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       # taz.de -- Sudans Weg zur Demokratie: Die Hüter der Revolution
       
       > Zwei Jahre nach dem Sturz von Diktator Bashir warten die Menschen auf
       > Fortschritt. Manche mögen nicht so schnell aufgeben – so wie Abdelmonim
       > Ali.
       
       Wohnhäuser, Geschäfte und Straßen sind mit einer dicken Schicht graubeigem
       Staub bedeckt. Die einzige helle Farbe in Abu Adam ist der Müll, der in
       großen Mengen an den Straßen liegt. Ein gewöhnliches Viertel in der
       sudanesischen Hauptstadt Khartum.
       
       In Abu Adam lebt Abdelmonim Ali. Der 30-Jährige engagiert sich in einem
       sogenannten Widerstandskomitee – bald zwei Jahre nach der Revolution, die
       doch eigentlich eine ganz neue Zeit im Sudan einläuten sollte. „Die
       Revolution ist noch nicht vorbei, bis eine vollständige Zivilregierung
       eingerichtet ist“, sagt Ali entschlossen. „Wir gehen nicht mehr massenhaft
       auf die Straße, sondern beobachten genau die politischen Entwicklungen.
       Aber wenn das Militär zu viel Macht ergreift, sind wir bereit für genauso
       große Demonstrationen wie die, die das vorige Regime gestürzt haben.“
       
       Der leise sprechende Englischlehrer gehört zu den Hunderttausenden junger
       Sudanesen, die in den ersten Monaten des Jahres 2019 mit anhaltenden und
       immer massiveren Protesten die Armee dazu brachten, [1][Diktator Omar
       al-Bashir] nach 30 Jahren an der Macht zu stürzen. Als das Militär sich
       danach weigerte, gemeinsam mit Zivilisten eine Regierung zu bilden,
       demonstrierte die Masse hartnäckig weiter, bis eine gemischte
       Übergangsverwaltung gebildet wurde.
       
       Jetzt ist die höchste Macht im Sudan ein „Souveräner Rat“, angeführt von
       zwei mächtigen Generälen. Unter dem Rat führt eine Regierung überwiegend
       aus zivilen Technokraten das Tagesgeschäft. Sudanesen sind mit beiden
       zunehmend unzufrieden. Die zivilen Bewegungen wie Gewerkschaften,
       Studentengruppen und Frauenorganisationen, die den Aufstand gegen al-Bashir
       organisiert hatten, sind hoffnungslos zerstritten, während das Militär
       versucht, immer mehr Macht an sich zu reißen.
       
       ## Ali will weiter für die Vollendung der Revolution kämpfen
       
       „Dennoch dürfen wir die Hoffnung nicht aufgeben“, sagt Ali und zeigt auf
       die Porträts an einer Wand. „Dies sind unsere Mitkämpfer, die getötet
       wurden, als das Militär versuchte, die gewaltfreien Proteste mit Kugeln
       niederzuschlagen. Sie sollen nicht umsonst gestorben sein.“
       
       Abu Adam ist nur eines von vielen Vierteln, Dörfern und Städten, in denen
       solche Widerstandskomitees existieren. Die Gruppen konzentrieren sich
       darauf, die lokale Bevölkerung über den Stand der Politik zu informieren
       und Nachbarschaftsprobleme anzugehen. In Abu Adam haben sie eine kleine
       Bibliothek eingerichtet, wo es jetzt auch Bücher gibt, die unter Diktator
       al-Bashir verboten waren. Sie organisieren Diskussionsabende und
       Musikveranstaltungen.
       
       Wie ist es dazu gekommen, dass diese [2][Protestbewegung] so hartnäckig
       geblieben ist, anders als in anderen Ländern des Arabischen Frühlings? Ein
       wichtiger Grund dafür ist, dass der Umsturz im Jahr 2019 keineswegs eine
       spontane, zufällige Aktion war. Viele Jahre lang war der Aufstand gegen
       al-Bashirs Herrschaft im Untergrund vorbereitet worden. Studenten,
       Arbeiter, Jugendliche, Frauen im Sudan wie auch sudanesische Emigranten in
       der Diaspora vernetzten sich insgeheim. Der [3][Krieg in Darfur], die
       Abspaltung [4][Südsudan]s – immer wieder schien das Regime al-Bashirs
       geschwächt, immer wieder gab es Proteste. Sudans Demokratiebewegung hat
       über viele Jahre gelernt und daraus Stärke gezogen.
       
