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       # taz.de -- Kurdisch verwaltete Region in Syrien: Das Experiment
       
       > Vieles läuft im kurdisch verwalteten Nordosten Syriens besser als im
       > restlichen Land. Nur: International gibt es kaum Unterstützung.
       
   IMG Bild: Straßenszene in Qamishli, der größten Stadt in Nordostsyrien
       
       Qamishli taz | Roni Khalaf hängt noch schnell die weiße Wäsche ab. „Sonst
       wird sie grau“, sagt die 29-Jährige. Vor den Lehmmauern des traditionellen
       Hofhauses wirkt die junge Frau in dem langen gemusterten Kleid im ersten
       Moment fehl am Platz – Jacke und Kopftuch sind farblich aufeinander
       abgestimmt, die eckige Metallbrille verleiht ihr etwas Intellektuelles. Sie
       deutet auf ihr Gemüsebeet, den rankenden Wein, einen Olivenbaum.
       „Eigentlich könnte es hier so schön sein“, seufzt Khalaf, wäre da nicht der
       giftige Rauch, der von den primitiven Raffinerien der Umgebung
       herüberzieht.
       
       Khalaf ist Rechtsanwältin und lebt mit ihrem Mann und ihrem zweijährigen
       Sohn in Grebre, einem Dorf im Nordosten Syriens. Unbefestigte Straßen
       führen zu ihrem flachen Lehmhaus, daneben pickende Hühner und streunende
       Katzen. Vergangenes Jahr hat sich Khalaf in der nahegelegenen Kleinstadt
       Terbespieh als Anwältin selbstständig gemacht, aber noch verdienen sie und
       ihr Mann nicht genug, um dort eine Wohnung zu mieten. So sitzt die Juristin
       in Grebre fest, einer ländlichen Idylle, in der die umliegenden
       Erdölverbrennungsöfen die Gesundheit ihrer Bewohner gefährden. Gemeinsam
       mit Aktivisten und Betroffenen kämpft Khalaf für mehr Umweltschutz – als
       Akademikerin hat ihr Wort Gewicht, erst recht auf dem Land. Jeder in Grebre
       kennt „Rechtsanwältin Roni“.
       
       35 Kilometer weiter westlich kommt Jomart gerade aus der Stadt – ein paar
       Erledigungen, nichts weiter. Trotzdem hat der Aktivist das Gefühl, kaum
       atmen zu können. In seiner Heimat Qamishli, der mit 200.000 Einwohnern
       größten kurdisch geprägten Stadt in Syrien, stehen an jeder Ecke lärmende
       und stinkende Generatoren, in den Straßen staut sich der Verkehr. Die Autos
       fahren mit schmutzigem Diesel und stoßen schwarze Abgaswolken in die Luft.
       „Der Alltag ist extrem anstrengend“, sagt Jomart, der seinen echten Namen
       nicht nennen möchte. Er ist 40 Jahre alt, hat dunkle glatte Haare, weiche
       Gesichtszüge und eine ruhige Stimme – er ist niemand, der gerne
       dramatisiert. Statt sich aufzuregen, kommentiert Jomart die Probleme der
       Region lieber ironisch. Das schont die Nerven und hilft ihm, positiv zu
       denken.
       
       Optimismus kann Jomart gut gebrauchen. Denn er hat beschlossen, in Qamishli
       zu bleiben, obwohl seine Eltern und Geschwister inzwischen alle in Europa
       leben. Als Mitarbeiter einer Nichtregierungsorganisation (NGO) will Jomart
       dazu beitragen, dass die Region sich entwickelt. Das verbindet ihn mit Roni
       Khalaf, der Anwältin in Grebre, die ebenfalls an die Zukunft Nordostsyriens
       glaubt – oder es zumindest versucht. Ihre Familie ist noch komplett in
       Syrien, als älteste von fünf Geschwistern könne sie nicht einfach flüchten,
       sagt Khalaf. „Sollen wir nur uns selbst retten?“, fragt sie ohne Vorwurf in
       der Stimme. Wenn ihre Familie hier und sie allein in Europa sei, habe sie
       nichts gewonnen, meint die Anwältin. „Denn meine Gedanken und Sorgen
       bleiben hier.“
       
