URI:
       # taz.de -- Onlinespiel „Axie Infinity“: Digitaler Feudalismus
       
       > „Axie Infinity“ ist ein Play-to-Earn Game. Vor allem Spieler aus dem
       > Globalen Norden profitieren finanziell, indem sie philippinische Nutzer
       > für sich spielen lassen.
       
   IMG Bild: Schräge Wesen, einst gute Profite: Axie Infinity
       
       Es sieht aus wie eine Kopie von „Pokémon“, bei der sich die Gestalter wenig
       Mühe mit dem Design der Spielwelt und der Figuren gegeben haben. Doch trotz
       der lieblosen Gestaltung war das Onlinespiel „Axie Infinity“ eine Zeit lang
       eine Gelddruckmaschine für seine Schöpfer und einige seiner Nutzer. Denn
       das Spiel ist eigentlich nur eine visuelle Oberfläche für die Generierung
       einer Kryptowährung. Das Game erlaubte es [1][vor allem Nutzern aus Europa
       und den USA, direkt von der Armut im Globalen Süden zu profitieren].
       
       Auf den ersten Blick ist „Axie Infinity“ ein Onlinespiel wie viele andere
       auch. Es kann auf dem Smartphone oder dem Computer gespielt werden.
       Ansonsten braucht man nur einen Internetzugang, um mitzumachen. Das Spiel
       wurde 2018 von dem vietnamesischen Unternehmen Sky Mavis veröffentlicht und
       erinnert an Games wie „Pokémon“ oder „Neopets“ oder die Ende der 90er Jahre
       beliebten Tamagotchis. Das Spielprinzip: Die Teilnehmer erwerben virtuelle
       Kreaturen, eben Axies, die aufgezogen und gehandelt werden oder in
       Turnieren gegen die Figuren anderer Spieler in einer Art virtuellem
       Schachspiel antreten.
       
       Jede dieser Figuren hat einen eigenen, computergenerierten „genetischen
       Code“, der die Eigenschaften der Axies bestimmt, ihre Farbe genauso wie
       bestimmte Fähigkeiten, die in den Onlineturnieren von Bedeutung sind. Und
       dieser Code ist als ein non-fungible token, kurz NFT, gespeichert. Diese
       „einmaligen Wertschriften“ sind digitale Echtheitszertifikate: eine lange
       Schlange von Buchstaben und Zahlen, die [2][in der globalen Onlinedatenbank
       Blockchain verzeichnet sind].
       
       In der Blockchain wurden ursprünglich die „Münzen“ von Kryptowährungen wie
       Bitcoin wie in einem Register verzeichnet, um deren Originalität zu
       garantieren. Aber inzwischen werden NFTs, die in der Blockchain registriert
       sind, dazu verwendet, die Authentizität von anderen virtuellen oder sogar
       physischen Objekten sicherzustellen. Der amerikanische Künstler Mike
       Winkelmann alias Beeple gehört zu jenen, die dank NFTs zum Millionär
       wurden. Er verkaufte über das Auktionshaus Christie’s ein NFT für sein
       digitales Kunstwerk „Everyday“ für knapp 70 Millionen Dollar. Der Sammler
       erhielt ein Stück Code in der Blockchain, die ihn als Inhaber des NFTs von
       „Everyday“ ausweist.
       
       ## Erkleckliche Wertsteigerung
       
       Um derart astronomische Summen geht es bei „Axie Infinity“ zwar nicht, aber
       wer früh in das Spiel einstieg und Axie-Figuren für die anfangs niedrigen
       Preise erwarb, konnte in den Genuss erklecklicher Wertsteigerung kommen.
       Anfangs kosteten die Axies wenige Euro, nach einem Jahr waren einige von
       ihnen bis zu 2.000 Euro wert. Ihren Wert kann man noch steigern, indem man
       sie im Spiel einsetzt oder sie neue Axies zeugen lässt, die man dann an
       andere Spieler verkauft. Diese Deals werden in der Kryptowährung Smooth
       Love Potion (SLP) durchgeführt, die für das Spiel entwickelt wurde. Und
       diese Währung kann man – anders als andere Game-Währungen, die es bei
       Spielen wie „World of Warcraft“ schon seit Jahren gibt – an Kryptobörsen in
       reales Geld umtauschen.
       
       Rund drei Jahre nach dem Erscheinen im Sommer 2021 zählt „Axie Infinity“ zu
       den erfolgreichsten Blockchain-Games überhaupt. Es entwickelte sich zur
       damals wertvollsten NFT-Sammlung der Welt, auf Twitter verkündet Co-Founder
       Aleksander Leonard Larsen ein Handelsvolumen von vier Milliarden
       US-Dollar. Ende 2021 verzeichnet das Spiel fast drei Millionen monatlich
       aktive Nutzer, mehr als jedes andere Blockchain-Game. „Axie Infinity“ ist
       also ein play-to-earn game. Man spielt es nicht in erster Linie aus Spaß an
       der Freude, sondern als Verdienstquelle.
       