       „Wir mussten sehr vorsichtig sein, weil das Regime überall Spione hatte“,
       erinnert sich Imaddadin Adam, der seit 2007 an der Aufklärung über
       Bürgerrechte beteiligt war, der immer wieder erklärte, was eigentlich freie
       Wahlen sind, was ein unabhängiges Parlament macht und was Demokratie
       bedeutet. „Es war wichtig, dass unsere Revolution gewaltfrei sein würde.
       Wir haben das geschafft. Die Militärs wussten nicht, wie sie reagieren
       sollten auf die Hunderttausende, die Tag für Tag friedliche Sit-ins auf dem
       Platz vor dem Militärhauptquartier machten.“
       
       Es war eine gefährliche Arbeit, die möglichst unauffällig in Form von
       sonntäglichen Mittagessen, Geburtstagsfeiern und Partys durchgeführt werden
       musste. Sudanesische Emigranten kannten die Namen ihrer Mitstreiter nicht –
       so entdeckte beispielsweise ein Mann erst nach vielen Jahren, dass er über
       die Widerstandskomitees regelmäßig anonym mit seinem Schwiegersohn
       kommuniziert hatte.
       
       Adam musste damals aus Sudan fliehen. Er lebte jahrelang in den
       Niederlanden, von wo aus er seine Arbeit fortsetzte. „Wir haben von
       früheren Aufständen gelernt, wie dem von 2013, der vom Regime blutig
       niedergeschlagen wurde. Das war schmerzhaft, aber es half der Bevölkerung
       zu erkennen, mit was für einem Regime sie es zu tun hatte. Die Menschen
       wurden dadurch nur motivierter“, sagt er in seinem Haus in der
       sudanesischen Hauptstadt Khartum, wohin er mittlerweile zurückgekehrt ist.
       
       Doch die Arbeit ist für Adam noch nicht beendet. „Eine Revolution ist keine
       Aktion, sondern ein Prozess. Der Kopf der Diktatur, al-Bashir, wurde
       entfernt, jetzt ist der Körper noch da. Die Widerstandskomitees sind
       äußerst wichtig, weil sie die Hüter der Revolution sind.“
       
       Mitglieder von Widerstandskomitees leben gefährlich. Erst Ende Dezember
       wurde Bahaa el-Din von dem Komitee in der Khartumer Vorstadt Kalakla von
       Männern in Zivil aus einem Café in Khartum gezogen und in einem Auto ohne
       Nummernschild entführt. Tage später wurde sein Körper in einer Leichenhalle
       identifiziert; nach Angaben von Familienangehörigen habe er Folterspuren
       aufgewiesen.
       
       Informationsminister Faisal Mohammed erklärte später, eine Untersuchung
       habe ergeben, dass der Mann während des Verhörs durch die Rapid Support
       Forces (RSF) gestorben sei. Dieser Zweig der Armee, unter dem Kommando des
       gefürchteten Generals Mohamed Hamdan Dagalo, besser bekannt unter seinen
       Spitznamen [5][Hametti], entstand aus einer gewalttätigen Miliz unter dem
       früheren Präsidenten Omar al-Bashir, der schwere Verbrechen vorgeworfen
       werden. Hametti aber avancierte nach der Revolution zum Vizevorsitzenden
       des Souveränen Rats.
       
       ## Mächtige Freunde der Militärs und der zögerliche Westen
       
       Sudans Militär besitzt mächtige Freunde. Länder wie Saudi-Arabien und die
       Vereinigten Arabischen Emirate leisten großzügige finanzielle
       Unterstützung, das benachbarte Ägypten führt gemeinsame Militärübungen mit
       den sudanesischen Streitkräften durch. Diese Staaten bevorzugen ein
       autokratisches System in Sudan, so wie in ihren eigenen Ländern. General
       Hametti ist ebenso wie der Vorsitzende des Souveränen Rats, General Abdel
       Fattah al-Burhan, häufig zu Besuch in diesen Ländern.
       
       Der Westen hat sich nach der Revolution vor allem auf Applaus beschränkt.
       Wohl existieren Versprechen finanzieller Unterstützung für das bankrotte
       Land. Deutschland hat 150 Millionen Euro in Aussicht gestellt und ist einer
       der wenigen Staaten, die Premierminister Abdalla Hamdok, einen Zivilisten,
       empfangen haben. Großbritannien, wo Hamdok studiert hat, hat ihn bis heute
       noch nicht eingeladen. „Eine symbolische Unterstützung für den zivilen Teil
       der Regierung wäre wichtig, um das Militär von einer schleichenden
       Regierungsübernahme abzuhalten“, meint Mohamed Abdelaziz,
       Politikwissenschaftler und Redakteur bei der Khartumer Zeitung Democrat.
       