       Was Roni Khalaf und Jomart eint, ist die Absicht, zu bleiben. Und das
       unterscheidet sie von den meisten Gleichaltrigen in Syrien, denn die denken
       vor allem ans Weggehen. Die Anwältin und der Aktivist fühlen sich
       verpflichtet, etwas für ihre Heimat zu tun, ohne sich mit dieser überhaupt
       identifizieren zu können. Denn sie leben in Nordostsyrien zwischen den
       Überresten eines verhassten Regimes und einem kurdischen Autonomieprojekt,
       das von der PKK inspiriert ist – in einer Region, die zwar angesichts der
       Not, Unterdrückung und Zerstörung im übrigen Syrien Hoffnung auf Stabilität
       weckt, von der aber keiner weiß, wie es mit ihr weitergehen wird.
       
       ## Die Wiege der Menschheit liegt heute zwischen allen Fronten
       
       Nach zehn Jahren Krieg ist Syrien in vier Machtbereiche zerfallen.
       [1][Präsident Baschar al-Assad] hat den größten Teil des Landes mithilfe
       Russlands und Irans zurückerobert; im Nordwesten steht die Provinz Idlib
       unter Kontrolle radikaler Islamisten. Die Türkei hat entlang der Grenze
       drei Protektorate errichtet, und im Nordosten – wo Roni Khalaf und Jomart
       leben – regiert die Autonome Verwaltung Nordostsyrien.
       
       Der sicherste Weg dorthin führt über den Tigris. Man könnte auch über den
       Euphrat kommen, aber dann müsste man an Assads Geheimdiensten vorbei.
       Zwischen Euphrat und Tigris, den Lebensadern des historischen
       Zweistromlandes, befindet sich die Wiege der Menschheit heute zwischen
       allen Fronten. In Nordostsyrien läuft ein politisches und
       gesellschaftliches Experiment, das von Gegnern umzingelt ist. Im Norden die
       Türkei, im Osten der Nordirak mit seiner Autonomen Region Kurdistan und im
       Süden und Westen Assads Regime. Alle drei wollen die Autonome Verwaltung
       Nordostsyrien zum Scheitern bringen, die das Gebiet seit Jahren nicht nur
       verwaltet, sondern faktisch regiert – inklusive seiner fünf Millionen
       Einwohner und einer Million Binnenvertriebener.
       
       Die Region ist von strategischem Interesse. Sie macht fast ein Drittel des
       syrischen Staatsgebietes aus und enthält das Erdöl, das Syrien für den
       Eigenbedarf braucht. An den fruchtbaren Ufern des Euphrat wird
       normalerweise der Weizen für die landesweite Brotversorgung angebaut. Die
       Gegend galt deshalb als „Kornkammer Syriens“, bevor jahrelange Dürren
       infolge des Klimawandels eintraten, der Krieg kam und weitere Staudämme in
       der Türkei den Euphrat zu einem schmalen Fluss machten und einen Großteil
       der Ernten vernichteten.
       
       Am Tigris, der natürlichen Grenze zwischen Nordirak und Nordostsyrien,
       sieht es nicht besser aus. Der ehemals breite Strom führt nur noch wenig
       Wasser, die Fahrt im Kleinbus über eine schwimmende Brücke ist
       ungewöhnlich, aber nicht mehr spektakulär. Auf der syrischen Seite des
       Flusses sind ausländische Besucher willkommen – die Autonome Verwaltung
       braucht dringend Aufmerksamkeit. „Assads Syrien“ scheint hier weit weg,
       statt finsterer Geheimdienstmitarbeiter kontrollieren freundliche Asayesh
       die Einreisepapiere – die Polizeikräfte der Region können allerdings auch
       unfreundlich auftreten, etwa bei der Verfolgung von Oppositionellen.
       
