URI:
       # taz.de -- Wohnraum für Obdachlose in Hannover: Hausbesetzung als Selbsthilfe
       
       > Ein paar Wochen lebte die wohnungslose Carina Walter heimlich in einem
       > leerstehenden Haus in Hannover. Dann kam die Polizei.
       
   IMG Bild: Häuser in der Schulenburger Landstraße in Hannover: die Sanierung kommt nicht voran
       
       Hannover taz | Der Wind peitscht an einem kalten Februarmorgen durch die
       Straßen von Hannover. Carina Walter steht vor dem Tiny House eines
       Freundes, bei dem sie heute übernachtet hat. „Ich bin keine
       Frühaufsteherin, da sind die eigenen vier Wände schon wichtig“, sagt sie
       lachend und zündet sich eine selbstgedrehte Zigarette an.
       
       Walter ist, wie nach Schätzungen etwa 4.500 andere Menschen in Hannover,
       wohnungslos. In den vergangenen fünf Jahren sei sie immer wieder in
       Notunterkünften und zwischendurch auch mal in Wohnungen untergekommen,
       erzählt sie.
       
       „Wohnungslosigkeit ist tief in meinem Leben verankert“, sagt Walter. Sie
       arbeite als Prostituierte, quasi selbstständig, erzählt sie. Den Job mache
       sie gerne, denn er gebe ihr finanzielle Unabhängigkeit. Wegen ihrer
       Lebensgeschichte benötige sie aber dringend ein Dach über dem Kopf. „Ich
       bin eingesperrt und verkauft worden, habe Dinge zu verarbeiten und
       eigentlich anderes zu tun, als von Tagestreff zu Tagestreff zu tingeln“,
       sagt sie. [1][Wie auch andere Obdach- und Wohnungslose in Hannover] greift
       sie nun zu unbürokratischen Methoden.
       
       „Ich besetze Leerstand, weil ich nicht auf der Straße schlafen würde“, sagt
       Walter. „Wohnraum sollte nicht leer stehen. Das sagen auch viele Kunden,
       die ich habe.“ Mit der Hilfe linker Aktivist*innen drang sie heimlich
       in ein leeres Haus in der Schulenburger Landstraße 199 ein und kam dort
       unter.
       
       Das von ihr für mehrere Wochen besetzte kleine Backsteinhaus ist nur eines
       von vierzehn Gebäuden, die seit Jahren zum Teil leer stehen. Beim Blick
       durch das Fenster lässt sich der verwahrloste Zustand erahnen. An den
       Wänden blättert die Tapete ab, in manchen Häusern stehen noch metallene
       Bettgestelle.
       
       Die Häuser werden aktuell für die ordnungsrechtliche Unterbringung von
       obdachlosen Personen verwendet, sagt eine Pressesprecherin der Stadt
       gegenüber der taz. Weil die Gebäude aber sanierungsbedürftig sind, könnten
       derzeit nur drei Häuser verwendet werden, um Menschen unterzubringen.
       
       Saniert wurde in den letzten Jahren allerdings wenig, erzählt einer der
       letzten Anwohner der Häuser, der anonym bleiben will. Nach und nach seien
       die Bewohner*innen verstorben oder ihnen sei gekündigt worden.
       Informationen über die Vorgänge hätten sie nie erhalten. „Von der neuen
       Nachbarin habe ich nichts mitbekommen, anders als bei der ersten
       Besetzung“, sagt er lachend. Linke Aktivist*innen hatten bereits im
       Winter 2020 im Rahmen der „Jetzt besetzen wir“-Kampagne kurzzeitig mehrere
       Gebäude des Areals besetzt.
       
       Als die Aktion öffentlich wurde, rückte die Polizei mit einem Großaufgebot
       an und stürmte nach mehreren Stunden die Gebäude. Ein Großteil der
       Verfahren wegen Hausfriedensbruchs wurden mittlerweile eingestellt. Nur in
       einem Fall kam es zu einer Strafverfolgung.
       
       Durch die Aktion damals sei sie auf die Immobilie aufmerksam geworden,
       erzählt Carina Walter. Mit der Hilfe von Aktivist*innen sei sie dann
       ins Innere gekommen. „Ein eigenes Haus, das war ultracool. Ich konnte
       einfach machen, was ich wollte“, sagt sie. Endlich habe sie Zeit für andere
       Dinge gehabt als die ständige Sorge um Wohnraum. Doch die heimliche
       Besetzung konnte sie nur ein paar Wochen lang aufrecht erhalten.
       
       „Die sind direkt reingestürmt, auf die Ecke mit meinem Bett zu. Hätte ich
       da noch gelegen, ich wäre zu Tode erschrocken“, erinnert sich Walter an den
       Mittwochmorgen der vergangenen Woche. „Ich konnte von Glück reden, dass ich
       nicht angepackt wurde.“ Dem Ordnungsamt sei mitgeteilt worden, dass sich
       eine Person widerrechtlich im Gebäude aufhalte. Daraufhin sei ein
       Streifenwagen zur Amtshilfe gekommen, sagt ein Pressesprecher der Polizei
       Hannover der taz. Gegen Walter sei ein Platzverweis ausgesprochen und eine
       Anzeige wegen Hausfriedensbruchs erstattet worden.
       
