Form von Lebensmittelspenden bräuchten, gestiegen, sagt
       Holland – und das bei gesunkener Spendenbereitschaft.
       
       An manchen Ausgabetagen kämen etwa 100 Menschen zusätzlich in die Kirche.
       „Unsere Hilfe ist wichtig“, sagt Holland. „Allerdings darf der Staat die
       Verantwortung nicht auf die Tafeln abwälzen.“ Gleichzeitig würden die
       Supermärkte wegen der Teuerungen näher am Mindesthaltbarkeitsdatum
       kalkulieren. So bleibe weniger für die Tafel übrig, erklärt Holland.
       
       Alexander Kühling ist seit etwa neun Jahren wegen gesundheitlicher Probleme
       auf Sozialleistungen angewiesen. „Bis letztes Jahr konnte ich immer gut
       haushalten“, sagt der Tafelkunde, „aber jetzt ist es wirklich schwierig
       geworden.“ Seine finanzielle Situation habe sich seit ein paar Monaten
       deutlich verschlechtert.
       
       ## Zuerst zu den Rabattkisten
       
       „Wenn ich im Supermarkt bin, laufe ich als Erstes zu den Rabattkisten. Ich
       esse nicht, worauf ich Appetit habe, sondern das, was gerade günstig ist.“
       Außerdem sei die soziale Teilhabe erschwert. „Es ist mir peinlich,
       zuzugeben, dass ich mir einen Restaurantbesuch gar nicht leisten kann. Ich
       muss dann Ausreden erfinden, warum ich nicht mitkomme.“ Für die
       Essensspenden ist Alexander Kühling dankbar. [1][„Ohne die Ausgabe würde
       ich kaum noch Gemüse und Obst essen können.“]
       
       Als er endlich an der Reihe ist, kann er sich Brot nehmen; Obst und Gemüse
       werden ihm zugeteilt. Zusätzlich gibt es etwas Käse, Wurst oder Haltbares.
       Viele grüne und schwarze Kisten mit Lebensmitteln stehen auf Tischen in
       einer langen Reihe durch die Kirche. Auf der einen Seite stehen
       Ehrenamtliche und verteilen, auf der anderen Seite laufen die
       Empfänger*Innen wie Alexander Kühling von Kiste zu Kiste. „Willst du
       noch etwas Rharbarber?“, fragt eine Ehrenamtliche freundlich. Kühling nimmt
       dankend an.
       
       Menschen, die auf staatliche Hilfe angewiesen sind, kommen durch
       Regelsätze, die an der Armutsgrenze liegen, schnell in Existenznot. Sie
       erhalten, wie auch Alexander Kühling, 155,82 Euro für Nahrungsmittel und
       38,07 für Energie monatlich. Die Heizkosten werden separat gezahlt, und es
       können auch Nachzahlungen übernommen werden. Doch wegen gestiegener
       Lebensmittel- und Energiepreise reichen die Pauschalen nun kaum mehr aus.
       Wenn die Preise wie derzeit über einen längeren Zeitraum höher als im
       Vorjahreszeitraum liegen, spricht man von Inflation.
       
       Inflation ist dem Lateinischen Wort „inflatio“ entlehnt und bedeutet „sich
       aufblasen“. Aufgeblasen ist in dem Fall der Preis von Waren und Gütern. Das
       Geld erfährt somit einen Wertverlust. Um Inflation zu messen, ist ein
       Überblick über die Verbraucherpreise entscheidend. Dafür wird ein
       sogenannter Warenkorb mit 600 Produkten erhoben und durch die Ämter für
       Statistik ausgewertet. So entsteht der Verbraucherpreisindex. An ihm ist
       die aktuelle Teuerungsrate ablesbar.
       
       Der bundesdeutsche Durchschnitt der Inflation betrug für Juni 7,6 Prozent,
       im Mai waren es 7,9. Eine Veränderung des Prozentsatzes muss nicht
       bedeuten, dass sich die Inflation im laufenden Jahr geändert hat.
       Tatsächlich ist die Inflation von Mai auf Juni sogar gestiegen. Das liegt
       daran, dass die erhobenen Preise ins Verhältnis zu Juni 2021 gesetzt
       werden.
       