       ## Theoretisch hat Öcalan die Kurdenfrage längst gelöst
       
       Das Autonomieprojekt, das 2012 mit dem Rückzug des Assad-Regimes aus dem
       Nordosten begann, wird von der kurdischen Partei der Demokratischen Union
       (PYD) vorangetrieben, der syrischen Schwester der Arbeiterpartei Kurdistans
       (PKK). An Landstraßen, Kreisverkehren und auf öffentlichen Plätzen hängen
       immer wieder Plakate von [2][PKK-Gründer Abdullah Öcalan].
       
       Jomart, der Aktivist in Qamishli, hält das für unklug. Die PKK ist nicht
       nur in der Türkei, sondern auch in Europa und den USA als
       Terrororganisation gelistet. „Wer Öcalan und die PKK toll findet, kann sie
       bei sich zu Hause verehren“, meint Jomart. „Warum müssen sie Öcalan-Fotos
       in Behörden und an Ortseingängen aufhängen?“ Für viele potenzielle
       Verbündete der Kurden sei diese offen zur Schau gestellte Nähe zur PKK eine
       Provokation, sagt Jomart, und die Region brauche dringend ausländische
       Unterstützung.
       
       Im Außenamt der Autonomen Verwaltung in Qamishli hängen keine Öcalan-Fotos,
       formal obsiegt hier die Diplomatie. Hausherr Abdelkarim Omar, der
       Beauftragte für äußere Angelegenheiten, empfängt Besucher in seinem
       geräumigen Büro. Omar, ein kleiner Mann mit Grübchen am Kinn, zeigt sich
       dennoch als überzeugter Anhänger des seit 22 Jahren in der Türkei
       inhaftierten Kurdenführers. „Wir haben keine direkten organisatorischen
       Verbindungen zur PKK“, betont er, aber Öcalan sei Symbol und Vorbild für
       alle Kurden. Die Autonome Verwaltung fühle sich seinen Ideen verpflichtet,
       und wenn eines Tages die Kurdenfrage im Nahen Osten gelöst sei, werde
       Öcalan sicher im Weißen Haus empfangen wie einst Nelson Mandela. „Der wurde
       vom Westen auch erst als Terrorist bezeichnet und später als Symbol des
       Befreiungskampfes in Südafrika gefeiert“, sagt Omar.
       
       Theoretisch hat Öcalan die Kurdenfrage längst gelöst. Im Gefängnis entwarf
       er das Konzept des „demokratischen Konföderalismus“, das nicht länger einen
       eigenen kurdischen Nationalstaat anstrebt, sondern auf basisdemokratische
       Selbstverwaltung aller Bewohner einer Region setzt. Gleichberechtigte
       Mitsprache von unten statt Regieren von oben. Autonome kurdische Gebiete in
       der Türkei, in Syrien, Irak und Iran könnten sich dann zu einer
       Konföderation zusammenschließen, ohne bestehende Staatsgrenzen infrage zu
       stellen.
       
       ## Die Logik eines Einparteienregimes
       
       Die Idee passt gut zur Situation in Nordostsyrien und dient der Autonomen
       Verwaltung als Blaupause. Denn das Gebiet umfasst nicht nur die kurdischen
       Siedlungsgebiete in Afrin, Kobanê und Cizîr, die als Rojava – zu Deutsch
       Westkurdistan – bezeichnet werden, sondern auch überwiegend arabische
       Städte wie Manbidsch, Tabqa, Raqqa und Deir al-Sor. Außerdem leben hier
       noch andere ethnische und konfessionelle Gruppen – Assyrer, Chaldäer,
       Armenier, Tscherkessen, Tschetschenen und Jesiden. Sie alle sind in der
       Autonomen Verwaltung vertreten, auch in verantwortlichen Positionen. Mit
       Kurdisch, Arabisch und Syro-Aramäisch gibt es offiziell drei Amtssprachen,
       Führungsposten sind stets mit einer Frau und einem Mann besetzt.
       
       In der Praxis stößt die linke Utopie jedoch an ihre Grenzen. Der
       [3][Einfluss der PYD] lähmt den Verwaltungsapparat, weil dieser auf allen
       Ebenen mit der Logik eines Einparteienregimes kämpft. Dadurch arbeitet er
       bürokratisch und ineffektiv, handelt oft autoritär und korrupt.
       