       Im spärlich eingerichteten Redaktionssaal arbeiten überwiegend junge
       Journalisten an ihren Laptops. Das Blatt hat seinen Sitz in einem
       halbleeren Gebäude entlang einer mit Öl verschmutzten Straße, an der vor
       allem Autos repariert werden. Viele Sudanesen sind arbeitslos und ständig
       auf der Suche nach Einkommen. Das Land steckt in einer schweren
       Wirtschaftskrise, mit einer Inflation von mehr als 200 Prozent. Es mangelt
       an Benzin und Mehl, obwohl Sudan Erdöl fördert und dort Getreide wächst.
       
       „Sudanesen sind sehr enttäuscht über die aktuelle politische und
       ökonomische Situation. Es ist jedoch entscheidend, dass die Bürger Hamdok
       weiterhin unterstützen. Er ist das Aushängeschild des Übergangsprozesses“,
       analysiert Abdelaziz.
       
       ## Nicht länger warten – handeln!
       
       Manche junge Sudanesen wollen nicht nur auf die Regierung warten, sie bauen
       ihr neues Land jetzt schon auf. Ein paar haben gerade ein Start-up mit dem
       Namen 419 gegründet, das junge Unternehmen fördern will. Ihr Büro befindet
       sich in einem ruhigen Wohnviertel von Khartum. An der Decke hängen zwei
       trendige Schaukeln, die Möbel sind funktional und modern, junge Menschen
       mit Laptops bewegen sich durch den Raum. Manche sind im traditionellen
       sudanesischen Stil in weiten Kleidern unterwegs, andere haben Rasta-Haare
       und tragen eng anliegende Jeans.
       
       Audi Ahmed hat eine App zur Onlinebestellung von Mahlzeiten entwickelt.
       „Das Geschäft läuft gut, leider dank der Coronapandemie“, erklärt er.
       „Viele Benutzer meiner App arbeiten in Krankenhäusern, Apotheken oder
       Krankenwagen. Sie haben keine Zeit zum Kochen.“
       
       Sarah Abdallas App dient dazu, Medikamente nach Hause zu liefern. Das sei
       dringend notwendig, erklärt sie: „Aufgrund der Inflation ändern sich die
       Preise ständig. Ich fungiere als Brücke zwischen den Kunden von 150
       Apotheken, die große Lagerbestände zum Festpreis anbieten. So sind
       Menschen, die regelmäßig Medikamente benötigen, nicht immer mit einer
       Preiserhöhung konfrontiert.“
       
       Das scheint auf den ersten Blick nicht besonders innovativ zu sein, aber
       für ein konservatives, von Armut betroffenes Land wie Sudan sind diese
       Entwicklungen etwas Besonderes. Sechs Monate nach ihrem Start sind Abdalla
       und Ahmed mit ihren Geschäften zufrieden – aber gleichzeitig vorsichtig.
       „Obwohl ich möchte, dass mein Geschäft wächst, will ich nicht zu sehr
       auffallen. Es besteht die Möglichkeit, dass Menschen aus dem alten Regime
       meine Idee klauen, weil sie mehr Geld haben“, bemerkt Ahmed.
       
       ## Die Militärs dominieren auch die Wirtschaft
       
       Immer noch kontrollieren Gefolgsleute des gestürzten Diktators die
       Wirtschaft des Landes. Premierminister Hamdok kritisiert das Militär
       regelmäßig für seine ökonomischen Aktivitäten. Nach seinen Angaben sind
       mehr als 80 Prozent der Geschäfte in Sudan in den Händen des
       Militärpersonals. „Jede Armee der Welt investiert in
       Verteidigungsunternehmen. Es ist aber nicht hinnehmbar, dass unsere Armee
       dies in anderen produktiven Sektoren tut und mit dem Privatsektor
       konkurriert“, erklärte Hamdok erst Ende letzten Jahres. Das Militär nimmt
       seine Kritik bisher nicht sehr ernst.
       
       Auch die Gründer des Start-ups 419 haben im Jahr 2019 an den Protesten
       teilgenommen. Sie sind enttäuscht, dass seitdem nicht mehr getan wurde, um
       die Gründung kleiner Unternehmen zu vereinfachen. Auf die Bemerkung, dass
       nach so vielen Jahren Diktatur Geduld erforderlich sei, die jungen Menschen
       oft fehlen würde, reagiert 419-Mitgründerin Khansa Alhag irritiert. „Wir
       sind für politische Veränderungen auf die Barrikaden gegangen. Wir wollen
       mithelfen, aber die Regierung leitet kaum konkrete Maßnahmen ein“, sagt
       sie. Nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: „Deshalb fühlen wir uns nicht
       mit der Führung des Landes verbunden.“
       
       Nicht nur die junge Unternehmergeneration ist enttäuscht. Beim Caffè Latte
       entlang einer breiten, aber ruhigen Straße in Khartum findet Handelsexperte
       Khalid Ali wenig positive Worte für die Wirtschaftspolitik seines Landes.
       „Die politische Revolution herbeizuführen ist eine Sache, aber es fehlte
       eine gemeinsame Vision, wie man dieses Land regiert. Es gab keinen Plan “,
       sagt er.
       