       ## Methode, um Einkommen zu ergänzen
       
       In Ländern des Globalen Südens wie Venezuela oder auf den Philippinen ist
       „Axie Infinity“ tatsächlich zu einer Methode geworden, sein Einkommen zu
       ergänzen oder sogar ganz vom Zocken zu leben. Während der Coronakrise
       und der diversen Lockdowns verbreitete das Spiel sich selbst wie eine
       Pandemie. Plötzlich wurde „Axie Infinity“ von ganzen Familien, von den
       Kindern bis zu den Großeltern, gespielt, als man in dem südostasiatischen
       Land wegen eines monatelangen strikten Lockdowns zu Hause saß und kein Geld
       verdienen konnten.
       
       Es spielten Motorradtaxi-Fahrer, die auf Kunden warteten, oder
       Kioskbesitzerinnen, wenn sie keine Kundschaft zu bedienen hatten. Teilweise
       spielten Familien auch in Schichten, um sich damit ihren Lebensunterhalt zu
       sichern. Und zwischenzeitlich war es 2021 tatsächlich möglich, mit „Axie
       Infinity“ pro Monat als Vollzeitspieler mehrere Hundert Euro zu verdienen –
       nicht schlecht in einem Land, in dem das durchschnittliche Monatseinkommen
       etwa 800 Euro beträgt, aber viele Menschen in informellen Jobs auch
       wesentlich weniger verdienen.
       
       ## „Stipendium“ als verschleiernder Begriff
       
       Als die Kaufpreise für die Axies wegen des Erfolgs plötzlich in die
       Tausende ging, waren die Einsteigerpreise für die vielen Spieler im
       Globalen Süden kaum noch zu bezahlen. So entstand ein neues
       Geschäftsmodell, die sogenannten scholarships. Der „Stipendiengeber“ – in
       der Regel Spieler aus Europa oder den USA – erwirbt ein oder mehrere Axies,
       die er an regelmäßige Spieler ausleiht. Dann konnte er sein Geld
       buchstäblich für sich arbeiten sehen: Die Spieler auf den Philippinen
       begannen mit den Figuren am Spiel teilzunehmen und Kryptotokens zu
       erwirtschaften. Die Gewinne, die der Spieler erwirtschaftet, werden
       zwischen Axie-Besitzer und Spieler geteilt, wobei die Spieler zum Teil
       weniger als die Hälfte ihrer Gewinne behalten dürfen.
       
       Wer verschleiernde Begriffe wie „Stipendium“ ignoriert, entdeckt hier die
       digitale Version eines Wirtschaftssystems, das auf den Philippinen seit der
       Kolonialisierung durch Spanien im 16. Jahrhundert bekannt ist: einen
       [3][Feudalismus, worin die Bauern kein Land besitzen] und gezwungen sind,
       für einen Grundherrn zu arbeiten. Die Gutsherren auf ihren Haciendas bilden
       eine Rentiersklasse, die von den Mühen ihrer schlecht bezahlten Arbeiter
       lebt und die Profite in immer neue Unternehmen und andere Investitionen
       stecken kann.
       
       Unterdrückerische religiöse Praktiken in Verbindung mit mangelnder Bildung
       führen zu einer Kultur, in der die Arbeiter den bedingungslosen Gehorsam
       und utang na loob (Dankbarkeit) gegenüber ihren Hacienderos verinnerlichen.
       So erklärt sich, dass die „Axie Infinity“-Spieler sich bei ihren „Gönnern“
       teilweise mit blumigen Dankesschreiben oder Geburtstagsgrüßen dafür
       erkenntlich zeigen, dass sie zu ausbeuterischen Bedingungen für sie an
       einem Computerspiel teilnehmen dürfen.
       
       ## Internetfirmen als „Cyberlords“
       
       Der philippinische Aktivist und Autor Roberto Verzola hatte solche
       feudalistischen Strukturen bereits Ende der 1990er Jahre in der sich
       entwickelnden Internetökonomie erkannt. Lange vor den wirtschaftlichen
       Triumphen von Unternehmen wie Google oder Facebook beschrieb er
       Internetfirmen als „Cyberlords“ und als eine neue Rentiersklasse. Heute
       sind wir alle unfreiwillige Mitschöpfer der atemberaubenden Profite, die
       die Unternehmen der Onlinewirtschaft aus unserer Teilnahme an ihren
       Angeboten beziehen. Die armen philippinischen Tagelöhner, die am Smartphone
       „Axie Infinity“ zocken, sind im Grunde nur eine besonders krasse und
       tragische Variante dieser Form der Ausbeutung.
       