       Das bekommen Aktivisten wie Jomart immer wieder zu spüren, auch wenn die
       Lage im Vergleich zu früher viel besser geworden sei, sagt er. Jomart
       arbeitet für die zivilgesellschaftliche Organisation PÊL – Civil Waves,
       deren Räume im Souterrain eines Wohnhauses in einer Seitenstraße von
       Qamishli liegen, das braun-grüne Schild über dem Eingang ist verblichen.
       PÊL zählt mit 40 Angestellten zu den größeren NGOs in Nordostsyrien, sie
       bekommt Entwicklungsgelder aus Europa, auch von der Bundesregierung. Neben
       humanitärer Arbeit in Krisenzeiten setzt sich PÊL für mehr politische
       Mitsprache der Jugend, eine Stärkung von Frauen und gesellschaftliche
       Aussöhnung ein. Diese Themen seien eigentlich im Sinne der Verwaltung, die
       selbst Geschlechtergerechtigkeit und den Dialog zwischen verschiedenen
       Ethnien und Konfessionen fördere, lobt Jomart. Das Problem sei jedoch das
       nach 50 Jahren Diktatur tief verwurzelte Misstrauen gegenüber nicht
       staatlichen Akteuren und mündigen Bürgern. „Auch konstruktive Kritik wird
       als Feindseligkeit oder Verrat wahrgenommen“, sagt er. Dabei gehe es nur
       darum, die Arbeit der Verwaltung zu verbessern und nicht, sie grundsätzlich
       infrage zu stellen.
       
       Für jede Aktivität braucht PÊL eine Genehmigung, erscheint ein Thema zu
       heikel, wird diese nicht erteilt. Zwar könne man mit den zuständigen
       Behördenvertretern inzwischen reden und sie auch umstimmen, erzählt der
       Aktivist, aber die Arbeit als NGO bleibt mühsam. Immerhin riskiert Jomart
       mit dem, was er tut, nicht sein Leben. In den von Damaskus beherrschten
       Gebieten ist jedes unabhängige politische Engagement bis heute tabu.
       „Sollte das Regime zurückkehren, wäre das für die zivilgesellschaftliche
       Arbeit das Ende“, warnt er. Etwa 200 registrierte NGOs gebe es im
       Nordosten, ihre Mitarbeiter könnten dann nur noch Dokumente vernichten und
       fliehen, sagt Jomart.
       
       Um die Checkpoints von Machthaber Assad macht der Aktivist einen Bogen. Das
       syrische Regime hat den Nordosten nie ganz verlassen, es kontrolliert bis
       heute einzelne Stadtviertel und Dörfer sowie den Flughafen von Qamishli.
       Davon profitiert die Autonome Verwaltung, denn sie wird von niemandem
       offiziell anerkannt und könnte folglich keinen Flughafen betreiben.
       
       Über die Jahre haben sich daraus skurrile Parallelstrukturen entwickelt.
       Die Autos fahren mit verschiedenen Nummernschildern, einzelne Krankenhäuser
       und Schulen unterstehen dem Regime, die meisten der Autonomiebehörde. Um
       seinen Ausweis zu verlängern, muss man zu Assads Passamt, einen
       Führerschein bekommt man auch bei der Selbstverwaltung. Und
       Rechtsanwältinnen wie Roni Khalaf haben zwei Zulassungen – eine für die
       Gerichte des syrischen Regimes und eine für die der Autonomen Verwaltung.
       
       Zum Glück seien die Gesetze fast identisch, sagt Khalaf in ihrem Hofhaus in
       Grebre und serviert Kaffee und Gebäck auf einem kleinen Plastiktisch. „Die
       Selbstverwaltung hat lediglich die Namen ausgetauscht.“ Wo beim Regime
       „Syrische Arabische Republik“ stehe, heiße es bei der Autonomen Verwaltung
       „Nordostsyrien“, erzählt Khalaf. Es gebe ein inoffizielles Abkommen
       zwischen den beiden, betont die Anwältin, ohne Absprachen würde das
       Nebeneinander nicht funktionieren.
       
