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       # taz.de -- Protestoper in Berlin-Grunewald: Das Vorurteil vom reichen Juden
       
       > Nach einer satirischen Enteignungsoper gab es Kritik und NS-Vergleiche.
       > Meron Mendel von der Bildungsstätte Anne Frank hält gerade diese für
       > antisemitisch.
       
   IMG Bild: Ein Gespenst geht um in Grunewald: Enteignungsgeister in der Protest-Oper „Grunewalddämmerung“
       
       Berlin taz | Das Quartiersmanagement Grunewald hat offenbar einen Nerv im
       konservativ-liberalen Lager getroffen. Die linke Initiative aus der
       hedonistischen Internationalen, die seit einigen Jahren vor allem am 1. Mai
       Veranstaltungen wie Techno-Demos, einen antikapitalistischen Autokorso oder
       – wie vergangenes Wochenende – eine Protest-Oper in Grunewald organisiert,
       will Aufmerksamkeit auf das Reichenviertel ziehen.
       
       Der etwas vereinfachte Tenor ihrer Aktionen: Hier hinter hohen Zäunen
       lebten die Spekulant:innen in schicken Villen, die mit unseren Mieten Geld
       machen, und vielleicht sollte man mal über die gesellschaftliche
       Umverteilung von Vermögen nachdenken. Von wegen soziale Ungleichheit und
       so. Oder, wie es auf einem Plakat am [1][Autokorso vom 1. Mai] mit Bezug
       auf eine FDP-Phrase zugespitzt hieß: „Enteignung first, Bedenken second“.
       
       Nun scheinen linke Demos im Reichenviertel einige besonders zu triggern:
       Allen voran den [2][Welt-Chef Ulf Poschardt], der vergangenes Wochenende,
       aber auch bereits am 1. Mai dieses Jahres zur harten Kritik am
       antikapitalistischen Protest ausholte. Am 1. Mai schrieb er: „Der Grunewald
       war ein sehr jüdisches Viertel, das ‚Enteignen first, Bedenken second‘ gab
       es schon mal: zwischen 1933 und 1945.“
       
       Vergangenes Wochenende hatte die Welt gar eine Reporterin zur Protestoper
       „Grunewalddämmerung“ geschickt, die heutige Enteignungsforderungen vor dem
       Hintergrund der jüdischen Geschichte der Villenkolonie Grunewald
       beleuchtete. Oder wie Poschardt auf Twitter anteasert: „Wie linke
       Aktivisten dort weitermachen, wo die Nationalsozialisten arisiert haben.“
       
       ## Schräge Argumentation
       
       [3][Meron Mendel], der seit 2010 die Bildungsstätte Anne Frank leitet und
       auch als Kolumnist in der taz schreibt, widerspricht ihm bei dieser Kritik
       deutlich. Bereits am 1. Mai hatte er sich in die Debatte eingeschaltet und
       [4][von Geschichtsrelativierung] gesprochen. Am Dienstag sagte Mendel der
       taz nun, dass die schräge Argumentationsweise von Springer leider nichts
       Neues sei.
       
       Nach der Lektüre des Artikels vom vergangenen Wochenende sei er allerdings
       kurz sprachlos gewesen, so Mendel: „Wie zynisch ist es, mit einem jüdischen
       Blickwinkel auf die aktuelle Enteignungsdiskussion zu schauen? Dass dieser
       bürgerliche und reiche Stadtteil heute zum idealtypischen jüdischen
       Stadtteil stilisiert wird, ist eine antisemitische Projektion, die weder
       für die Zeit damals noch für heute stimmt.“
       
       Natürlich könne man auch heute jüdische Bewohner in Grunewald finden. Das
       könne man aber auch in Prenzlauer Berg, Pankow oder Stuttgart – „sie aber
       als idealtypische Bewohner von Grunewald zu inszenieren, leistet
       antisemitischen Vorurteilen Vorschub und bestärkt diese“, so Mendel. Im
       Übrigen seien die Juden in Berlin damals in der Mehrheit sogenannte
       „Ost-Juden“ aus Polen und Russland gewesen, die nach heutiger Definition
       unter der Armutsgrenze leben würden.
       
       Die Berichterstattung der Welt erinnert Mendel an einen [5][Spiegel-Titel
       vom vergangenen Jahr] über jüdisches Leben in Deutschland, der mit einem
       stereotypen Bild von zwei jüdischen Männern aus dem Scheunenviertel der
       zwanziger Jahre bebildert war.
       
