# taz.de -- Präsidentschaftswahl in Chile: Linker Boric siegt
> Mit knapp 56 Prozent hat Gabriel Boric gegen den Rechtsextremen José
> Antonio Kast gewonnen. Er schaffte es, etliche Nichtwähler zu
> mobilisieren.
IMG Bild: Fahnenmeer für Boric: Seine Anhänger*innen feierten in vielen Städten Chiles
Santiago de Chile taz | Mit Autokorsos, Trommeln und Musik ziehen tausende
Menschen über die Alameda, die Hauptverkehrsader von Chiles Hauptstadt
Santiago. Sie feiern den Wahlsieg von Gabriel Boric. „Piñera, du bist ein
Mörder, genau wie Pinochet“, schmähen sie den bisherigen Präsidenten, als
sie am Regierungspalast La Moneda vorbeiziehen.
Von dort aus wird ab März 2022 der jüngste Präsident der Geschichte Chiles
regieren. Der 35-jährige [1][Gabriel Boric hat sich mit rund 56 Prozent der
Stimmen gegen den rechtsextremen Kandidaten José Antonio Kast]
durchgesetzt. Umfragen hatten ein knapperes Wahlergebnis vorhergesagt.
„Heute hat die Hoffnung über die Angst gesiegt“, sagt er bei seiner Rede
nach dem Wahlsieg auf einer Bühne im Zentrum Santiagos, an derselben
Straßenecke, an der auch einst der sozialistische Präsident Salvador
Allende zur Bevölkerung sprach.
Hunderttausende sind gekommen, um ihm zuzuhören: Familien, junge und alte
Menschen, Männer und Frauen. Sie schwenken bunte Flaggen mit der Aufschrift
„Boric Presidente“, Regenbogenfahnen, Flaggen der indigenen Mapuche und der
Región de Magallanes, aus der Boric stammt.
## Boric will Firmen und hohe Einkommen stärker besteuern
Eine von ihnen ist Paz Bustos. „Ich bin sehr glücklich über das Ergebnis“,
sagt die 30-jährige Fotografin. „Endlich übernimmt eine junge Person das
Präsidentenamt mit neuen Ideen. Jemand, der die Veränderungen durchführen
will, die Chile braucht.“
Boric war einst Teil der Student*innenbewegung 2011, die sich für ein
kostenfreies öffentliches Bildungssystem einsetzte. 2015 wurde er zum
Parlamentsabgeordneten für die südliche Región de Magallanes gewählt. 2019
unterschrieb er inmitten der sozialen Revolte ohne die Zustimmung seiner
Partei und ohne die Beteiligung der Protestbewegung auf der Straße mit der
Regierung den „Vertrag für den Frieden und eine neue Verfassung“, der den
verfassungsgebenden Prozess einleitete. Manche kritisieren ihn bis heute
dafür.
Als Präsident will Boric will eine Steuerreform durchführen, um Unternehmen
und hohe Einkommen stärker zu besteuern, die privaten Rentenfonds
abschaffen und eine staatliche Rentenversicherung einführen, das
öffentliche Gesundheits- und Bildungssystem stärken, mehr in Kunst und
Kultur investieren. „Was manche als Konsumgüter verstehen, wollen wir in
soziale Grundrechte verwandeln“, sagt er bei seiner Rede, während die
Menschen ihm zujubeln.
Die Wahlbeteiligung von jungen Menschen und von Frauen war entscheidend für
das Wahlergebnis. Sie stimmten verstärkt für Boric, während Männer und über
50-Jährige mehrheitlich für den rechtspopulistischen Kandidaten José
Antonio Kast stimmten.
## Stärkste Wahlbeteiligung der Geschichte
Kast erhielt ungefähr dieselbe Anzahl der Stimmen wie der aktuell
amtierende Präsident Piñera bei der Stichwahl 2017, bei der die
Wahlbeteiligung niedriger war.
Boric hat es also geschafft, viele Nichtwähler*innen dazu zu bewegen,
für ihn zu stimmen. Er ist der Präsident mit der höchsten Stimmenanzahl der
Geschichte Chiles. Mit über 55 Prozent hatte diese Stichwahl die höchste
Wahlbeteiligung der Geschichte.
In den Armen und Arbeiter*innenvierteln am Stadtrand der Hauptstadt
Santiago erhielt Boric besonders viele Stimmen – dort, wo die
Wahlbeteiligung normalerweise niedrig ist. Der Wahltag war dort geprägt von
Beschwerden der Bewohner*innen, die teilweise stundenlang an den
Bushaltestellen warten mussten, weil weniger Busse als gewöhnlich in
Betrieb waren. Schließlich organisierten sich freiwillige Helfer*innen, um
die Menschen in ihren eigenen Autos zu den Wahllokalen zu fahren.
Boric stehen große Herausforderungen bevor: Er wird den
[2][verfassungsgebenden Prozess] begleiten, der aus der sozialen Revolte
2019 entstanden ist. Soziale Bewegungen wie die feministische Bewegung und
die Umweltbewegung werden viel von ihm fordern, vielleicht mehr, als er
umsetzen kann. Seine Koalition Apruebo Dignidad hat keine Mehrheit im
Parlament und er wird mit den anderen Parteien verhandeln müssen, um sein
Regierungsprogramm umsetzen zu können.
## Die Erwartungen sind hoch
Viele Menschen wie Paz Bustos haben ihm mit ihrer Stimme ihr Vertrauen
geschenkt. „Ich weiß, dass Veränderungen Zeit brauchen, aber ich vertraue
Boric“, sagt sie. „Wir haben den Faschismus besiegt, das ist das
allerwichtigste.“
Wenige Tage vor der Wahl war die 99-jährige Witwe von Diktator Augusto
Pinochet nach langer Krankheit gestorben – für viele ein Symbol für das
Ende einer Ära. Gleichzeitig rief ihr Tod in Erinnerung, dass viele
Verantwortliche für die Menschenrechtsverletzungen während der
Pinochet-Diktatur nie bestraft wurden. „Gerechtigkeit, Wahrheit, Schluss
mit der Straffreiheit“, ruft die Menschenmenge auf den Straßen Santiagos
Boric zu. Die Erwartungen an ihn sind hoch.
20 Dec 2021
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## AUTOREN
DIR Sophia Boddenberg
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