       ## Assad hat keinen Grund, Kompromisse zu machen
       
       Die Verhandlungen zwischen dem Regime in Damaskus und der Autonomen
       Verwaltung Nordostsyrien beschränken sich allerdings seit Jahren auf
       praktische Fragen und Sicherheitsaspekte, eine grundlegende Einigung ist
       nicht in Sicht. Umso weniger, je gefestigter Assads Position erscheint. Der
       syrische Präsident hat keinen Grund, Kompromisse zu machen, da Russland und
       Iran ihn an der Macht halten und seine früheren Kritiker in der Region –
       darunter Saudi-Arabien, Katar, Irak, Ägypten und Jordanien – wieder den
       Kontakt nach Damaskus suchen.
       
       „Russland ist leider nicht bereit, Druck auf das Regime auszuüben, um es zu
       einem ernsthaften Dialog über Dezentralisierung und Autonomie zu bewegen“,
       sagt Außenamtschef Abdelkarim Omar. Für Assad sei der Nordosten deshalb
       kein politisches Thema, sondern ein Sicherheitsproblem, um das sich seine
       Geheimdienste kümmern, kritisiert der Diplomat. Ohne eine Einigung mit
       Damaskus könne die Autonome Verwaltung aber nicht nach internationalem
       Recht anerkannt werden, erklärt Omar – und ohne Anerkennung keine direkte
       Unterstützung.
       
       Die Region bräuchte dringend Investitionen in die Infrastruktur – und in
       die Erdölverarbeitung, die Haupteinnahmequelle der Verwaltung. Dann könnten
       die primitiven Verbrennungsöfen, die im Umland von Grebre die Luft
       verseuchen, durch moderne Anlagen ersetzt werden, hofft Rechtsanwältin
       Khalaf. Denn obwohl das Erdöl im Nordosten liegt, gibt es dort keine
       industriellen Raffinerien.
       
       Das syrische Regime transportierte den Rohstoff früher in Pipelines nach
       Homs und Baniyas, wo es weiterverarbeitet wurde. Jahrzehnte profitierten
       vom Erdölgeschäft Assads Günstlinge, die von der Küste in den Nordosten
       geschickt wurden. Dort bekamen sie lukrative Posten und staatliche
       Zuwendungen, während die örtliche, meist kurdische Bevölkerung, wenn
       überhaupt, als Hilfsarbeiter Anstellung fand.
       
       Ab 2011 brach dieses System schrittweise zusammen. Das Regime überließ den
       Nordosten der PYD, um den Aufstand im Rest des Landes niederzuschlagen.
       Damals habe es an allem gefehlt, erinnert sich Roni Khalaf. „Wir mussten
       mit Flüssiggas kochen wie meine Großmutter, die Leute fällten Bäume zum
       Heizen, weil es keinen Diesel gab.“ Wer Geld hatte, investierte in große
       Metallfässer, die bis heute als Verbrennungsöfen dienen – darin wird das
       Rohöl erhitzt, um Gas, Benzin und Diesel zu gewinnen. „Aber der Gestank,
       die ungefilterten Giftstoffe und die Schäden für die Menschen hier haben
       niemanden interessiert“, sagt Khalaf.
       
       ## Viele Atemwegserkrankungen
       
       Ihr Sohn leide seit seiner Geburt an einem Rasselgeräusch beim Atmen,
       erzählt die junge Mutter, sie selbst habe Allergien bekommen, seitdem sie
       vor vier Jahren zu ihrem Mann nach Grebre zog. Laut Khalaf sind vor allem
       die älteren Dorfbewohner betroffen, die zunehmend an Atemwegserkrankungen,
       Sauerstoffmangel oder Krebs sterben. „Der Oma meines Mannes haben wir noch
       ein elektrisches Inhalationsgerät besorgt, aber es hat am Ende nichts
       genützt“, berichtet Khalaf.
       