       Vor 85 Jahren habe es beide Stereotype über Juden gegeben, so Mendel: „Die
       reichen Juden, die aus der Villa die Welt regieren, oder die dreckigen
       Ostjuden, die fremd aussehen.“ Der Spiegel-Titel und der Welt-Bericht seien
       die modernen Entsprechungen, die anschlussfähig seien für Antisemitismus:
       „Zwischen diesen beiden stereotypen Polen liegt die Repräsentanz von
       jüdischem Leben in deutschen Medien heute“, sagt Mendel.
       
       In einem Punkt würde er dem Welt-Chef allerdings zustimmen, wie Mendel
       sagt: „Ich sehe sehr wohl eine Kontinuität von Antisemitismus: Aber nicht
       bei den Aktivisten, sondern bei Poschardt, der weiterhin auf diese
       gefährlichen Vorurteile anspielt.“ Es besorge ihn sehr, dass so
       unreflektiert damit umgegangen werde: „Selbst wenn man sich auf der Seite
       von Juden in Deutschland wähnt, erweist man ihnen damit einen Bärendienst.“
       
       Schon am 1. Mai waren Mendel Poschardts Tweets gegen dieses Protestbündnis
       aufgefallen. Damals sei bei Poschardt auch noch mitgeschwungen, dass Neid
       und Streben nach Gleichheit zum Nationalsozialismus geführt hätten: „Er hat
       behauptet, dass Enteignungen damals das Gleiche seien wie heutige
       Enteignungsforderungen. Das ist Geschichtsrevisionismus par excellence.“
       
       Die Enteignungsforderungen von heute seien zwar radikal, „aber nicht
       rassistisch oder antisemitisch“, so Mendel. Sie seien keinesfalls mit
       Naziideologie gleichzusetzen, bei denen es um die Ausgrenzung und die
       Enteignung bestimmter religiöser Gruppen gegangen sei.
       
       ## „Neoliberaler Populist mit rechter Agenda“
       
       Immerhin: Die Aktivisten vom Quartiersmanagement Grunewald freut jedenfalls
       so viel Aufmerksamkeit des Welt-Chefredakteurs. Eine Sprecherin der Ini,
       die sich als Frauke Geldher vorstellt, sagt der taz: „Die allergische
       Reaktion werten wir als Zeichen, dass wir den richtigen Nerv getroffen
       haben.“ Allerdings seien sie schockiert, wie viele das rechte Narrativ von
       Springer auf Twitter, aber auch in der Presse übernommen hätten.
       
       Sie spielt damit vor allem auf einen [6][Morgenpost-Artikel] an, der am Tag
       nach der Oper in einem Bericht bei den innenpolitischen Sprechern der
       Parteien den jeweiligen Betroffenheitsgrad nach der Satire-Aktion abfragte
       und auch auf die Enteignungsforderungen im Kontext der jüdischen Geschichte
       des Villenviertels anspielte.
       
       Die Aktivistin sagte der taz am Dienstag: „Die Debatte um Antisemitismus
       bezüglich ihrer Enteignungsforderungen ist eine Scheindebatte, die
       vorgeschoben wird.“ Wenn es wirklich fundierte Kritik aus der jüdischen
       Gemeinde oder von Betroffenen gegeben hätte, hätte man darauf Bezug
       genommen. „Aber wenn ein neoliberaler Populist uns diesen Vorwurf macht, um
       seine rechte Agenda zu pushen, ist das eine miese Instrumentalisierung“, so
       Geldher. Der eigentliche Skandal sei weiterhin, „dass 10 Prozent der
       Bevölkerung 67 Prozent des Nettovermögens besitzen und dass Gewinne
       privatisiert und Verluste vergesellschaftet werden.“
       
       9 Sep 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /1-Mai-in-Berlin/!5682639
   DIR [2] https://twitter.com/ulfposh/status/1302353914831003655
   DIR [3] https://twitter.com/MeronMendel/status/1303344034488999936
   DIR [4] https://twitter.com/dwenteignen/status/1302559897884782592
   DIR [5] https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/erneute-antisemitismus-vorwuerfe-gegen-spiegel/
   DIR [6] https://www.morgenpost.de/bezirke/steglitz-zehlendorf/article230348206/Empoerung-ueber-Initiative-zur-Enteignung-in-Grunewald.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gareth Joswig
       
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