       Laut Stadtverwaltung wurde kein Strafantrag gestellt. Mit einer weiteren
       Strafverfolgung der Aktion ist wohl nicht zu rechnen. Die Sprecherin der
       Stadt verweist auf bestehende Angebote für Wohnungslose.
       
       Zu weiteren Plänen in der Schulenburger Landstraße sagt die Stadt, die
       Gebäude würden dem Wohnungsunternehmen hanova übertragen und nach der
       Sanierung wieder durch die Stadt angemietet, um obdachlose Familien
       unterzubringen. „Sollten zum Zeitpunkt der Übergabe des Objektes an hanova
       noch Bewohner*innen dort untergebracht sein, werden diese anderweitige
       Plätze erhalten“, verspricht die Pressestelle der Stadt.
       
       Dass die Stadtverwaltung in dieser Frage [2][mehr als träge agiert], ist
       symptomatisch. Zahlreiche Projekte rund um das Thema Wohnungs- und
       Obdachlosigkeit wurden in den vergangenen Jahren in Hannover beschlossen.
       Bei einem Großteil ist jedoch nicht abzusehen, dass sie bald fertiggestellt
       oder eröffnet werden. Es wirkt eher so, als ob die Stadt einen
       [3][Imageschaden verhindern] will. Die größte Sorge der CDU scheint die
       Sichtbarkeit von Obdachlosigkeit in der Innenstadt zu sein.
       
       Carina Walter will auch zukünftig nicht in eine der städtischen
       Notunterkünfte gehen. Dort gebe es aufgrund der beengten Verhältnisse immer
       wieder Streit. In die Schulenburger Landstraße würde sie dagegen dauerhaft
       einziehen: „Das sind niedliche Häuschen, etwas verschimmelt, aber
       ansonsten völlig in Ordnung und perfekt, um kleine Wohngemeinschaften zu
       machen.“
       
       Nachdem sie nun wieder wohnungslos ist, stehen die alten Probleme abermals
       im Vordergrund: „Ich müsste unbedingt zum Zahnarzt. Das ist jetzt schlecht,
       wenn ich gar nicht weiß, ob ich es schaffe, den Termin wahrzunehmen.“ Die
       Lösung könnte für Walter eine Unterkunft in einem von einer Stiftung
       finanzierten Hotel sein. Im Angesicht der Coronapandemie schafft die
       Zivilgesellschaft schon lange Fakten, um Obdachlose und Wohnungslose in
       Hannover zu versorgen.
       
       9 Feb 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Kampf-gegen-Obdachlosigkeit-in-Hannover/!5735053
   DIR [2] /Wohnraum-fuer-Obdachlose/!5828916
   DIR [3] /Obdachlose-und-die-Pandemie/!5826318
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Trammer
       
       ## TAGS
       
   DIR Housing First
   DIR Hannover
   DIR Obdachlosigkeit
   DIR Hausbesetzung
   DIR Wohnungslose
   DIR Housing First
   DIR Schwerpunkt Obdachlosigkeit in Berlin
   DIR Osnabrück
   DIR Schwerpunkt Stadtland
   DIR Hannover
   DIR IG
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Hausbesetzung in Frankfurt: Freiraum auf Zeit
       
       Ein besetztes Haus in Frankfurt bietet neben Aktivisten auch
       Wohnungslosen Platz. Noch sind sie geduldet, doch im April sollen
       Bauarbeiten beginnen.
       
   DIR Housing First in Norddeutschland: Eigener Herd ist Goldes wert
       
       Housing First gehört zu guter Wohnungslosen-Politik. In Hamburg steht nun
       endlich fest, wer das Projekt umsetzen soll. In Bremen ist man weiter.
       
   DIR Obdachlosigkeit in der Pandemie: „Die Leute sind kälter geworden“
       
       Obdachlose haben gerade ihren zweiten Coronawinter hinter sich. Ein Tag mit
       Lila und Alex, die beide in Berlin auf der Straße leben.
       
   DIR Ausstellung in Osnabrück: Dicht dran an der Distanz
       
       Von intensiven Porträts bis Drohnenvideos: Eine Ausstellung im Osnabrücker
       Kunstraum Hase29 zeigt, wie nah sich Nähe und Ferne sein können.
       
   DIR Wohnraum für Obdachlose: Eine Hängepartie
       
       Zwei Jahre ist Hannovers Oberbürgermeister schon im Amt. Noch immer hat er
       die Obdachlosigkeit in der Stadt nicht ausrechend bekämpft.
       
   DIR Nach Hausbesetzung in Hannover: Verhärtete Fronten
       
       Aktivist*innen kritisieren den massiven Polizeieinsatz, mit dem am
       Wochenende die Hausbesetzung auf dem „Bumke“-Gelände beendet wurde.
       
   DIR Kampf gegen Obdachlosigkeit in Hannover: Heimliche Hausbesetzung
       
       In der niedersächsischen Landeshauptstadt haben Aktivist*innen gemeinsam
       mit Betroffenen leer stehenden Wohnraum besetzt. Der Ort ist geheim.