       Neben der Sorge um die Gesundheit ihrer Familie hat Roni Khalaf
       Zukunftsängste. Mit Schrecken erinnert sich die junge Frau an den Tag vor
       mehr als zwei Jahren, als gleichzeitig die Angriffe der Türkei und ihre
       Geburtswehen begannen. „Wir mussten ins Krankenhaus nach Qamishli, weil es
       hier kein Krankenhaus gibt. Aber wegen der Raketeneinschläge wurden die
       Straßen abgeriegelt und wir saßen fest“, erzählt Khalaf.
       
       Im Oktober 2019 intervenierte die türkische Regierung zum dritten Mal im
       Norden Syriens – 2016 hatte sie bereits das Gebiet nördlich von Aleppo
       erobert, 2018 folgte Afrin. Präsident Erdoğan möchte eine kurdische
       Autonomie unter Führung der PYD verhindern, denn aus Sicht Ankaras sind PYD
       und PKK dieselbe Terrororganisation und eine Bedrohung für den türkischen
       Staat. Erdoğan möchte das Grenzgebiet mithilfe islamistischer
       Söldnertruppen – der Syrischen Nationalen Armee (SNA) – unter türkische
       Kontrolle stellen, auch um syrische Geflüchtete aus der Türkei dorthin
       zurückzuführen. Ein Umsiedlungsprojekt, das den Norden Syriens schon jetzt
       demografisch verändert – Kurden werden vertrieben, Araber angesiedelt.
       
       ## Menschen verlieren ihre Existenzgrundlage
       
       Viele Leute hätten durch die türkischen Militäroffensiven Land, Besitz und
       Ersparnisse verloren, sagt Anwältin Khalaf. Sie selbst schaffte es 2019
       dank einer Waffenruhe noch rechtzeitig zur Geburt ins Krankenhaus. Aber die
       anhaltenden Drohungen der Türkei betrachtet sie als größte Gefahr für die
       Region. Dabei hätte die Kurdin genug Gründe, sich mehr vor dem IS zu
       fürchten. Ihre Familie lebte in Raqqa, als der IS die syrische
       Provinzhauptstadt 2014 zum Zentrum seines Kalifats machte. „Weil die
       Situation für junge Frauen gefährlich war, schickten mich meine Eltern zum
       Jurastudium nach Hassaka“, erzählt Khalaf. Die Eltern und ihre vier
       jüngeren Geschwister flüchteten später nach Qamishli.
       
       Seit 2019 ist der IS geografisch geschlagen, aber nicht besiegt. Im
       Untergrund und in den beiden Camps al-Hol und Roj, in denen Zehntausende
       IS-Angehörige ausharren, formiert er sich neu. Trotzdem fühlt sich auch
       Aktivist Jomart [4][von der Türkei mehr bedroht] als von den Dschihadisten.
       „Gegen den IS werden wir immer internationale Hilfe bekommen“, sagt er,
       während sich mit der Türkei niemand anlegen wolle, schon gar nicht die
       Europäer. „Sie haben Angst, dass Erdoğan ihnen dann mehr Geflüchtete
       schickt“, sagt Jomart.
       
       ## Der IS und die Türkei gefährden Nordostsyrien
       
       Beide Gefahren – der IS und die Türkei – hingen miteinander zusammen,
       betont Außenamtschef Abdelkarim Omar. Zum einen, weil Erdoğan seit Jahren
       radikale Islamisten in Nordsyrien unterstütze und viele ehemalige
       IS-Anhänger inzwischen bei der Dschihadistentruppe SNA kämpften, sagt der
       Diplomat. Zum anderen, weil die Türkei alles dafür tue, um Nordostsyrien zu
       destabilisieren und dadurch den Nährboden für weiteren Terrorismus bereite.
       
       Umso wichtiger wäre eine Entwicklung der Region, doch die scheitere an dem
       Gefühl der Ungewissheit, das die Menschen lähme, sagt Anwältin Khalaf. „Wer
       etwas Geld gespart hat, zögert, es zu investieren, aus Angst, alles zu
       verlieren“, erklärt sie. Statt sich in Nordostsyrien eine Zukunft
       aufzubauen, legten die Leute ihre Ersparnisse lieber unter die Matratze, um
       damit beim nächsten Angriff in Richtung Europa zu fliehen, sagt die
       Juristin.
       