       Im März 2022 wurde „Axie Infinity“ zum Opfer eines Hacks, der inzwischen
       als der profitabelste Kryptoraubzug aller Zeiten gilt. Eine
       nordkoreanische Hackergruppe stahl dem Unternehmen umgerechnet 620
       Millionen Dollar in den Kryptowährungen Ether and USDC. Was überall sonst
       wohl das Aus bedeutet hätte, führte bei „Axie Infinity“ lediglich dazu,
       dass man das Geschäftsmodell und das Spiel aktualisierte: Kurzzeitig werden
       alle Transaktionen eingefroren, User können dadurch weder ihre NFTs
       eintauschen noch neue kaufen.
       
       ## Dramatische Verluste
       
       Um alle Spieler aber auszahlen zu können, sammelt das Unternehmen von den
       Investoren 150 Millionen Dollar ein. Damit sollen auch Sicherheitsmaßnahmen
       verbessert werden. Doch die Nutzerzahlen sinken trotzdem, auch der Kurs der
       „Axie Infinity“-Kryptowährung SLP stürzt von einst 30 Dollarcent auf gerade
       einmal 1 Cent ab. Für die Spieler bedeutet das, dass sie nun 30-mal so
       lange spielen müssen wie im Sommer 2021, um dieselben Einnahmen zu
       erzielen. Wer damals die Kryptowährung oder seine Axies nicht rechtzeitig
       losgeschlagen hat, musste dramatische Verluste hinnehmen.
       
       Auf den Diskussionsboards im Internet, wo sich die „Axie Infinity“-Spieler
       austauschen, ist ein echter Sturm der Entrüstung allerdings ausgeblieben.
       Viele Spieler haben leise enttäuscht aufgegeben; andere hoffen auf einen
       zweiten Boom des Spiels und seiner Kryptowährung. Auch für den Fatalismus,
       den man sich angewöhnt, wenn man der Übermacht der Herrschaft hilflos
       gegenübersteht, gibt es in der Sprache der Philippinen einen Ausdruck:
       bahala na. Auf Deutsch: Es kommt, wie’s kommt.
       
       9 May 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Digitale-Klassengesellschaft/!5790029
   DIR [2] /Forscher-ueber-Blockchains/!5850534
   DIR [3] /Eine-neue-Form-der-Kolonialisierung/!5025160
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tilman Baumgärtel
       
       ## TAGS
       
   DIR Internet
   DIR Kolonialismus
   DIR Philippinen
   DIR Schwerpunkt Armut
   DIR Kryptowährung
   DIR Blockchain
   DIR GNS
   DIR Kunst
   DIR Philippinen
   DIR NFT
   DIR Philippinen
   DIR Philippinen
   DIR Schwerpunkt Feministischer Kampftag
   DIR Literatur
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Hype der Kryptokunst: Das uneingelöste Versprechen
       
       Kryptokunst war mal wild und nerdig, jetzt ist sie im Museum angekommen.
       Würde sie heute noch so glänzende Dilettanten hochspülen wie Osinachi?
       
   DIR Philippinischer Präsident Marcos Jr.: „Alter Wein in neuen Schläuchen“
       
       Die erste 100-Tage-Bilanz des philippinischen Staatschefs fällt dürftig
       aus. Nicht einmal einen Gesundheitsminister hat Marcos Jr. bislang ernannt.
       
   DIR Hype um Online-Zertifikate: Einzigartiger Müll
       
       NFTs schaffen künstliche Einzigartigkeit. Sie kommerzialisieren das
       Internet, frei nach dem Matthäus-Prinzip: Wer hat, dem wird gegeben.
       
   DIR Philippinische Präsidentschaftswahlen: Präsident Diktatorensohn
       
       Die Wahl in den Philippinen steht an. Präsident wird wohl Sohn des
       Diktators Ferdinand Marcos Sr., Vize die Tochter des amtierenden Rodrigo
       Duterte.
       
   DIR Tropensturm auf den Philippinen: 172 Tote, mindestens 170 Vermisste
       
       Auf den Philippinen suchen Retter seit mehr als einer Woche nach
       Überlebenden des Tropensturms „Megi“. Doch die Arbeiten sind riskant.
       
   DIR Pflege und Globalisierung: Kosmopolitinnen aus Not
       
       Sharon Austrias Mutter verließ die Philippinen und ging nach Israel.
       Austria tat später das Gleiche. Wo wird die Enkelin einmal arbeiten?
       
   DIR Neuer Roman von Philipp Winkler: Einsame Wölfe im Darknet
       
       Philipp Winklers „Creep“ handelt von zwei Außenseitern, die im Internet
       unterwegs sind. Der Roman erzählt, wie Gewalt inszeniert wird.