       In Berlin ist die Inflationsrate noch um einen Prozentpunkt höher als
       bundesweit und liegt bei 8,6 Prozent. Thomas Krämer vom [2][Statistischen
       Bundesamt] führt die starke Abweichung in Berlin insbesondere auf den
       gekippten Mietendeckel zurück: „Nachdem es einen bundesweit einmaligen
       Rückgang der Wohnungspreise in Berlin gegeben hat, sind die Wohnungsmieten
       nach dem Scheitern der Obergrenze sprunghaft angestiegen, sogar über das
       Niveau von vor dem Mietendeckel.“ Das wirke sich noch immer aus, vermutet
       er. Zudem sei Berlin als Hauptstadt besonders attraktiv für Touristen. „Das
       und kleinere Faktoren wie regional unterschiedliche Märkte führt
       hauptsächlich zu höherer Inflation in Berlin“, sagt Thomas Krämer.
       
       Um die Menschen in Deutschland von den gestiegenen Kosten zu entlasten, hat
       der Bund weitreichende Maßnahmen beschlossen. So gibt es die Möglichkeit,
       den Nahverkehr bundesweit für 9 Euro zu nutzen, es gibt eine
       Steuerentlastung auf Benzinpreise und diverse Einmalzahlungen. Heiner
       Holland zieht dennoch eine eher negative Bilanz: Das 9-Euro-Ticket sei
       sicher eine Entlastung. Vom Tankrabatt profitiere hingegen kaum jemand,
       sagt er, weil nur wenige arme Menschen in Berlin ein Auto besäßen. Die
       Einmalzahlungen könnten keine grundlegenden Änderungen herbeiführen.
       „Insgesamt ist das Prinzip Gießkanne, das in diesem Entlastungspaket
       Anwendung findet, ungerecht“, sagt Holland.
       
       Alexander Kühling sieht sich den steigenden Energiepreisen gegenüber
       machtlos. Strom muss er von seinem Regelsatz zahlen. Er wisse nicht, woher
       das Geld kommen solle, wenn eine Nachzahlung gefordert würde. So wie ihm
       geht es immer mehr Menschen. Die gestiegenen Lebensmittelpreise und die
       Warnung vor exorbitant steigenden Energiepreisen lasse [3][die Armen in
       „Überlebensstrategien“ verfallen], sagt Heiner Holland. Er beschreibt, wie
       einige schon jetzt einen Wochenplan erstellten und sich dann täglich von
       Hilfsangebot zu Hilfsangebot hangeln, um die basalsten Bedürfnisse zu
       befriedigen.
       
       Die Verbraucherzentrale Berlin beobachtet eine Verschiebung der
       Beratungsanfragen zu Gasproblemen. Diese hätten mittlerweile einen Anteil
       von über 30 Prozent, was einer Verdopplung im Vergleich zu den Vorjahren
       entspricht. Die Verbraucherzentrale rät zum Sparen: „Auch Ihren
       Stromverbrauch sollten Sie reduzieren, da ein Teil des Gases zur
       Stromproduktion genutzt wird.“
       
       Und nicht nur die Ärmsten stehen vor finanziellen Herausforderungen: „Es
       werden zunehmend andere Einkommensgruppen betroffen sein,
       Verbraucher*innen mit geringen oder mittleren Einkommen ohne Anspruch
       auf Sozialleistungen“, prognostiziert Elisabeth Grauel von der
       Energieberatung.
       
       Es bleibt abzuwarten, ob der Bund Maßnahmen ergreift, um Härten
       aufzufangen. Denkbar und von Sozialverbänden wiederholt gefordert wäre eine
       dauerhafte Anhebung der Regelsätze um 100 Euro – damit Menschen in Würde
       leben und am Leben teilhaben können. Alexander Kühling und all die anderen
       Menschen mit wenig Geld werden sich ohne weitere finanzielle Zuwendung
       buchstäblich warm anziehen müssen.
       
       5 Jul 2022
       
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