       Nicht so Jomart. Er sucht seit Monaten eine Eigentumswohnung in Qamishli –
       zentral, aber weit genug von der Grenze zur Türkei entfernt. Immerhin haben
       die Amerikaner 170 Millionen Dollar zur Stabilisierung der Region zugesagt.
       Ein gutes Zeichen, meint der Aktivist. Auch Roni Khalaf wird bleiben. Und
       lächelt müde. Hat Deutschland jetzt nicht eine grüne Außenministerin, die
       von Menschenrechten, Klimagerechtigkeit und Umweltschutz spricht? Das
       findet die Anwältin ermutigend.
       
       23 Jan 2022
       
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       ## AUTOREN
       
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       an Nahrung und medizinischer Versorgung.
       
   DIR Anti-Terror-Einsatz in Syrien: US-Militär schaltet IS-Anführer aus
       
       Bei einem US-Spezialeinsatz in Idlib ist Abi Ibrahim al-Haschimi
       al-Kuraschi getötet worden. Nach syrischen Angaben sind auch Zivilisten
       unter den Opfern.
       
   DIR Syrien und Irak: Tote bei türkischen Luftangriffen
       
       Die Türkei hat aus der Luft Stellungen von Kurdenmilizen in Irak und Syrien
       bombardiert. Mindestens vier Menschen sollen getötet worden sein.
       
   DIR Sexuelle Gewalt: Die doppelte Flucht
       
       Die Syrerin Nimat muss eine Zwangsehe eingehen. In Deutschland wird sie
       Erfahrungen von Vergewaltigungen nicht los, setzt die Scheidung durch.
       
   DIR Netflix-Kontroverse in Ägypten: Skandal! Frau ohne Slip!
       
       Die arabische Neuverfilmung von „Perfect Strangers“ bringt Konservative in
       Ägypten auf die Palme. Eine Szene ist besonders umstritten.
       
   DIR Bundeswehreinsatz im Irak: Union spottet über Grüne
       
       Mit großer Mehrheit stimmt der Bundestag für eine Verlängerung des
       Irak-Einsatzes. Doch nun sind auch die Grünen dafür.
       
   DIR Dokufilm über kurdische Polizistinnen: Märtyrerinnen für den Feminismus
       
       Der Dokumentarfilm „The Other Side of the River“ begleitet eine kurdische
       Polizistin. Sie kämpft in der Stadt Manbidsch für ein autonomes Leben.
       
   DIR Prozess gegen deutsche IS-Rückkehrerin: Zurück aus Rakka
       
       Mit 15 Jahren zog Leonora M. von Sachsen-Anhalt zum IS nach Syrien.
       Inzwischen ist sie wieder in Deutschland – und steht nun in Halle vor
       Gericht.
       
   DIR Nach Angriff auf Haftanstalt in Syrien: Dschihadis belagern Gefängnis
       
       In Syrien hat die „IS“-Miliz ein Gefängnis angegriffen, um Mitstreiter zu
       befreien. Mehr als 150 Menschen sind getötet worden. Die Kämpfe dauern an.
       
   DIR EU und Geflüchtete: Menschen als Waffe
       
       Europa ist mitverantwortlich dafür, dass Menschen als Druckmittel
       eingesetzt werden. Es macht sich erpressbar und spielt Autokraten in die
       Karten.
       
   DIR Nach dem Urteil im Syrien-Folterprozess: Die Täter sind noch an der Macht
       
       Es war mutig, den Koblenzer Folterprozess zu führen – anderswo ist das
       keineswegs selbstverständlich. Doch wo bleiben die politischen
       Konsequenzen?
       
   DIR Entscheidung ohne UN-Sicherheitsrat: UN-Hilfen für Syrien laufen weiter
       
       Der einzige nicht vom syrischen Regime kontrollierte Grenzübergang nach
       Idlib bleibt vorerst offen. Die UNO kann weiter humanitäre Hilfe leisten.