       Den Grund dafür sieht er in den unterschiedlichen Interessen innerhalb des
       zivilen Teils der Regierung, während der militärische Bereich wesentlich
       homogener agiert. Die Revolution sei das Werk einer Kombination aus
       Gewerkschaften, Studentenorganisationen, politischen Parteien,
       Frauenorganisationen und Jugendgruppen gewesen. Diese Vielfalt ziehe jetzt
       nicht länger an einem Strang.
       
       Ali glaubt, dass die Regierung von Premierminister Hamdok nur deshalb noch
       auf die Unterstützung der Bevölkerung zählen kann, weil die Sudanesen nicht
       das Risiko eingehen wollen, dass das Militär wieder die volle Macht
       erlangt. „Hamdok muss den enormen Einfluss des Militärs auf die Wirtschaft
       nicht nur kritisieren, sondern auch bekämpfen. Dafür ist er jedoch ein zu
       vorsichtiger Mann. Darüber hinaus mangelt es an Kommunikation zwischen der
       Regierung und der Bevölkerung. Warum erklären die Minister nicht, warum es
       so schwierig ist? Schweigen hilft nicht.“
       
       Ali gesteht zu, dass es keine schnelle und einfache Lösung für die Probleme
       gebe. Der Handelsexperte erwartet jedoch von der Regierung, dass sie
       lokalen und internationalen Initiativen dabei hilft, die Wirtschaft wieder
       in Schwung zu bringen. Er selbst hat sich auf das Sammeln von
       Wirtschaftsdaten konzentriert, die in Sudan kaum vorhanden waren. „Wir
       brauchen dringend internationale Investoren. Die wollen Zahlen sehen. Das
       hilft bei der Entscheidung, ob es rentabel ist, Geld in unserem Land zu
       investieren.“
       
       ## Warten auf Demokratie und Volksvertretung
       
       Aber ob potenzielle Investoren Finanzmittel in ein Land stecken, in dem die
       Furcht umgeht, dass das Militär an der Macht bleibt oder gar putschen
       könnte? Erst für Ende 2022 sind demokratische Wahlen angesetzt. „Es sind
       nicht nur die Militärs, die uns Kopfschmerzen bereiten, sondern auch die
       zivilen Minister, die nicht für ihren Job geeignet sind“, meint Omer
       Eldigair, Vorsitzender der Sudan Congress Party (SCP). Die Partei entstand
       aus den Studentenbewegungen der 1980er Jahre und war bekannt für ihre
       oppositionelle Haltung zur Diktatur.
       
       In seinem Büro, in dem eine Klimaanlage die Hitze Khartums vergessen lässt,
       analysiert er die kritische Lage im Land bei mehreren Tassen starken
       Kaffees. „Eines der wichtigsten Dinge, die schnell geschehen müssten, ist
       die Gründung eines Parlaments“, meint er. Das Übergangsparlament bis zu
       freien Wahlen sollte schon längst existieren, aber bei der Sitzverteilung
       gibt es Uneinigkeit zwischen den Gruppen, die sich an der Revolution
       beteiligt haben. Das findet Eldigair schlecht. „Ein Parlament gibt der
       Bevölkerung die Chance, den Führern ihre Meinung zu sagen, in der Hoffnung,
       sie zu einem Konsens zu bringen, um dieses Land aufzubauen.“
       
       Trotz der Berge an Problemen hat die sudanesische Revolution auch gewaltige
       Fortschritte bewirkt – vor allem im gesellschaftlichen Leben. Weibliche
       Genitalverstümmelung ist inzwischen verboten. Frauen haben mehr Freiheiten
       erhalten. Andere Religionen neben dem Islam können sich entfalten.
       
       Und auch in der sudanesischen Kunstwelt wächst die Hoffnung. Filmproduzent
       Talal Afifi, der einige Zeit in Hamburg gelebt hat, ist hocherfreut, dass
       der sudanesische Film „Du wirst mit 20 sterben“ von Amjad Abu Alal für
       einen Oscar nominiert worden ist – nach Jahrzehnten des Boykotts Sudans
       seitens der USA ist es das erste Mal. Die Coronapandemie mache zwar Sudans
       Filmemachern das Leben schwer, wie überall auf der Welt. „Aber immerhin
       fühlen wir uns besser und können ohne Furcht Pläne schmieden.“
       
       14 Jan 2021
       
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