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       # taz.de -- Europa und die USA: Die Rückkehr des Westens
       
       > Seit dem Ukrainekrieg ist der Westen als politisches Projekt wieder en
       > vogue. Vergessen, aber nicht überwunden sind die inneren Widersprüche.
       
   IMG Bild: Wolodymyr Selenskyj erhält einen Fragebogen zu einem möglichen EU-Beitritt, 8. April 2022
       
       Frei nach Wilhelm Busch könnte man sagen: Drei Jahre war der Westen so
       krank – jetzt raucht er wieder, Gott sei Dank! Die Schwächegefühle, die die
       westliche Welt die letzten Jahre beschlichen, sind dank des ukrainischen
       Widerstandswillens wie weggeblasen.
       
       Überwunden der Kabul-Schock, als die afghanische Armee nicht im Traum daran
       dachte, für „westliche Werte“ zu sterben. Verdrängt der Corona-Schock, als
       Sterberaten und Wirtschaftsrückgang in den westlichen Industrieländern (und
       nicht zuletzt in ihrer Führungsmacht USA) weit über den Werten Ostasiens,
       vor allem des „Systemrivalen“ China lagen.
       
       Und vergessen der Trump-Schock, als nicht nur die transatlantische
       [1][Verteidigungsgemeinschaft], sondern auch die vermeintliche gemeinsame
       Wertewelt des Westens einem populistischen Stresstest unterzogen wurde.
       
       Die Soldaten und Freiwilligen in der Ukraine zeigen, dass das westliche
       Modell immer noch so attraktiv ist, dass Menschen dafür zu sterben bereit
       sind. Und der Westen wiederum kann zeigen, dass er zum entschlossenen und
       gemeinsamen Handeln fähig ist – schlicht, dass es ihn tatsächlich noch
       gibt.
       
       ## Moralische Überlegenheit war angekratzt
       
       Garniert wird die [2][Rückkehr des Westens] mit dem angenehmen Gefühl der
       moralischen Überlegenheit – ein Gefühl, das postkoloniale
       Identitätsdebatten, die Ahnung, dass der Irak- und der Libyenkrieg
       vielleicht doch nicht ganz den Idealen des Völkerrechts entsprochen hatten,
       sowie die mit dem Klimawandel verbundenen Selbstvorwürfe in letzter Zeit
       doch ein bisschen angekratzt hatten.
       
       Ein Paradox dieser Revitalisierung des Westens besteht darin, dass sie in
       mancherlei Hinsicht aus Faktoren erwächst, die mit dem Zeitgeist des
       postmodernen Westens wenig zu tun haben. Aus dessen Perspektive ist der
       Kampfeswille der Ukrainer ein Atavismus; er basiert auf Vorstellungen, die
       in der postheroischen und postnationalistischen Welt des Kosmopolitismus
       eigentlich keinen Platz mehr haben.
       
       Es ist faszinierend zu sehen, wie Medien, für die das [3][Adjektiv
       „nationalistisch“ normalerweise einen Maximalvorwurf] darstellt, sich für
       die Geburt eines (historisch ja auch nicht ganz unproblematischen)
       ukrainischen Nationalgefühls begeistern.
       
       Die Zeit zitiert einen polnischen, PiS-nahen Intellektuellen, der spottet:
       „Ich würde mal sagen, das mit „metrosexuell“ hat sich vorerst erledigt,
       wenn Männer an die Front ziehen und die Frauen bei den Kindern bleiben,
       oder?“
       
       Zudem wird völlig übersehen, dass der Konflikt nicht nur eine
       Systemdimension hat – westlich-liberale Staats- und Demokratievorstellungen
       vs. oligarchischen Autoritarismus à la Putin –, sondern auch eine
       kulturelle. Samuel Huntington wies immer wieder darauf hin, dass die
       „Bruchlinie“ zwischen der westeuropäischen Kultur- und Zivilisationssphäre
       und der der Orthodoxie mitten durch die Ukraine geht.
       
       Und dennoch bleibt zunächst natürlich der Fakt, dass die Ereignisse in der
       Ukraine den „Westen“ sowohl als ideologisches Konstrukt wie als handelnde
       Gemeinschaft schlagartig wiederbelebt haben.
       
       Wie lange wird und kann das tragen? Hier ist Skepsis angesagt. Heinrich
       August Winkler definiert den Westen als „normatives Projekt“, das
       aufklärerische Grundwerte in Institutionen und Normen gegossen hat:
       Menschenrechte, säkularisierte Hoheitsgewalt, repräsentative Demokratie,
       Gewaltenteilung, bürgerliche Freiheiten und Rechtsstaatlichkeit.
       
       ## Den Menschen in der Ukraine dankbar sein
       
       Das Problem dieses Projekts bestand in den letzten Jahren weniger in den
       externen Herausforderungen durch autoritäre Systemalternativen oder dem
       Auftauchen neuer, nicht westlicher Akteure auf der Weltbühne. Auch die
       Formulierung illiberaler Konzepte von Demokratie durch marginale
       konservative Akteure wie Orbán oder Kaczyński war nicht wirklich wichtig.
       
       Das Problem des „Westens“ waren (und sind) seine inneren Widersprüche und
       seine wachsenden Probleme, die Errungenschaften einer
       säkular-demokratischen Gesellschaft gegen innere Erosionsprozesse zu
       verteidigen.
       
       Die Spaltung der Lebenswirklichkeit von Gewinnern und Verlierern von
       Internationalisierungsprozessen lässt die Vorstellung einer „normativen
       Gemeinschaft“ für viele Menschen immer künstlicher erscheinen. Wie tief
       dieser Riss auch in Europa geht, wird die zweite Runde bei den
       Präsidentschaftswahlen in Frankreich zwischen Emmanuel Macron und Marine Le
       Pen am 24. April wieder zeigen.
       
       Die repräsentative Demokratie verliert an sozialer Repräsentativität und
       politischer Gestaltungskraft; die Säkularisierung der westlichen
       Gesellschaften, die Gleichheit von Mann und Frau und das Recht auf
       individuelle Selbstbestimmung wird in der multikulturellen Wirklichkeit
       westlicher Zuwanderungsgesellschaften normativ und praktisch infrage
       gestellt; subjektiv gefühlt geraten für viele Menschen Meinungsfreiheit und
       bürgerliche Freiheiten unter Druck, während repressive Ideologien und
       Dogmen im Aufwind sind. All diese Faktoren sind am 24. Februar nicht
       verschwunden.
       
       Wir müssen den Ukrainern dankbar sein, dass sie ihren Kampf gegen eine
       autoritäre Kleptokratie kämpfen, für ihr Recht auf ein angstfreies Leben in
       einem Land ohne politische Gefangene und Giftanschläge. Wir sollten ihnen
       dafür tatsächlich den Weg nach „Westen“ – sprich in die EU – öffnen.
       
       Aber so unangebracht die Abgesänge vor einigen Monaten waren, so künstlich
       ist nun das neue Stärkegefühl des „Westens“. Zumal diese Renaissance der
       eigenen Gewissheiten einige Aspekte – wie etwa die Irak-Invasion – so
       völlig ignoriert. Der Westen wird den geopolitischen Gewaltakteur Russland
       erfolgreich einhegen können – seine eigenen Widersprüche, Probleme und
       Paradoxien werden aber bleiben.
       
       14 Apr 2022
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Ernst Hillebrand
       
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